Mit Charme und Charge durch's Dixieländl

von Wolfgang Behrens

Berlin, 28. November 2010. Als man hörte, dass der Operndekonstruktionsmeister Sebastian Baumgarten an der Komischen Oper Ralph Benatzkys Wohlfühl-Operette "Im Weißen Rößl" inszenieren würde, da sah man im Geiste bereits die Fassade des so überaus fidelen Hotels am Wolfgangsee bröckeln. Diskursbomben würden einschlagen und tiefe Krater im schönen Rößl-Putz hinterlassen, und der Kaiser mit seiner restaurativen Weisheit "Schweige und begnüge dich, lächle und füge dich!" würde nackt stehen.

Um dreieinhalb Stunden Baumgarten-"Rößl"-Erfahrung reicher, könnte man noch immer sagen, der Regisseur habe sich am kritischen Potential dieses so sehr auf Erfolg kalkulierten Kunstgewerbeprodukts aus dem Jahr 1930 abgearbeitet. Denn, ja, da sind diese tollen Videoprojektionen von Stefan Bischoff seitlich der Bühne, in denen ein wundersam animiertes Postkartenalbum aufgeblättert wird: In ihm ist nicht zuletzt die Brüchigkeit der nostalgischen Idylle eingefangen. Und, ja, da sind diese Szenen, in denen den Darstellern plötzlich der Hitlergruß in den Armen zuckt, in denen unheilvoll dräuend die Leni-Riefenstahl-Ästhetik im Gewand der rhythmischen Sportgymnastik um die Ecke lugt oder in denen sich der freudlose Zwang und der selbstzerstörerische Alptraum des touristischen Amüsierbetriebs offenbaren.

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Zum Schreien komisch: Max Hopp und Kathrin Angerer im Weißen Rößl © Marcus Lieberenz

"Operette, bis es kracht"

Auf das alles könnte man verweisen, und es wäre doch an der Sache vorbei. Denn was in Baumgartens "Rößl"-Aufführung an kritischem Impetus steckt, das läuft nur so nebenher mit. Was man aber vor allem zu sehen bekommt, ist das, was der Regisseur in einem Interview vorher angekündigt hatte und was man ihm nicht zu glauben geneigt war: "Operette, bis es kracht." Und es kracht ordentlich.

Das fängt bei der Musik an. Das Team der Komischen Oper hat sich dafür entschieden, der Berliner Uraufführungsfassung des "Weißen Rößls" mit ihrem überraschend gewaltigen Apparat so nahe wie möglich zu kommen. Was keine Selbstverständlichkeit ist, da süßliche Bearbeitungen des ohnehin süßlichen Stücks Legion sind. Nun aber tönt es ungewohnt farbig (und manchmal vielleicht auch etwas pastos-schwerfällig) aus dem als Swimmingpool gestalteten Orchestergraben und aus einigen eigens für die Sonderensembles freigeräumten Logen. Dixieland-Klänge mischen sich mit Schrammelmusik, Blaskapellen marschieren vorüber, und man begreift, dass das "Rößl" der Großen Berliner Revue der 1920er Jahre viel näher steht als jeder Lehár-Operette.

Süffigstes Volkstheater

Auf der Bühne spuckt dazu ein Multifunktions-Chalet mit ausklappbaren Zimmern und Toilettenhäuschen-Herz im Giebel eine Revue-Truppe nach der nächsten aus: Feudelschwingende, als antike Liebesgöttinnen kostümierte Stubenmädchen verbinden sich zur Chorus Line, amüsierwütige Badegäste formieren sich zu ein paar neckischen Choreographien. Der Friedrichstadtpalast lässt grüßen, und wenn es trotzdem etwas ganz Anderes ist, dann liegt das an der exzessiven Lust, mit der Sebastian Baumgarten jedes Bild zuspitzt.

Es ist im Grunde prallstes, süffigstes Volkstheater, was Baumgarten hier veranstaltet; vor dem Absturz in die Trivialität wird es nur von einer wilden, parodistischen Energie bewahrt – die aber hat sich gewaschen! Was Baumgartens (überwiegend aus dem Sprechtheater mitgebrachten) Darsteller an anarchischem Chargentum auf die Bretter knallen, das kann einen auch dreineinhalb Stunden lang im Sitz aufrecht halten. Dieter Montag knattert sich herrlich durch seine Rolle des dauermeckrigen Berliner Trikotagefabrikanten Giesecke. Kathrin Angerer als seine verzogene Tochter Ottilie gibt einige Kostproben ihres oft bewährten Eskalationstalents: keine nölt schöner. Dagmar Manzel kann dafür schöner singen, erstaunlich schön sogar, ansonsten spielt sie die Rößlwirtin als eine wie aufgezogen durch ihren Betrieb irrlichternde Oberzicke. Und auch die Sänger aus dem Ensemble der Komischen Oper – Christoph Späth als Rechtsanwalt Siedler und Peter Renz als Sigismund, um nur zwei zu nennen – lassen sich von der karikierenden Spielwut ihrer Schauspielerkollegen nur zu gerne anstecken.

Max Hopp im Slapstikfuror - furios!

Zuallererst aber ist es der Abend des Max Hopp. Sein Zahlkellner Leopold ist eine eigentlich ganz und gar unmögliche, völlig verrückte Konstruktion: Die Figur scheint aus unzähligen Brüchen zusammengesetzt, alte Rollenvorbilder scheinen durch – Hopp gelingt zwischendurch etwa eine unglaublich präzise, hochkomische Peter-Alexander-Imitation –, dann plötzlich wird sie vom Slapstickfuror ergriffen, verwandelt sich in einen schmachtenden Operettentenor oder steigert sich in eine Hitler-Parodie hinein. Aus alledem entsteht eine virtuose Studie der Getriebenheit, in der Hopp dann auch noch Raum für melancholische, ja existentielle Abgründe lässt. Es ist das wohl eine der tollsten schauspielerischen Leistungen, die man derzeit in Berlin besichtigen kann.

Die Diskursbomben also sind ausgeblieben. Aber – Max Hopp und dem großartigen Ensemble sei Dank! – gekracht hat's trotzdem. Und am Ende hat die Komische Oper gebebt.

P.S. Natürlich hat die parodistische "Rößl"-Lesart in Berlin Tradition, seit 1994 eine schlagkräftige Truppe um die Geschwister Pfister herum das "Rößl" in der "Bar jeder Vernunft" witzig und grenzkitschig auf die Bühne brachte. Es war eine schöne Reverenz, dass die Recken von damals nun fast vollzählig im Publikum saßen. Gesichtet wurden: Ursli und Toni Pfister, Fräulein Schneider, Otto Sander, Gerd Wameling und der damalige musikalische Leiter Johannes Roloff.


Im Weißen Rößl
Singspiel von Ralph Benatzky
Libretto von Hans Müller und Erik Charell
Gesangstexte von Robert Gilbert
Regie: Sebastian Baumgarten, Musikalische Leitung: Koen Schoots, Bühnenbild: Janina Audick, Kostüme: Nina Kroschinske, Choreographie: Brigitte Cuvelier, Dramaturgie: Ingo Gerlach, Chöre: André Kellinghaus, Licht: Franck Evin, Video: Stefan Bischoff, Jana Findeklee.
Mit: Dagmar Manzel, Max Hopp, Dieter Montag, Kathrin Angerer, Christoph Späth, Peter Renz, Thorsten Merten, Julia Giebel, Miguel Abrantes Ostrowski, Irm Hermann, Mirka Wagner, Hannah Elisabeth Sußmann, Matthias Spenke, Frank Baer, Eberhard Krispin, Julia Bossen, Hans-Jörg Bertram, Daniel Regenberg (Klavier), BVG-Orchester e.V., Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin.

www.komische-oper-berlin.de

 

Mehr zu Theatermachern auf Opernbühnen? Im Juni 2010 inszenierte Nicolas Stemann an der Komischen Oper Berlin La Périchole. Von Christoph Schlingensiefs Musiktheatervisionen künden die Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna, 2008 in Abwesenheit des Künstlers an der Deutschen Oper Berlin aufgeführt, und sein Regienachlasswerk Metanoia, das nach Schlingensiefs Tod im Oktober 2010 an der Staatsoper Berlin herauskam. Und mehr zu Sebastian Baumgarten gibt es im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Die vier Stunden seien "deutlich zu lang", befindet Uwe Friedrich im Deutschlandradio Kultur (Fazit, 28.11.2010). Der Regisseur verweigere sich mit diesem "dramaturgisch überfrachteten Abend" dem Genre und wende "die allzu gut bekannten Volksbühnenversatzstücke auch auf die Operette an. Überdehnte Slapsticknummern, immer gleich erzählte Witze und pseudospontane Texthänger der Darsteller sowie von einem nervtötenden Pianisten verklimperte Dialoge", was vor allem den zweiten Teil "zur Publikumsfolter" mache. Nur Renz und Späth behaupteten "das Recht des gut platzierten Witzes gegen diese bleierne Schwere". Der "hochvirtuose" Hopp gebe einen Zahlkellner, "dem jede Melancholie fremd ist", die "grandiose" Manzel eine Rößlwirtin von "preußischer Resolutheit". So fehle dem Abend gen Schluss "jene leicht süßliche Melancholie, durch die eine Operette erst genießbar wird, und die allen Volksbühnen-Adepten wie auch Sebastian Baumgarten zutiefst suspekt ist". Zudem müsse der Zuschauer bei Angerer "regelrecht Angst vor der nächsten Gesangsnummer" haben.

Baumgarten habe sich nicht so sehr für den Paarungstrieb, als z.B. für das "Rößl"-Verbot der Nazis interessiert, meint Jan Brachmann von der Frankfurter Allgemeinen (30.11.2010). Die Kapelle der Komischen Oper verteidige "mit rauhbeiniger Kraft ihren Ruf als Berlins vielseitigstes Opernorchester". In der hier gespielten Uraufführungsfassung dränge sich klangbildlich "das Industriell-Luxuriöse, Aggressiv-Metropolitane" in den Vordergrund und lasse sich die Musik "als Kritik am Antiurbanismus der Urlaubsindustrie hören". "Von den harten Schnitten und den rüden Texten, die beschreiben, wie alle Beziehungen und Bedürfnisse des Menschen der Ökonomie unterworfen werden", sei der Regisseur allerdings so fasziniert gewesen, "dass ihm zum Stück kaum noch mehr einfiel. Text und Musik sprechen für sich, die Darsteller hatten scheinbar freie Hand und - retteten die Produktion." Gelobt werden Hopp, Renz, Späth, Wagner und Montag, Angerer und Manzel müssen sich auch Kritik gefallen lassen. Durch Baumgartens Regie erweise sich das "Rößl" als "schlaues Stück, das die Verhältnisse genau kennt, mit denen es sich arrangiert. In diesem Zynismus, den Preis aller Dinge zu wissen und ihren Wert zu leugnen, macht es sich die Inszenierung aber auch bequem."

Jürgen Otten
von der Frankfurter Rundschau (30.11.2010) hat einen "merkwürdig quälenden Abend" erlebt, der viele (Bedeutungs-)Fragen offen lase. Im "Rößl" gehe es um Liebe und um Geld, "die beiden wichtigsten Triebkräfte eines kapitalistisch geformten menschlichen Denkens und Daseins", und eben das habe Baumgarten am Stoff vermutlich interessiert. Allerdings trage sich die Geschichte kaum über dreieinhalb Stunden von selbst. "Allzu identisch und monochrom sind schon die Linien, die zur Liebe hinführen." Zwar gäben Hopp und Manzel "darstellerisch ein phantastisches Gespann" ab. Das "zentrale Problem der Inszenierung und, damit einhergehend, der musikalischen Seite" sei allerdings, dass Baumgarten und Schoots so viel mehr wollten, als die flotte Komödie: Sie stopften den Narren-Käfig "voll mit Ideen und Klängen und Menschenmassen, bis die Stäbe bersten. Jede Minute drei Gags, vier Wortwitzeleien, fünf outrierte Gesten und sechs scheppernde Akzente, das kann nicht gut gehen und geht auch nicht gut". Da verkomme das Singspiel "zum Polterabend", bei dem der Chor "die bemitleidenswerte Rolle dessen spielt, der dem Haudraufklamauk im Orchestergraben (...) die choreografische Entsprechung zu bieten hat". Alles geschehe hier "so offenkundig und so laut, dass darüber die ganze Finesse des Stücks zerstört ist. Am Ende nurmehr Scherben. Und kein Vergnügen, nirgends."

Der "nicht eben für Leichtigkeit und Frohsinn bekannte Dekonstruktivist" Baumgarten sei in diesem Swimmingpool-Wolfgangsee prompt baden gegangen, meint Manuel Brug von der Welt (30.11.2010). Hier werde "gewollt ärmlich und in pseudodilettantischer Nichtchoreografie mit dünner Lippe kritische Unterhaltungstheaterexegese betrieben". Die begehe leider "schnell die schlimmste aller Theatertodsünde: sie langweilt." Manzel nerve diesmal als "grässlich überdrehter, noch dazu sächselnder Bauerntrampel". Verschenkt seien "der bloß routinierte Trikotagenfabrikant Giesecke" von Montag und Renz' "blässlich schöner Sigismund". Angerer "kiekst einmal mehr penetrant eines ihrer ewigen Girlies vom Rosa-Luxemburg-Platz". Baumgarten konzentriere sich "auf den proletarischen Arbeitskampf des verliebten, ausgebeuteten Zahlkellners Leopold mit seiner kratzbürstigen Chefin". Der "furios schnaubende" Hopp liefere "als einziger eine glaubwürdige Figur ab und hat neben der allerliebst jodelnden Brief-Kathi (...) auch einsam sängerisch passgenaues Format". Im Orchestergraben könne man "die zackigen Märsche besser als die Walzer", weshalb es "trotz opulenter Originalfassung mit Banjo, Zither und Kuhglockenstep breit und vornehmlich knallig" klinge.

Das Spektakel verbleibt für Ann-Christine Mecke von der Berliner Zeitung (30.11.2010) "in erstaunlicher Harmlosigkeit und zieht sich trotz des hohen Tempos gewaltig in die Länge". Der Orchesterklang verliere "im Laufe des Abends an dynamischer Differenzierung", werde "zunehmend zur ziemlich lauten, aber schlichten Begleitung". "Die musikalische Hyperaktivität spiegelt Baumgarten durch szenische: Die Figuren leben einen schier unerschöpflichen Bewegungsdrang aus, sie tanzen und turnen, zucken und stürzen." Die "aufwändige und gelungene Videoprojektion" gerate "neben all dem Rummel zur Randerscheinung". Die Sprechszenen rückten in den Fokus - "virtuos", wie Manzel, Hopp und Angerer "sich hastig verhaspeln, Streits eskalieren oder von Selbstgesprächen geschüttelt werden". "Wirklich schönen Gesang" bekomme man allerdings "wenig zu hören", Angerers Singstimme sei gar "ein dringender Fall für den Theaterarzt", während Manzel und Hopp auch sängerisch beeindruckten. Letzterer interpretiere den Zahlkellner "mit gewaltigem Einsatz und bis zur Verausgabung" als einen, "der weniger von Liebe und Leidenschaft, als von den äußeren Zwängen dieses Stücks getrieben scheint". Dabei ergreife "eine Art Meta-Rührung" den Zuschauer: "Man hat Mitleid mit dem, was das Stück mit dieser Figur macht." "Die Besetzung des Kaisers mit der fremdelnden Irm Hermann bleibt ein Rätsel der Regiekonzeption". Baumgarten ersetze die "kitschige Romantik, die man gemeinhin mit diesem Stück verbindet, durch ironische Albernheit". Die diese "spöttische Distanz" werde das "Gelächter über Kalauer und Slapstick zum Gelächter über die 'Absurdität des Genres'" geadelt. "Aber was ist damit gewonnen?"

Baumgarten, "der Essayist unter den Musiktheaterregisseuren", habe "den Kitsch ein bisschen vergrößert und verzerrt", schreibt Volker Hagedorn im Berliner Tagesspiegel (30.11.2010). Die Penetranz der "Rößl"-Ohrwürmer erweise sich "als hartnäckig frohsinnig, obwohl es nicht an Versuchen fehlt, Unbehagen zu verbreiten". "Die Kalauer, Intrigen und Amouren frieren alle ein bisschen" - aber sie finden immerhin statt, "und die meisten Protagonisten werfen sich mit Wucht hinein", allen voran Hopp, "der seinen Leopold bis an die Wahnsinnsgrenze treibt". Angerer nutze ihre "Unfähigkeit, singen und tanzen zu können, so virtuos wie noch nie". Ausgerechnet Montags Urberliner Giesecke wirke hingegen "etwas angestrengt", die "Unentschlossenheit" der Regie treffe ihn am härtesten. Der Abend bleibe "eine Versuchsanordnung, die immer wieder und wie unfreiwillig auf die Ohrwurmlieder zuläuft". "Die 'Rößl'- Welt wird durchscheinend zwischen Kitsch, Kritik und Karikatur, zwischen Überzeichnung und Unterkühlung, ohne dass etwas anderes aufschiene." Nichts könne "wettmachen, dass der Abend im dritten Akt nicht nur durchscheint, sondern auch durchhängt."

Baumgarten hat laut Niklaus Hablützel von der taz (Berlin-Kultur, 30.11.2010) "nichts verändert, sucht keine versteckte Botschaft, nimmt alles hin, wie es gemeint ist, und übersetzt es in die begrenzten Möglichkeiten der Komischen Oper" - eine "extreme Sparversion also der Supershow von 1930, die aber alles, was ihr an Breite fehlt, durch Zuspitzung ins Extreme ausgleicht". Unter Koen Schoots und nach Originalnoten klinge "die Musik besser als nach dem Krieg", "krachend, schmissig, flott und nur ganz selten so zuckersüß, wie man es so gern aus den Ohren verdrängt hätte. Aber es bleibt auch so beim Alten, korrigiert wird nur die Vorstellung, diese Art der Musik habe sich überlebt. Im Gegenteil, sie ist die Blaupause für fast jeden deutschen Schlager bis heute, keine der Fernsehsendungen mit sogenannter Volksmusik ist denkbar ohne dieses Vorbild."

"Ausgerechnet die leichte Muse soll uns im Krisenjahr zu Klarsicht verhelfen?, fragt Christine Lemke-Matwey in der ZEIT (2.12.2010). Und ist vom Abend begeistert, vor allem von seinen Hauptdarstellern: "Wie Dagmar Manzel das macht, halb Knusperhexe, halb alterndes Blitzmädel, wie sie ständig in der Hocke über die Szene wieselt oder x-beinig mit Schweinsköpfen und Lebkuchenherzen jongliert, das ist eine Wucht. Und, bei aller schwindelerregenden Überdrehtheit: ein Wunder an Virtuosität, Energie und Präzision, an Haltung und Ausdruck." Manzel zeige eine Frau im systematischen Ausnahmezustand: "unverheiratet, saisonal verliebt (und prompt in den Falschen), beruflich überfordert. Im Leben der Josepha Gabriela Maria Vogelhuber stimmt nichts, nicht die Sprache, nicht die Emanzipation, nicht das mit Pfirsichen ausgestopfte Dekolleté. Wie kaum eine andere Figur der Berliner Revue-Operette verkörpert sie deren Prinzip, dient als touristische, erotische und ökonomische Projektionsfläche, solange die Nummern-Dramaturgie dieses Movens eben braucht, und verschwindet am Ende recht sang- und klanglos doch noch unter der Haube ihres 'Ehekellners' Leopold." Ein Kapitalismus, der so treuherzig die Hosen herunterlässt, brauche keine Kapitalismuskritik mehr, weder 1930 noch 2010: "Wer es unbedingt deutlicher haben will, dem hilft Max Hopps hinreißender Leopold: Allein wie seine Toni-Sailer-Tolle an Halt verliert und er mit ihr und wie dabei der innere Adolf in ihm wächst und gedeiht, das hat chaplineske Qualitäten. Der Kerl ist irre, auch ohne Oberlippenbärtchen, ein Emporkömmling, der von seinem psychotischen Machtinstinkt gern übermannt wird. Dann entpuppt sich die ganze Rössl-Architektur mit ihren Heuböden und Herzerln als flackerndes Gruselkabinett, dann zeigt die Gemütlichkeit Fratze. Und der Piccolo kriegt Dresche." Was bleibe, sei die Überzeugung, dass Schauspieler tatsächlich die besseren, wahrhaftigeren Operettensänger sind.

 

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