Prototypen machen Politik

von Steffen Becker

München, 25. November 2010. "Was ist Demokratie?", will das Münchner Volkstheater von Henrik Ibsen sowie von Damen beim Enten füttern, unbedarften Jugendlichen und schimpfenden Männern im youtube-Trailer zur Premiere von "Ein Volksfeind" wissen. Die Antworten reichen von "wenn das Volk mitbestimmen darf" (Jugendliche), "das Gegenteil von dem, was gerade abläuft" (wütender Mann) bis "wenn jeder sagen kann, was er will" (alte Dame).

Die Figuren in Ibsens "Volksfeind" haben pragmatischere Ansätze. "Ein wenig demonstrieren, vielleicht ein Grillfest im Anschluss", sagt Frau Aslaksen (Xenia Tiling), Vertreterin der gewerbetreibenden Mittelschicht und meint damit eine Aktion, um die Interessen ihres Klientels zu schützen. "Transparenz", ruft der Journalist Hovstadt (Jean Luc Bubert) und meint damit, dass er mitmischen will bei den Entscheidern. "Harmonie", predigt der Bürgermeister Peter Stockmann (Robin Sundermann) und meint Ruhe vor Kritik.

Honoratioren am Zimmerspringbrunnen

Regisseurin Bettina Bruinier versammelt mit ihnen die Prototypen von Lobby, willfährigen Medien und bürgerferner Politik im Volkstheater. Die blütenweiße, nur von tragbaren Wänden bebaute Bühne von Markus Karner verstärkt noch den Eindruck des Exemplarischen. Die Repräsentanten des Systems gruppieren sich um einen Punsch-Behälter, im Publikum plätschert ein Zimmerbrunnen. Eine wohlige Versammlung der guten Absichten und Werte.

Ein forscher Kurarzt, der beim Wasser des Heilbades (und städtischen Goldgrube) zu genau hinschaut, stört da nur. Tatsächlich lässt Bruinier Friedrich Mücke als Dr. Tomas Stockmann zu Beginn betont unsympathisch erscheinen. Der Gestus, der Tonfall ist selbstherrlich, die Motivation egoistisch – der Streiter wider den Umweltskandal geriert sich als Held des Bürgertums, der Mehrheit, die Frau Aslaksen als Pappfiguren heranschafft. Er ist wie alle anderen und so abfällig dieser Satz klingt, so wenig mag man den Doktor der ersten beiden Akte.

Je stärker die Akteure jedoch erkennen, dass die Unruhe ihren Interessen schadet und ihren Stifter stoppen möchten, umso stärker reift die Figur zum Menschen, mit dem man mitleidet. Auf der Bürgerversammlung, die ihn zum Volksfeind erklärt, hat Mücke seinen stärksten Auftritt. Fassungslos, hoffend, tanzend, danieder liegend, idealistisch und desillusioniert und in allem sehr überzeugend fleht er um die Vernunft des Publikums und erkennt, dass niemand mehr Steuern zahlen will, um die Welt zu verbessern. Nur ein Drittel des Premierenpublikums spricht ihm per Spontanakklamation das Vertrauen aus.

Aus der Zeit gefallen

Die anderen Rollen bleiben stärker den Typen verhaftet, die sie repräsentieren. Xenia Tiling ist eine business-graue Persiflage auf profifreundliche Interessensvertretung, Jean-Luc Bubert darf mit stilloser Krawatte und ungepflegtem Bart das Schmierfink-Klischee des Oberflächen-Journalismus zelebrieren. Sein Praktikant Billing (Stefan Ruppe) recherchiert nebenher live in Wikipedia. Die Figuren der Ehefrau und Tochter Stockmanns bleiben in Bruiniers Inszenierung eher im Hintergrund.

Das hat alles trotzdem oft Witz und Charme. Auch die Media Art von Kerstin Polte hat gute Einfälle. Videos mit den Schauspielern spiegeln die Stimmung auf der Bühne. In der Sturm und Drang-Phase des Bürgerprotests schwebt der Journalist selig grinsend unter Wasser, bevor die Umstände ihn wieder auf den Boden der gesellschaftlichen Schwerkraft zurückholen.

Trotzdem wird man während der Inszenierung das Gefühl nicht los, dass dieser "Volksfeind" aus der Zeit gefallen ist. Man nimmt die aktuellen Bezüge des Stoffes deutlich wahr, aber sie passen nicht richtig. Die jetzigen Protestbewegungen, ihre Resonanz und Aktivitäten gehen nicht so recht zusammen mit Ibsens Schema vom Einzelkämpfer, der von der Mehrheit zerrieben wird. Nur dass das mit der real existierenden Demokratie nicht so das Gelbe vom Ei ist, da sind sich Stockmann und die Menschen aus dem Trailer einig. Im Gegensatz zu ihnen setzt er im Kampf dagegen seine Existenz aufs Spiel. Wenn er nachgäbe, könnte er sich ja gleich erschießen. Das übernimmt am Schluss dann seine Frau.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Regie: Bettina Bruinier, Bühne: Markus Karner, Kostüme: Justina Klimczyk.
Mit: Friedrich Mücke, Mareile Blendl, Kristina Pauls, Robin Sondermann, Wolfram Kunkel, Xenia Tiling, Jean-Luc Bubert, Stefan Ruppe, Pascal Fligg.

www.muenchner-volkstheater.de

 

Mehr zu Regisseurin Bettina Bruinier? Die Spezialistin für Stücke von Juli Zeh gewann 2008 den Publikumspreis beim Festival radikal jung mit Juli Zehs "Schilf", führte wiederum am Münchner Volkstheater Der Kaktus von Juli Zeh auf und in diesem Jahr das neueste Stück der Autorin Good Morning Boys and Girls in Düsseldorf.

 

Kritikenrundschau

Bettina Bruiniers Inszenierung bleibe oft zu oberflächlich, um als Versuchsanordnung eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses durchzugehen, schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur-Online (27.11. 2010). Für ihre gut 100 Minuten lange Fassung habe sie den Text beinahe bis zur Magersucht verschlankt. Das findet der Kritiker nicht grundsätzlich schlecht, gelte das Interesse der Regie doch dem Grundkonflikt des mit Sachzwängen argumentierenden handlungsunfähigen Politikers, dessen exemplarische Bedeutung sie auf der Bühne herausarbeite. Doch im Zuge dessen hätten die Regisseurin und ihre Schauspieler Ibsens Typen meist zu Karikaturen verzerrt. "Richtig ärgerlich ist Bruiniers Ansatz beim Spiel mit Computer und Internet auf der Bühne. Kerstin Polte hat diesen Medieneinsatz konzipiert, bei dem von Schauspielern erstellte Textdokumente oder aufgerufene Homepages unmittelbar auf die Wände projiziert werden." Das habw seinen Reiz, wenn es dem Gesagten eine Ebene hinzufüge. "Zum Quatsch verkommt das Multimedia-Geplänkel jedoch, wenn die Schauspieler Begriffe im Internet suchen, die Stück und Inszenierung nicht weiterbringen: 'Schamhaarentfernung' etwa."

"Dauerte dieser 'Volksfeind' drei Stunden, er könnte auch emotional verstanden werden. So konstatiert man viel Klugheit, bleibt aber wenig berührt", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (29.11.2010). Denn viel, letztlich zu viel, soll in den eineinhalb Stunden dieser Aufführung bewältigt werden: Das "wohl erste Öko-Drama der Weltliteratur", Baudrillard-Texte, der Klassiker Ibsen samt einem "zynischen, aktuellen Umgang mit dessen Themen und eine politische Debatte". Bettina Bruinier schaffe so "wunderbare Abläufe, die sie mit szenischen und inhaltlichen Ideen anreichert", ohne dass die "überrollten Zuschauer zu einer Reaktion fähig" wären.

 

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