Wir werden alt

von Nikolaus Merck

Berlin, 24. November 2010. In der vierten (von fünf) Szenen von Lutz Hübners "Blütenträume" im Berliner Renaissance Theater umklammert der pensionierte Schuldirektor Friedrich die Immobilienmaklerin Julia und reibt seinen Schoß an ihrem Hintern. Friedrichs Lust auf die 20 Jahre Jüngere lässt sich nicht beirren, weder durch die Vorwürfe der gewesenen Bibliothekarin Britta, die ihn als "sexistischen Erotomanen" apostrophiert (um im nächsten Moment in einer Ecke ihren Mund auf seinen zu pressen), noch durch Friedas Bericht von ihrem Professorengatten, der zuletzt von Alzheimer umnachtet die Wände mit Scheiße beschmierte. Darüber lacht Friedrich nur meckernd, grausam.

Aber weil wir uns im Renaissance Theater zu Berlin befinden, in dem das deutsche Fernsehen seinen Berliner Showroom aufgeschlagen hat

- mit reichlich TV-Prominenz auf und vor der Bühne,

- mit einem Publikum, dessen Altersdurchschnitt der Geschichte von den Sixty-somethings entspricht, die sich bei einem Volkshochschul-Flirtkurs treffen, um ihrer Einsamkeit zu entrinnen

- und vor allem mit einer ästhetischen Ausrichtung, die regielichen Deutlichkeiten abhold ist ...,

weil also hier der mutlose Theater-Fernsehspiel-Konservativismus zu Hause ist, begründet der frühere Kölner Schauspiel-Vorsteher Torsten Fischer diesen einzigen unwattierten Moment seiner Inszenierung mit Schwoof und Suff. Besoffen kann schließlich jeder aus der Rolle fallen. Das Publikum erkennt's wieder und lacht sich eins.

Kieksen, blubbern

Überhaupt gibt die im Parkett und auf der Bühne platzierte Zuschauerschaft den kongenialen neunten Schauspieler, der die flotten Sprüche der acht Leutchen wie Du und Ich auf der schmucklos weißen Vorbühnen-Arena mit heftigen Lachsalven und grenzenloser Identifikationslust anmalt. Das Licht im Saal bleibt eingeschaltet, Adressen ins Publikum gibt es reichlich.

Und die mal kieksenden, mal blubbernden Reaktionen im Parkett zeigen: Wir haben verstanden, dass wir gemeint sind mit diesem Methusalem-Komplott, bei dem die "55plus"-Flirt-Lehrlinge ihren Lehrer, einen abgebrochenen Schauspieler, alsbald wegen Inkompetenz zum Teufel jagen und eine Szene lang mit dem Gedanken spielen, eine Alters-Wohngemeinschaft zu gründen.

Aber weil der Dramatiker Lutz Hübner zwar einer der meistgespielten Stückeschmiede deutscher Sprache ist, im Grunde aber ein Essentialist, der seiner Durchmusterung deutscher Zustände die Botschaft unterlegt, dass alles so ist wie es eben ist, werden sämtliche Fenster, die sich in "Blütenträume" verbal in einen Möglichkeitsraum öffnen, auch verlässlich utopiedicht wieder geschlossen.

Im letzten Bild bleibt von der schönen Fantasei des Ruhestands in der "Kommune" nur die Asche von niedrig schwelligen Paarbeziehungen: "Friedrich, nimm bitte meine Tasche", kommandiert Britta, und die gerade noch wagemutige Gila führt den todkranken Heinz mit "jetzt müssen wir aber, du bist schon ganz blass" in eine ganz gewöhnliche Zweisamkeit ab.

Knarzen, strahlen

Dabei ... – was wäre mit einem solchen Ensemble möglich gewesen! Zwar verbleiben die Damen und Herren alle in ihren, im Fernsehen zur Reife entwickelten, knarzigen Rollentypen. Allesamt jedoch erbringen den Beweis, wie irre geleitet das deutsche Theaterwesen ist, im Jugendlichkeitswahn auf solche Kräfte zu verzichten.

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© Iko Freese

Imogen Kogge spielt ihre Britta als Verlängerung der Polizeiruf-Kommissarin Johanna Herz in der nämlichen Hose-Bluse-Strickjacken-Kluft und derselben erbarmungslosen Nüchternheit. Ihre ehemalige Schaubühnen-Kollegin Tina Engel gibt Frieda die unerschütterlich frauliche Vitalität einer Bach-Altistin. In der Gila der Renate Krößner, vor 30 Jahren Solo Sunny in Konrad Wolfs Defa-Film, blitzt jugendliches Strahlen wie goldenes Abendrot auf, und Anika Mauer, ehemals eine erste Dame am Deutschen Theater, birst förmlich vor neurotisch gefährdeter Liebessehnsucht.

Stärker ans Klischee gefesselt die Herren: Michael Hanemann als lüsterner Friedrich und der ehemalige Luk Perceval-Akteur Michael Rastl als Ulf, der endlich als Lebemann mit Hut und Frauenversteher erwachsen werden möchte. Bernd Stegemann, gerade noch als Zuhälter in Dominik Grafs Krimiserie Im Angesicht des Verbrechens aktiv, setzt sich zu sehr auf die kindliche Liebesängstlichkeit seines Lackierers Heinz, was aber nichts macht, und Guntbert Warns, vom Katharina Thalbach-Protagonisten in die ewiggleichen Krimiserien abgerutscht, betont die Rücksichtslosigkeit seines Flirt-Kommandeurs Jan, der sich endlich für seine Leidenszeit als Müllgeist und Wolkenschaf im Eisenacher Weihnachtsmärchen rächen will.

Sie alle spielen den Hübner mit viel Lust und Laune. Aber wie gerne hätten wir sie in einer großen Shakespeare-Aufführung gesehen.

Blütenträume
von Lutz Hübner, Mitarbeit: Sarah Nemitz
Regie und Kostüme: Torsten Fischer, Bühne: Vasilis Triantafillopoulos.

Mit: Tina Engel, Michael Rastl, Bernd Stegemann, Renate Krößner, Anika Mauer, Michael Hanemann, Imogen Kogge, Guntbert Warns.



www.renaissance-theater.de


Mehr zu Lutz Hübner: Mit seinem Stück Geisterfahrer war Lutz Hübner zu den 34. Mülheimer Theatertagen eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Einen "ausgereiftem, quietschvergnügt gelungenem Theater" lobt Irene Bazinger in der Berliner Zeitung (26.11.2010). In der "witzig pointierten Regie von Torsten Fischer" überzeuge diese bestens harmonierende Schauspielermannschaft als turbulent komödiantisches Kraftpaket. Im Renaissance-Theater, wo normalerweise wohldosiert gediegene Unterhaltung geboten werde, sei schon lange nicht so viel und so offen gelacht worden. "Das liegt neben dem gekonnt gebauten und dialogsicheren Stück an den zehn famosen Darstellern, die alle wirken, als hätten sie größten Spaß an dem, was sie da treiben. Diese Lust überträgt sich aufs Publikum und man kommt eigentlich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Hübner als toller dramatischer Scherzkeks! Zehn hinreißende Schauspieler auf einem Fleck in Charlottenburg!"

Durchweg tolle Schauspieler, und einen zügig inszenierten, hoch unterhaltsamen und schnörkellosen Abend beschreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (26.11.2010). Autor Lutz Hübner komme zwar nicht ohne Holzschnitt aus. "Aber berührende Momente haben die Figuren doch alle."

 

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