Im Winterwonderland

von Simone Kaempf

Berlin, 15. Dezember 2010. Die Spielfläche ist warmweiß beleuchtet und leer wie ein unbeschriebenes Blatt, auf das zu Beginn vorne an den Rand jene peinigende Gleichung gemalt wird: 2+2=4. Die Spielfläche also hell, die Schrift schwarz, als sei das hier ein Diapositiv einer flach liegenden Schultafel, auf der wir den ehemaligen Kanzleibeamten und verkrachten Literaten aus Fjodor Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" erleben, und erstmal denkt man, dass das ein ganz passendes Bühnenbild ist für einen Text, der sich in den Laufe der Dinge einmischen will, genüsslich alte Gewissheiten zerlegt und mit der Lüge ein doppelbödiges Spiel betreibt.

Bald schon leuchtet Schauspieler Thomas Bading mit einer nackten Glühbirne von der Seite auf das Bühnengeschehen und beobachtet retrospektiv Teile seiner Vergangenheit. Grob erzählt wird die Chronik einer Reihe von Geschehnissen: ein Essen mit Bekannten, das Aufwachen an der Seite der jungen Lisa, sein zwanghafter Drang zu Boshaftigkeiten. Bading ist im Hemd und Pullunder ein stilisisierter Angestellten-Typus und das Herz der Inszenierung. Man kann sich einen mental gefährdeteren Kellerlochmenschen vorstellen. Dieser ist sich seines Verstandes sicher, ein Intellektueller, der in klarer Rhetorik Ordnungen aufheben könnte. Wenn man ihn ließe.

Misstrauen gegen Glücksversprechen

Das Monologische wird ihm nämlich schon bald gestrichen, und das nicht zum Vorteil. Egill Heiðar Anton Pálsson, Jahrgang 1974, der bisher vor allem in Skandinavien inszeniert, in Dänemark in einer Professur auch Regie unterrichtet, macht, was man mit mäandernden Vorlagen zur Zeit oft erlebt: der Text teilt sich auf, mehrere Sprecher übernehmen eine Rolle. Das geht hier sehr fließend. Nicht nur Ulrich Hoppe, Urs Jucker oder Thomas Wodianka, auch Lea Draeger ist mal Kellerlochmensch, und wenn sie sich unter erniedrigenden Fußtritten windet, deutet sich an, dass sich Misstrauen gegen Glücksversprechen wohl vor allem aus der Position des Opfer der Verhältnisse entwickelt. Die Atmosphäre bleibt auch in dieser gewaltsamen Szene gedämmt wie in einer Winterlandschaft. Künstliche Schneeflocken tanzen immer wieder vom Bühnenhimmel. Leises Windheulen wird realistisch eingespielt, als wären das echte sibirische Eiswinde, die draußen ja tatsächlich gerade den Schnee verwehen.

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"Aufzeichnungen aus dem Kellerloch"
© Heiko Schäfer

Nicht nur diese schneeflockige Ruhe dämmt die Not, mit der hier ein Mensch auf seinen freien Willen pocht. Im Aufteilen der Rolle gleitet das Spiel zwar elegant entlang der Handlung, gibt sich damit auch zufrieden, statt offensiv übers Kommentieren, Anzweifeln oder Fürsprechen ein Verhältnis aufzubauen. So dringt man allzu brav und vorhersehbar ins elastische Reich des Bewusstseins vor. In aller Wendigkeit wirbt Bading um Lea Draegers Lisa, gleichsam verführend und verletzend, eine Wahrheit predigend, die er für ekelhaft hält und sich doch ausdrücklich an ihr erfreut. Doch seine Selbstisolierung und die, mit Akkordeonmusik sentimental umhauchte, Vergeblichheit all seines Tuns stehen schon früh am Abend fest.

Ein schönes Sächelchen

Vor Jahren spielte und inszenierte Martin Wuttke auf dem ehemaligen NVA-Flugplatz in Neuhardenberg Dostojewskis Roman in großer theatraler Ausplünderung mit Autokinofeeling und grausamer Komik gegenüber dem unglücklichen Leben, und weit draußen auf dem Rollfeld wurde mit großen Zahlentafeln die Gewissheit von 2+2=4 zerlegt. Eine wahrhaftige Eroberung des Texts, an die man sich auch deshalb erinnern muss, weil der Raum hier jetzt so hermetisch abgeriegelt wirkt. Anfangs hat die frei-weiße Spielfläche durchaus etwas von Laborcharakter; auf ihr aber geht Pálsson kein Risiko ein mit seinem gut fließenden Multispielgemisch aus naturalistischen Einsprengseln und epischer Erzählweise, durch die den Figuren die Gewissheiten allerdings mehr beiläufig abhanden kommen als dass sie genüsslich zerlegt würden.

2+2 ergibt am Ende 5. Diese Pointe lässt sich Pálsson dann aber doch nicht entgehen. Auf der Bühne wird die 4 durchgestrichen und eine 5 gepinselt. Eine Übermalung, keine fiebrige Beweisführung. "Ein schönes Sächelchen" heißt es, aber was es nun bedeutet, der 4 oder der 5 nachzujagen, der Ordnung der Dinge zu folgen oder sie aufzuheben, das bleibt unentschieden im schnee-gedämpften Ungefähren dieses Abends.

 

 

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
von Fjodor Dostojewskij
in einer Fassung von Egill Heiðar Anton Pálsson und Friederike Heller
Regie: Egill Heiðar Anton Pálsson, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Dramaturgie: Maja Zade, Musik: Kristin Björk Kristjansdottir.
Mit: Thomas Bading, Lea Draeger, Ulrich Hoppe, Urs Jucker, Thomas Wodianka.

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Egill Heiðar Anton Pálsson? 2008 inszenierte er in Mannheim Invasion! von Jonas Hassen Khemiri, daselbst im Oktober 2010 Verwanzt von Tracy Letts.

 

Kritikenrundschau

"Obwohl die minimalistische Bühne für fein säuberliche Denkarbeit wie gemacht scheint, wird ausgerechnet ein Großteil der monologischen Gedankenschlacht weggeschnitten", so Anne Peter in der Berliner Morgenpost (17.12.2010). Flöten gehe dabei aber gerade der exzessive Zug dieses Denkens, das sich der reinen Vernunft verweigert und auf der Irrationalität des menschlichen Willens beharre. Die Spielfassung von Pálsson und Friederike Heller versuche, aus dem Kopfdrama die Handlung zu destillieren. "Doch in der abgespeckten Theaterversion begreift man kaum, aus welchen Gedankentiefen seine exzentrischen Aktionen aufsteigen. Auch das verspielte Regie-Setting, in dem die Anzughosen-Normalos bisweilen den Pelz überwerfen, mit Schnee rieseln oder auf Akkordeons dudeln, ist kaum dazu angetan, irgendetwas von der Ungeheuerlichkeit der Erzähler-Figur durchzulassen."

"Um zu zeigen, was für eine grandiose und nebenbei auch lebenswichtige Erfindung das Theater ist, braucht der isländische Regisseur und Schaubühnendebütant Egill Heidar Anton Pálsson nicht viel", schreibt dagegen Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (17.12.2010). Das Reflexionsvermögen, oder besser: der Reflexionszwang, unter dem Dostojewskis Figuren leiden, "mag sie in tragische Abgründe führen und seelisch zerrütten - die Funktionsweise des Theaters aber besteht in eben dieser Reflexion." Der Roman "Das Kellerloch", den Pálsson zusammen mit Friederike Heller für die Bühne adaptierte, sei dafür ein Musterbeispiel. "Hier verkriecht sich der Held, ein ehemaliger kleiner Beamter, vor dem Leben, wühlt sich in den Dreck, hält innere philosophische Monologe und wird von Erinnerungen heimgesucht." In Pálssons Inszenierung nehmen die Erinnerungen nicht nur Gestalt an, "sondern sie führen auch ein Eigenleben und werden zu selbstständigen Ableitungen oder Abspaltungen des Sich-Erinnernden. Sie können in einen echten Dialog mit ihm treten." Was die Figur erlebt, liege mindestens zwanzig Jahre zurück, doch sei "kein bisschen vergangen. Sie quälen das garstige, kalt gestellte Menschlein, aber sie leisten ihm immerhin auch Gesellschaft".

"Klar, es habe eine gewisse Logik, der Zerrissenheit der Figur durch ihre Vervielfältigung zu begegnen, "statt einer Hauptfigur bewegen sich nun vier weitere Abspaltungen, Leib gewordene kommentierende Stimmen oder was auch immer über die aseptisch weiße Spielfläche", so Andreas Schäfer im Tagesspiegel (17.12.2010). Doch statt Sprünge im Text nachvollziehbar zu machen,  entstehe ein konturloser Klangteppich, ein steriles Pingpong, dessen einschläfernde Belanglosigkeit von dem Schnee, der aus dem Schnürboden rieselt, unfreiwillig verstärkt wird. "Von Fieber, Rausch und existenziellem Ringen (oder dem ironischen Spiel mit dem Pathos)" könne keine Rede sein, und Thomas Bading absolviere die Höhen und Tiefen der labilen Psyche eher wie ein rechtschaffener Bergsteiger, der nicht aus der Ruhe zu bringen sei.

 

Kommentare  
Dostojewski, Schaubühne Berlin: poetischer Erzählfluß
40 Jahre um und bei - dies: Jedermann ? Kellerlochmensch !!

Jetzt versucht dieser Mensch, dieser Mann, sich an einer möglichst schonungslosen Lebensbilanz (mit allen Problemen der Selbstbiographie: die Skepsis an einer solchen wird gleich zu Beginn in ein Heine-Zitat gegossen, das die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit vor sich selbst beinhaltet), er ringt mit sich, ringt sich einen Text ab: work in progress.

Genau dieses Ringen mit sich vermißte ich allerdings ganz ähnlich wie es hier in der Nachtkritik nachzulesen ist: Thomas Bading spielt zwischen verrücktem Professor, betulich-geltungssüchtigem Problembär, masochistischem Buchhalter, sympathischem Nachbarn - Dostojewskijs Text ist aber im Grunde die "Apokalypse einer Person" und das gesamte Spiel müßte meineserachtens so von Furcht und Zittern durchwaltet sein, daß wir bei den Lisa-Szenen nicht unfreiwillig an "Hündchen, ich streichel Dich, Hündchen, ich schlage Dich" denken müssen, wie es mir annährend passierte.

"Könnte ein Fehler sein, daß ich das überhaupt hier erzählt habe !":
So ähnlich buchhalterisch dann auch gegen Ende die Bilanz zum Stück zur Lebensbilanz. Dieser (mögliche) "Fehler" müßte auf Schritt und Tritt die Spannung auf der Bühne ausmachen, doch: hier herrscht ein (poetischer) Erzählfluß, gibt es schöne kleine Szenen, welche bei mir eine echte Sympathie für die Darstellenden "erzeugte", aber das Quälende, das Unablässige, die Leidenschaft
und Rückhaltlosigkeit der Vorlage ?: es werden Spiellösungen gefunden, Dostojewskij findet keine Lösungen, er sucht sie nach dem 2 plus 2-Muster, aber das wird ihm nach 40 Jahren in diesem Muster fraglich: wenn der "Kellerlochmensch" tragisch ist, dann gerade dadurch, daß er keinen Mutwillen des Regelbruches treibt, sondern er an der von ihm strik befolgten Lebensmathematik zu kränkeln beginnt und dann am Kränkeln Verzweiflung findet, in der Verzweiflung einen geheimen Genuß, aber auch "Abwege" im eigenen Handeln, die zum Selbstvorwurf werden einerseits, andererseits zu einer Art Forschungsgegenstand dahingehend, wie verbindlich miteinander gelebt werden könnte.

2 plus 2 gleich 4 - nun, das könnte sich natürlich auf die in 4 Darsteller aufgespaltete Person beziehen: die 5 wäre insofern schlichtweg das Symbol der "biographisch-moralischen Einheit der
Person" gegen eine Vierteilung, weniger ein Plädoyer des Irrationalismus (später bei Berdjajew wird zu Dostojewskij der Begriff "Pneumatologie" geprägt worden sein - diese Richtung nimmt hier der angebliche Irrationalismus schon im Kellerlochmensch, ja ungefähr von ihm her hebt das an und findet in den "Brüdern Karamasow" bzw. im "Tagebuch eines Schriftstellers" seine Blüte im
Werk Dostojewskijs - will sagen, daß mit dem Kellerlochmenschen im Falle des Dichters die Fünf sich offenbar ähnlich bewahrheitet hat, nimmt man zu den Aufzeichnungen jetzt noch "Die Dämonen", "Schuld und Sühne", "Der Jüngling" und "Die Brüder Karamasow" - gut, ich weiß, es gab da zB. noch "Der ewige Gatte"-: Dostojewskij hatte sich mit diesem Werk gewissermaßen "freigeschrieben".

Ich könnte mir durchaus auf der Grundlage des weißen Bühnenquadrates die vier "Abspaltungen" als "apokalyptische Reiter"
vorstellen, die zB. mit Lassos oder Ketten etc. immer wieder auf das "weiße Quadrat" einzuwirken suchen, manchmal den Kellerlochmenschen aus dem Quadrat ziehen wollend, manchmal ihn in dieses zurückstoßend etcpp., und möglicherweise könnten diese Reiter immer wieder so ein (Handke schreibt dergleichen) Teil sein, der für das Ganze der Person stehen will, ja, möglicherweise bietet sich sogar wirklich eine beinahe esoterische Aufspaltung in Spielkartenfarben (4 Evangelisten) an : aber, ich schweife schon wieder ab.

Ich bereue den Besuch des Abends keineswegs - er konfrontierte mich jetzt im Berlinurlaub mit Lebensbilanzen von Männern um die
40, die sich Sätze abringen. Besser, wenn mich das an irgendetwas erinnert, als daß mir die Handlung vom "Mann ohne Vergangenheit"
zu sehr in den Weg tritt. Was wäre wohl, wenn der "Mann ohne Vergangenheit" kein Schweißer gewesen wäre, sondern, sagen wir, Theaterkritiker: der Schweißer greift zum Schweißgerät, quasi sein Körper(schema) erinnert sich für ihn - aber der Kritiker: würde er jetzt im Bus sitzen, all die Helden des Alltag: kritisieren, er würde wohl irgendwann das über haben, "2 plus 2 gleich 5" sagen und manche Vorstellung sausen lassen (geht mir ähnlich: spielte mit der Kant-Vorstellung im BE, aber Cottbus steht im Viertelfinale gegen Hoffenheim ...).
Aufzeichnung aus dem Kellerloch, Berlin: einige Parallelen
Lieber Arkadij, Sie legen ja zur Zeit geradezu einen Spielzeitcrashkurs durch die Berliner Theater hin, dass einem der Atem stockt. Es fällt ja sogar mir schwer, da noch nachzukommen, obwohl ich meist schon da war. Hoffentlich hat es was gebracht, man kann ja in kurzer Zeit ganz gut einige Parallelen oder eben auch Kontroverses zwischen den Häusern ausmachen. Den Dostojewski sah ich Mitte Dezember, allerdings als eine der Rollen eingesprochen wurde, da Urs Jucker wohl im Schnee stecken blieb, was irgendwie wie eine Ironie des Schicksals fürs Kellerloch schien. Das wirkte alles in allem sehr statisch und auch wieder so kunstbemüht. Thomas Bading an sich ist große Klasse, so als einfacher Soloabend, als reine Lebensbeichte, wie im Heiler mit Jörg Gudzuhn, stelle ich mir das auch sehr gut vor. Ich habe mir gleich die Swetlana-Geier-Übersetzung noch mal hergenommen, bin aber noch nicht sehr weit gekommen, vielleicht sehe ich mir das auch noch mal an, wenn ich fertig bin.
Was machen Sie eigentlich den Rest des Jahres? Ich hoffe Sie langweilen sich nicht all zu sehr, wenn Sie wieder in Kiel sind. Vom Kellerloch ins Kulturloch sozusagen, aber Sie sind ja auch im hohen Norden ganz aktiv unterwegs. Ach und übrigens, zieren Sie sich nicht so, Arkadij, legen Sie endlich los, ich bin mal gespannt, was Sie aus der ausgepressten Lulu-Lösch-Zitrone noch so alles rausholen können.
Aufzeichnung aus dem Kellerloch, Berlin: das Streben nach unbedingter Einzigartigkeit
Was hier gut zum Tragen kommt, ist der Verstandesmensch mit übergroßem Bewusstsein, welcher sich am Liebsten selbst anstelle von Gott setzen und die Menschen um ihn herum wie Figuren eines literarischen bzw. dramatischen Textes oder einer Inszenierung herumschieben würde. Nietzsches Übermensch lässt grüßen. Oder: Alles gehorche dem Willen des Autors. Doch das funktioniert natürlich nicht. Das Schreiben kann nicht vollends kontrolliert werden. Es verselbständigt sich und lässt so das Unbewusste des Schreibers durch die Lücken und Bruchstellen des Textes hervorbrechen. Das heisst, die Figuren machen sich buchstäblich selbständig und entziehen sich der rationalen Kontrolle des Autors. Zugleich ist der Autor alle diese Figuren, inklusive einer weiblichen, auch und besonders in Verkörperung einer jungen Prostituierten, welche er als Stellvertreterin seiner selbst demütigen muss.

Die Manipulationssucht bzw. der Kontrollwahn dieses Mannes ist nicht zu übersehen. In ihm steckt eine gehörige Portion Selbsthass, garniert mit einer hohen Sensibilität und unzähligen (Selbst-)Widersprüchen. Der Kellerlochmensch strebt nach unbedingter Einzigartigkeit. Doch der Wunsch, andere über die eigene Ratio beherrschen zu wollen, führt in der Konsequenz dazu, dass jede gefühlsmäßige Bindung, welche immer auch eine Form von wechselseitiger Abhängigkeit bedeuten würde, gekappt werden muss. Das wird über ein schlüssiges Bild demonstriert: Thomas Bading hängt im Seil und neigt sich nach vorn. Er kann sich dabei nur aufgrund der Hilfe von Thomas Wodianka und Urs Jucker, welche das Seil halten, gegen die Schwerkraft behaupten. Doch einen Moment später befreit er sich bereits wieder aus dieser Situation des aufeinander Angewiesenseins.

Ich empfinde es als gelungen, dass Thomas Bading hier keine Karikatur des "abgründigen Irren" liefert, sondern einen Menschen darstellt, in welchem sich jeder Zuschauer in gewissem Maße (noch) selbst wiederfinden kann. In diesem Sinne eröffnet das Ende auch eher eine Frage: Vor den Augen von Thomas Bading korrigiert Lea Draeger die Gleichung 2 + 2 = 4, indem sie ganz lapidar die 4 durchstreicht und eine 5 auf die Bühnenfläche pinselt. Bading lächelt dazu und spricht vom "Sächelchen". Heisst das, dass der Kellerlochmensch in gewisser Weise zu der Erkenntnis gelangt ist, dass Menschen und Welt - im Unterschied zur abstrakten Mathematik - nicht komplett berechenbar sind? Dass es das Unberechenbare sogar geben muss? Pure Vernunft darf niemals siegen. Oder?
Aufzeichnung aus dem Kellerloch, Berlin: eine einsame Lederjacke
@ Stefan

Stimmt schon, was Sie schreiben: ich bin ja nicht das erste Mal in Berlin; insofern habe ich schon Vergleichswerte: die Struktur der Tage meines Berlinaufenthaltes hat sich durch die gelegentlichen "Hausaufgaben" in den Threads bzw. abendlichen Stückbesuche spürbar verändert, und dennoch bleibt mir genug Zeit fürs Wuhletal oder den Grunewald oder den Pankewanderweg: sprich zB. für die Seidenschwänze gestern. Durch die Tatsache, sich dem eigenen Empfinden nach so durch Berlin zu bewegen, daß man nichts mehr notwendig sehen muß, es kann solch einen Berlinstreß durchaus geben, wird der "Crashkurs" aber auf angenehme Art und Weise
(in seinem Wortsinne) vermeidbar: dann fahre ich halt zwischendrin mal an die Britzer Brücke und wandere nach Adlershof und schnaufe tief durch, doch: das ist Urlaub, und ich habe das Gefühl, schon viel länger weg zu sein von Kiel als 1,5 Wochen !

Dieser Urlaub ist am Sonntag vorbei - in Kiel warten dann schon zwei weitere Stücke auf mich, in Lübeck der verschobene "Dr. Faustus" und ein neues Einpersonenstück mit einer meiner persönlichen Lieblingsschauspielerinnen: Rebecca Indermaur, im Februar dann noch weitere Stücke zum Wagner-trifft-Mann-Zyklus.
Ich weiß nicht, ob dieses Jahr wieder Lidl-Tickets im Februar herauskommen: ansonsten würde ich gerne wieder das "Jedermann" in München besuchen gen März.
Im April vermutlich eine Woche Hamburg, und im Mai habe ich erneut Urlaub: vermutlich werde ich Berlin dann wiedersehen.
Soweit grob die nächsten Ziele.

"Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" und "Mann ohne Vergangenheit",
soetwas klingt bei einem solchen Crashkurs ja durchaus ne Weile zusammen, zumal im Programmheft zu Kaurismäki steht, wie er gerade kein Dostojewskij, nicht einmal ein Camus, als Schriftsteller zu werden versprach und zu filmen begann (zum Glück). Und ich hatte mir den Film extra vor Berlin noch einmal auf Deutsch, einmal -spleenig- auf Finnisch reingetan, um für Berlin gerüstet zu sein,
und dann wurde das kaum diskutiert. Mir geht die Lederjacke einfach nicht aus dem Kopf, die, wenn Irma ihre karge Wohnung betritt, dort im Eingangsbereich einsam und verlassen am Garderobenhaken hängt , hm !
Ich bin wohl reif für das "Festival des nacherzählten Films", das Freitag und Samstag im HAU 1 läuft: mal sehen, ob es was wird- jedenfalls mag ich es, wenn sich da so ein Kreis zur Filmadaption schließen ließe.

Zur "Lulu" ziere ich mich ja garnicht; ich hatte die "Regie" gefragt, ob der Thread wieder moderat anlaufen soll: ich beziehe mich bei dem "Nichtausdikutiert" allerdings auch nicht ausschließlich auf das Wenige, was ich jetzt noch dazu schreiben könnte, es gab durchaus Rede und Widerrede unter Beteiligung von
Chorfrauen und bekannten Escortdamen bzw. die Ausführungen jener "anonymen" Aussteigerin - das brach ja auch einfach so ab seinerzeit.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Vorläufer Raskolnikow
@ Blanche

Hat etwas für sich, was Sie schreiben, Blanche, tatsächlich ist der
Kellerlochmensch auch bei Dostojewskij eine Art von "rohem Vorläufer"
des Rodion Raskolnikow aus "Schuld und Sühne", und noch mehr: dieser Vorläufer wird in "Schuld und Sühne" quasi durch Dostojewskij selbst in mehrere Charaktere aufgesplittet, gevierteilt, wenn man so will: in Raskolnikow, Swidrigailow, Rasumichin und Lushin (was die Inszenierungsweise, die hier vorliegt, sogar nahelegt).

Allerdings kommt der "Übermenschendiskurs" keineswegs aus dem luftleeren Raum, sondern hat einen mindestens 40-jährigen Vorlauf:
gerade dieser Vorlauf kommt meineserachtens viel zu kurz.
Ein Kritiker schrieb, die Bühnensituation befreie qua Bühne vom quälenden Schreibprozeß, Umwege können hier minimiert und das Schreibunternehmen von dieser Freiheit her auf seine Qual hin befragt werden.
Auch da ist etwas dran; nur sehe ich nicht recht, warum man sich in seiner Freiheit nicht gen der "apokalyptischen Reiter" bewegt, die in "Schuld und Sühne" vorliegen - der Kellerlochmensch Badings ist doch viel zu sympathisch, als daß er nur die geringste Chance hätte, halbwegs so abstoßend zu sein wie "Übermenschen" es allemal zu werden verstehen: zu viel der freiwilligen Selbstbeschränkung,
die schon draußen das Neurosenflimmern auf der Straße dominiert- gerade die Bühne ist dazu da, mehr zu wagen (jetzt benutze ich diesen oft gehörten Satz selbst einmal ...).
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: einmal irgendwo anklammern
@ Arkadij Zarthäuser: Auch mich hat die Figurenzeichnung dieses Mannes aus dem Kellerloch sofort an Raskolnikow aus Dostojewskijs Roman "Verbrechen und Strafe" erinnert. Gleichwohl, das Abstoßende des "Übermenschen" zeigt sich meines Erachtens eben gerade und vor allem in seinen "neuen Worten". Ich habe leider den Text der "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" nicht zur Hand. Aber folgender Text von Raskolnikow kommt den Worten des Kellerlochmenschen gegenüber der Prostituierten (bei "Verbrechen und Strafe" ist es die Prostituierte Sonja) doch erstaunlich nahe:
"Liebe ich sie etwa? Ich liebe sie doch nicht, nein? Ich habe sie doch gerade von mir gejagt wie einen Hund. [...] Nein, ihre Tränen brauchte ich, ihr Entsetzen, ich wollte sehen, wie ihr Herz blutet und sie sich quält! Ich wollte mich noch einmal irgendwo anklammern, zögern, ich wollte einen Menschen sehen!"
Warum bzw. inwiefern Sie das jetzt unbedingt mit dem biblischen Motiv der apokalyptischen Reiter verbinden wollen, das verstehe ich nicht.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Apokalypse einer Person
@ 6
Richtig, so ähnlich spricht auch Raskolnikow zu Sonja, und so ähnlich vermag Arkadij Swidrigailow dann nicht mehr zu Raskolnikows Schwester zu sprechen (dafür streckt sie ihm den Pistolenlauf entgegen, worauf es für diesen Arkadij nur heißt, "nach Amerika zu reisen" im Hotel "Adianopel" - eine merkwürdige Bezeichnung für einen Selbstmord: nach Amerika reisen -
das ist schon fast "Arizona Dream"), währenddessen Rasumichin mit ihr so redet wie der Kellerlochmensch zu Lisa zu Beginn, Lushin ohne Skrupel so zu ihr wie der Kellerlochmensch am Ende.

Von der Apokalypse und den 4 Reitern sprach ich einerseits wegen meiner Deutung des Kellerlochmenschen als "Apokalypse einer Person", andererseits wegen der Zahl 4 und dem weißen Quadrat der Inszenierung (deutete dann halt die reale Vierteilungsfortführungs-
arbeit an, die sich dann in "Schuld und Sühne" meineserachtens vollzieht) : Da diese Vierteilungsarbeit in "Schuld und Sühne" einhergeht mit der Aufladung des Stoffes aus "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" gerade mit biblischen Motiven (im übrigen die Erweckung des Lazarus - Höhle und Kellerloch !!-, Sonja "überwindet" mit diesen Bibellesungen quasi Raskolnikow, und ähnlich, wie Sonja das liest, schreibt für meine Begriffe Lisa 2 plus 2 gleich 5 am Ende der Inszenierung), lag mein Ansatz an dieser Stelle wohl nicht allzufern..
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Schmerz einer Transformation
@ Arkadij Zarthäuser: Ihre Überlegungen funktionieren nur, indem Sie allein von den Texten Dostojewskijs ausgehen. Pálssons Inszenierung ist mehr. Sie vollzieht genau diesen Prozess der Transformation des Schmerzes der individuellen Denkprozesse des Kellerlochmenschen auf die Bühne der öffentlichen Wahr-Nehmung. Ihnen nach erschienen auf der Bühne wohl auch noch apokalyptische Reiter. Ich jedenfalls habe keine gesehen. Vielmehr habe ich gelernt, dass 2 + 2 = 5 sein kann.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: interessante Form des In-Szene-setzens
Zusatz zu meinem vorigen Kommentar: Meine Bewusstseins-Bühne würde zum Beispiel ganz anders aussehen als die Hirn-Bühne des Mannes aus dem Kellerloch. Ich würde Lisa anders wahr-nehmen. Oder: Hier zeigt sich möglicherweise eine eher "männlich codierte" Sicht auf die Prostituierte als heilige Hure, als alles verzeihende Erlöserin eines sich als "Ausnahmemensch" wähnenden Mannes. Interessant, in welcher Form Pálsson das Thema der allmählichen Verfertigung der Gedanken des Kellerlochmenschen über ihr In-Szene-Setzen auf der Bühne hier demonstriert.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Gödelscher Unvollständigkeitssatz
@3
Diese Erkenntnis gibt es schon lange, ich glaube sie heißt 'Gödelscher Unvollständigkeitssatz'. Anscheinend siegt dann doch die reine Vernunft...
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Tonfall der Erinnerung
Wenn da der Konjunktiv stünde: "... daß 2 plus 2 5 sein könnte", würde ich das durchaus, was immer das Mehrsein einer Inszenierung gegenüber Dostojewskijs Schriftwerken sein soll, unterschreiben, dennoch bleibe ich dabei, daß
diese Viererspaltung allemal erlaubt hätte, die in der Inszenierung auftretenden "Personen (keine expliziten Reiter !, an welche Charaktere ich dabei so gedacht habe, habe ich erwähnt - das läßt sich nicht übel auf den Abend und den Kellerlochmenschen übertragen) der Abspaltung" deutlicher und fordernder hervortreten zu lassen:
für mich gab es wirklich nicht die leiseste Möglichkeit, den Kellerlochmenschen Badings abstoßend zu finden, das Quadrat war aus freiwilliger Selbstbeschränkung zu eng gezogen, es entstand ein regelrecht poetischer Erzählfluß, kaum mehr als in der einen Tonlage der Erinnerung (nicht ganz umsonst mein Kontrastbild "Der Mann ohne Vergangenheit"), und hätte Lisa nicht 2 plus 2 gleich 5 in das Quadrat geschrieben, befürchte ich, würden Sie jetzt kaum davon sprechen, sie hätten von diesem Abend gelernt, daß 2 plus 2 gleich 5 sein kann.

Da es das könnte, wäre ich aber der Letzte, der von diesem Abend abraten würde - ich würde mir auch "Weiße Nächte" auf der Bühne nicht entgehen lassen..
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: über Rationalität
@ Mone: Vom "Gödelschen Unvollständigkeitssatz" habe ich auch schonmal gehört. Und wie genau steht der jetzt mit dieser Inszenierung in Zusammenhang?
Davon abgesehen, ich würde sagen, es geht eben nicht um den Sieg (der reinen Vernunft). Bedenken Sie die Perversion der Rationalität abstrakter ideologischer Systeme - des Faschismus oder auch des Stalinismus beispielsweise.
Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, Berlin: Beweis für das Unberechenbare
@Blanche

Also in #3 schrieben Sie: "Heisst das, dass der Kellerlochmensch in gewisser Weise zu der Erkenntnis gelangt ist, dass Menschen und Welt - im Unterschied zur abstrakten Mathematik - nicht komplett berechenbar sind? Dass es das Unberechenbare sogar geben muss? Pure Vernunft darf niemals siegen. Oder?" Lustigerweise kam der Beweis für das Unberechenbare eben auch aus der Mathematik. Deshalb der Unvollständigkeitssatz. In der Inszenierung steht am Anfang 2+2=4, am Ende ist das Ergebnis 5, eigentlich einer guter Hinweis, wie man sich etwas Unberechenbarem nähern kann.
Wie Sie bei der Erwähnung von reiner Mathematik auf den Faschismus und Stalinismus zu sprechen kommen, dass erschließt sich mir im Moment nicht. Ich jedenfalls fand den Sportunterricht immer viel faschistischer...
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: ethisch-moralische Komponente
@ Mone: Richtig, der Unvollständigkeitssatz kommt aus der Mathematik. Und es geht da doch darum, dass bei jeder formallogischen Ableitung immer noch ein Rest bleibt, oder?
Auf (Faschismus und) Stalinismus kam ich deswegen, weil Dostojewskij sich meines Erachtens immer auch kritisch bzw. parodistisch mit der linearen Fortschrittsgläubigkeit des dialektischen Materialismus marxistisch-leninistischer Prägung auseinandergesetzt hat. Da wurde vom "Reich der Freiheit" und vom "neuen Menschen" gesprochen, als könne man sich diesen einfach mal eben so zusammenbauen - ein sehr mechanistisches Menschenbild. Denn ein Mensch, welcher rein von der Vernunft her gedacht ist, ist kein Mensch, solange nicht auch die ethisch-moralische Komponente hinzukommt. Was am Ende auch der Kellerlochmensch erkennen muss, wenn er gegenüber Lisa bekennt, dass er nicht gut sei und ebenso wie sie in Tränen ausbricht, während er den Kopf in ihren Schoß legt - ein sehr berührendes Bild. Kurz: Ohne Gnade, ohne verzeihende Seele geht es nicht.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Hirnsausen
@ Blanche
Faschismus, Stalinismus, dialektischen Materialismus, Marxismus-Leninismus, Ethik, Moral und die Gnade der verzeihende Seele in einem Text von 14 Zeilen, da kriegt man ja Hirnsausen. Blanche, machen Sie mal `ne Pause, gehen Sie raus und lüften sich etwas aus, oder üben Sie Arithmetik, vielleicht wird es dann klarer. Oder besser wäre noch Algebra, Sie rechnen da mit zu vielen Unbekannten in einer Gleichung.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Habe nun ach
@ Stefan: Ihnen nach gelten dann also allein die empirischen Wissenschaften, welche auf der Basis statistischer Berechnungen das menschliche Verhalten als deterministisch vorhersehbares konstruieren? Habe nun ach! undsoweiter, Sie armer Tor!
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: Resignation
@Blanche

Vergessen Sie es! Ich glaube ich habe zuviel vom Theater erwartet.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Berlin: genderkritisch fragen
@ Mone: Das müssten Sie dann schon genauer ausführen, um verständlich zu machen, was Sie damit meinen. Auch ich betrachte diesen männlich codierten Erlösungskitsch durch eine "heilige Hure" übrigens mit Skepsis. Man müsste also genderkritisch weiterfragen, ob diese christlich konnotierten Begriffe der Demut, Güte und Selbstaufgabe in Bezug auf die Figur Lisa nicht problematisch sind, insofern damit ein stereotypes Weiblichkeitsbild fixiert wird.
Schließlich, noch eine kleine Assoziation: Die Art, wie Thomas Bading hier immer wieder eine brennende Glühlampe über die Szene hält, hat mich komischerweise an Otto Sander unter/hinter der Riesenglühbirne in der Küchenszene aus Robert Wilsons Inszenierung "Death, Destruction & Detroit" aus dem jahr 1979 denken lassen.
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