Großer Titel, kleiner Ertrag

von Esther Boldt

Frankfurt, 2. Oktober 2007. "Europäische Dramaturgien des 21. Jahrhunderts", lautete der furchterregende, fast monströse Titel einer Tagung, die am Sonntag zu Ende ging. Veranstaltet wurde sie vom Master-Studiengang Dramaturgie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, gemeinsam mit der Hessischen Theaterakademie (HTA) – einem Zusammenschluss von Hessischen Theaterinstituten und -häusern, der seit 2002 besteht.

Die Kernstücke des Kongresses bildeten zehn Workshops, von jeweils zwei bis drei Personen geleitet, gedacht als nicht-hierarchische, offene Form allseitigen Austauschs. In ihnen sollten sich Theatermacher und -theoretiker über Probleme eines gegenwärtigen und kommenden Theaters auseinandersetzen: der ebenso umfassende wie vage Begriff "Dramaturgie" wurde dabei bis an seine Grenzen strapaziert. So thematisierten die Workshops unter anderem die Felder Produktion und Management, Festival und Event, Intermedialität, Publikum und Zukunft des Textes. Der Gedanke war gut, die Praxis allerdings problematisch: Bis die Gruppen aus jeweils 20 bis 40 Workshop-Teilnehmern sich vorgestellt und auf einige Grundbegriffe geeinigt hatten, war es schon fast wieder vorbei. Eine genauere inhaltliche Zielsetzung und Eingrenzung der allzu breit gewählten Themen hätte geholfen.

Zurück zu alten Hierarchien?

Dass die 200 Teilnehmer fast ausschließlich geladene Gäste waren, leistete der während der Tagung beklagten Selbstbezüglichkeit der Theaterszene bloß weiteren Vorschub. Nur auf Bewerbung waren einige wenige Interessierte zugelassen worden. Wäre die Idee eines generationenübergreifenden Diskurses ernst gemeint gewesen, hätten Studierende und Doktoranden wohl aus der zweiten Reihe herausgeholt werden müssen, in der sie nicht nur symbolisch, sondern auch räumlich Platz zu nehmen hatten. Auch wenn sich diese an Universität und Theater gleichermaßen übliche, spätfeudale Hierarchie nach dem ersten Kongresstag etwas auflöste, für die Hinter-dem-Mond-Haftigkeit der Szene setzte sie ein starkes Signal.

Dafür hatten die Veranstalter, als wollten sie die versammelte Kompetenz maximal ausnutzen, das Programm der Konferenztage bis zur letzten Minute gefüllt. Ganz nach der Parole "Mehr ist mehr!"  lösten sich Workshops, Podien, abendliche Vorstellungen, Lectures und Late-Night-Talks übergangslos ab, an Gespräche außerhalb des gesetzten Rahmens war nicht zu denken.

Wir sind müde vom Wandern ...

"Produziert weniger, zahlt mehr!" – was für den Theater- und Kunstbetrieb in fast allen Diskussionen angemahnt wurde, hätte auch der Tagung gut angestanden. Denn die anwesenden Künstler gerade der freien Szene wiesen massiv auf Probleme hin, die allseits bekannt sind, aber offenbar noch häufig ausgesprochen werden müssen, bis sich daran etwas ändert: Die Theatermacher sind des Reisens müde. Anstelle alle ein, zwei Monate "Artist in Residence" in einem anderen freien Theater in Essen, Frankfurt oder Berlin zu sein, bräuchten sie dauerhafte Arbeitsmöglichkeiten in einer Stadt ihrer Wahl – etwa nach dem Vorbild des Ateliers. Solange sich die Verhältnisse nicht ändern, bildet eine kleine Zahl etablierter, viel beschäftigter Künstler eine Art reisenden Kanon, der von Theater zu Theater, von Festival zu Festival zieht, bis alle Orte, alle Veranstaltungen ästhetisch angeglichen sein werden. Das ist nicht neu, aber Abhilfe war auch auf dem Dramaturgie-Kongress keine in Sicht. Der Theaterbetrieb fürchtet sich vor Bedeutungsverlust, leidet unter finanzieller Beschneidung und reagiert mit einer hektischen Produktivität, die offensichtlich nicht zur Besserung der Misere beiträgt. Und wie sehr es sich beim Theaterschaffenden derzeit um eine bedrohte Spezies handelt, verdeutlichte der Appell an die Wissenschaft, die Kunst nicht für ihre Zwecke in Dienst zu nehmen.

Der Zuschauer das unbekannte Wesen

Neben dem Künstler trat der Zuschauer als unbekanntes Wesen ins Zentrum des Interesses. Wie, lautete eine der Hauptfragen der Konferenz, können die Zuschauer zurückerobert, wie der Weg ins Theater für viele wieder selbstverständlich werden? Braucht es erzieherische Maßnahmen oder muss das Programm einfach so gut sein, dass es für sich selbst wirbt? Jenseits jeglicher Romantisierung könnte ein wachsendes öffentliches Interesse am Theater auch die lästige Relevanz-Frage klären, würde die Selbstbezüglichkeit der Szene aufgebrochen. Aber auch eine zu starke Durchmischung des Theaters und seiner Umwelt erregte Unbehagen, denn zu sehr dürfe sich die Kunst nicht beispielsweise von der Politik vereinnahmen und instrumentalisieren lassen. Auch hier gibt es, wenig überraschend, keine Antwort.

Produktives Scheitern?

So stehen am Ende dieser großformatigen Unternehmung keine Resultate, keine Visionen für ein Theater der Zukunft. Im Grunde scheiterte die Konferenz schon an der Analyse der Gegenwart. Es blieben eine Reihe von Fragen und Appellen, und die recht ernüchternde Eigendiagnose eines Betriebes, der unter zunehmender Beschleunigung und Erschöpfung, Selbstüberforderung und Homogenisierung leidet. Und der im Alltagsstrudel und Kürzungszwang offensichtlich seine Inhalte aus dem Auge verloren hat, die Sorge um den Künstler und um die Kunst selbst. Bleibt zu hoffen, dass der Kongress eine produktive Zäsur darstellt, aufkeimende Diskurse fortgesetzt werden und Impulse nicht wieder im Räderwerk des Alltags verpuffen.

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Kommentare  
zum Kongress Europäische Dramaturgien
Liebe Esther,
danke dir für diese ehrlichen Worte. Du sprichst mir aus der Seele.
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