Über Mikrofonköpfe zu den Baumgipfeln

von Esther Boldt

Frankfurt, 16. Dezember 2010. Es ist eine Chinesin im Dirndl übriggeblieben vom Oktoberfest. Ein Klischeerest gewissermaßen, tausendmal erzählt wie Peer Gynt. Und doch erzählt Nils Kahnwald, nachdem er mit seinen Spielkollegen Henrike Johanna Jörissen und Michael Goldberg auf die Bühne geschlappt ist, die Geschichte einer dirndltragenden Chinesin, die er heute aus einer Schlägerei befreit habe. Lässt sich kurz dafür beklatschen, macht dann auf dem Absatz kehrt, reckt die Arme zur Decke und erklärt sich zu Peer Gynt.

Zu Ibsens ewig-pubertierendem Geschichtenerzähler, Verantwortungsverweigerer und Möchtegern-Weltbezwinger, der sich immer aufs Neue in Varianten alter Märchen hinein spintisiert und dessen erklärtes Lebensziel es ist, Kaiser zu werden. Allein, dieser kindsköpfige Kaiser in seinen langen Unterhosen und Kniestrümpfen geht allenfalls als Dorfnarr durch. Ein Säufer ist er und ein Leistungsverweigerer, der nichtsdestotrotz energisch Respekt einfordert für seine imaginären Taten. Winkt ihm eine Familiensicherheit, eine Heirat mit Erbe, so wird es seinem fantasiebegabten und märchengefütterten Hirn umgehend zu eng. Zwischen Don Quijote und Pipi Langstrumpf träumt er sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Und wenn sich die Realität als allzu hartnäckig und unbelehrbar erweist, zieht er weiter und denkt sich etwas Neues aus.

Alles in Feinripp

Antú Romero Nunes, der zum zweiten Mal am Schauspiel Frankfurt inszeniert, arbeitet spielerisch mit den Theatermitteln. Sein leichthändiger Stil hat viel Beachtung gefunden - unter anderem wurde seine Diplominszenierung "Der Geisterseher" zum Münchener Festival "radikal jung" eingeladen. Nils Kahnwald nun als Peer Gynt im weißen Feinripp macht die Bühne zu seiner Vorstellungswelt. Er wünscht sich einen Wald herbei, den Bühnentechniker mit Mikrofonen auf Ständern bestücken, ein Echoraum, in dem Mikrofonköpfe Baumwipfel sind. Er lässt Licht verlöschen, Nebel wogen und Musik erklingen.

Henrike Johanna Jörissen spielt seine vergrämte Mutter Aase mit Hakennase, Bademantel und Hauspuschen, sie gibt die wilde, geraubte Braut Ingrid im bauschigen Hochzeitskleid und die stillverliebte Solveig. Michael Goldberg gibt den Trollkönig, doch vor allem einen Beobachter, eine Figur zwischen Moderator, Tod und Teufel, die Gynts wüsten Lebenslauf kommentiert, die lästert und feixt.

Zaubern, flicken, reisen und die Wunderkraft der Fiktion

Die Achterbahnfahrt, diese ständige Berg-und-Tal-Fahrt, diese Zwiebel voller Schichten und ohne Kern, hat Nunes gestrafft und den Dschungel der Ereignisse gelichtet: Nach seiner Mutter Tod revoltiert Peer Gynt wie ein Theatermacher gegen ihr Sterben, zerrt Jörissen auf und schreit: "Du spielst was anderes!" Und Jörissen blafft zurück: "Die ist tot, Mann!" Fortan kann Peer Gynt die Realität nicht mehr flicken mit seinen Fiktionen, an der Unumkehrbarkeit des Todes scheiden sich beide deutlich voneinander.

Und anstatt wie bei Ibsen die Welt zu bereisen, wählt er endgültig den Wahn und verlässt die Realität, die nicht seine ist. Er befiehlt, den Vorhang zu schließen, und vor dem roten Samt zieht er sich aus. Schreit die Hospitantin herbei, die seinen Anzug bringen soll. Unsichtbar hängt dieser am Bügel, unsichtbar bleiben des Kaisers neue Kleider. Nackt läuft Kahnwald aus dem Theater hinaus, gefolgt von einem Kameramann: "Komm schon, das wollen die Leute doch sehen!" Während er das Gyntische Phänomen erklärt, diesen maßlosen Narzissmus aus Wünschen, Lust und Begehren, rennt Kahnwald auf der Leinwand durchs nächtliche Bahnhofsviertel.

Erschöpfter Schöpfer

Einerseits ist dieses vorproduzierte Video ein guter Einfall: Wenn das Theater nicht mehr seine Welt ist, so muss er es verlassen und sein Fleisch, seine Haut, sein Blut am Realen kühlen. Doch der Trip durch den zweifelsfrei seltsamen, aber allzu bekannten Charme von Bankentürmen, Eckkneipen und Dönerbuden gerät langatmig, ermüdend und teilweise schwer verständlich. Die Kulisse scheint "Peer Gynt" nichts hinzuzufügen, an leichtsinniges Unternehmertum und 15minütigen Fernsehruhm erinnerte diese Inszenierung auch schon vorher.

Man ist froh, wenn Kahnwald nach einer gefühlten Dreiviertelstunde mit den Gyntischen Identitätsfragen zurückkehrt auf die Bühne, zum Showdown dieses feigen Menschen und großspurigen Träumers, der irr geworden ist an der eigenen Erneuerungs- und Erfindungssucht, ein müder Schöpfer, dessen narzisstische Träume versiegt sind. Mit ihnen hat sich sein Selbst verflüchtigt. Und es ist Nunes gelungen, sein zwiebelig-verschichtetes Dilemma in ein plausibles Spiel und einen soliden Wahn zu verwandeln.

Peer Gynt
von Henryk Ibsen
Deutsch von Christian Morgenstern
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Florian Lösche, Kostüm: Judith Hepting, Musik: Johannes Hofmann, Video: Sebastian Pircher, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Nils Kahnwald, Henrike Johanna Jörissen, Michael Goldberg.

www.schauspielfrankfurt.de

Mehr zu Antú Romereo Nunes gibt es im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

Der Radikalpoet Antú Romero Nunes zeige mit diesem Abend ein weiteres Mal, "dass er konsequente, reduzierte Form und großes Imaginationstheater verbinden kann", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (18.12.2010) Nunes habe das Riesendrama eingedampft, es für drei Schauspieler zusammengestrichen, und damit "aus dem Werk, das sich um die ganze Welt dreht, ein Stück reinen peerschen Innenlebens gemacht". Dass auf der Bühne ein paar Kästen, Micros und Scheinwerfer herumstehen, kommt aus Sicht des Kritikers "für Nunes’ Verhältnisse schon fast einer Ausstattungsorgie gleich."

Dieser Abend reiße mit, "hinaus, hinauf, aus dem tristen sogenannten Leben, wo sich bloß Schnee und Banken türmen," beschreibt Jan Küveler auf Welt Online (18.12.2010) sein Zuschauererlebnis. "Selbst kaum flügge – er schloss seine Regie-Ausbildung erst vergangenes Jahr ab –, lässt Antú Romero Nunes seine Inszenierung fliegen. Zur Not vom Hochhaus der Europäischen Zentralbank. Der Halle des Bergkönigs entkommen, die Mutter beerdigt, Solveig sitzengelassen, besucht Peer Gynt die Frankfurter Trolle, rast durchs Bahnhofsviertel, belästigt das Mädchen Anitra in einem Dönerladen." Nunes inszeniere Ibsens "nordischen Faust" mit Mitteln, so spärlich wie Peer Gynts karge Behausung. Die kleine Kammerspiel-Bühne ist bis zur Brandschutzmauer aufgerissen. Hin und wieder fallen Neonröhren von der Decke, Galgenvögel mit strahlendem Gefieder." Das findert der Kritiker "so einfach und so groß. Hier zwängen sich keine Mittel, keine Mätzchen zwischen den Zuschauer und sein Gefühl."

"Auf Troll komm raus aufs Offensichtlichste reduziert", findet hingegen Tilman Spreckelsen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.12.20120) die Inszenierung, aus seiner Sicht ein "lange weilender zwei Stunden Gynt-Digest". Denn alles, was jenseits der Selbstfindungsgeschichte spiele, müsse über "die stumpfe Klinge des Regisseurs" springen, der den Zuschauern "Ibsens wohlbekanntes Zwiebelgleichnis sozusagen mit dem Gemüsehammer" einbläue: Hinter den vielen Häuten sei kein Kern. "Die moderne Gegenthese, dass gerade die Summe der Häute eine Person ausmache, interessiert hier nicht." Stattdessen müsse Gynt-Spieler Kahnwald "im endlosen Schlussbild immer wieder fragen: 'Wo ist Peer?' Die Antwort gibt er sich selbst: 'Ich bin Peer Gynt.' Worauf der Knopfgießer erwidert: 'Nein, bist du nicht.' Recht hat er."

"Ohne viel Spektakel" habe Nunes einen "spektakuläreren 'Peer Gynt'" inszeniert, meint dagegen Vasco Boenisch (Süddeutsche Zeitung, 21.12. 2010). Für Nunes sei "das Drama keine folkloristische Episodenreise durch Kontinente, sondern eine Reise ins Ich". Der Abend zeige deshalb einen jungen Mann, "der sich allerhand ausdenkt, lügt, herumlungert - einer, der sich in Traumphantasien versteigt, um darin zu sich vorzudringen. Genau das, was Theater versucht: mit Geschichten die Welt ergründen." Und drei Schauspieler reichten dafür, "wobei Nils Kahnwald für die Titelrolle ein Glücksgriff ist. Lümmel, Liebender, Lebemann, einer, der in der Uni-Mensa neben dir sitzt und morgen schon die Welt retten will." Er könne das: "das Publikum direkt anspielen und den Abend so in der Schwebe halten, dass nie eindeutig wird, ob das jetzt die Geschichte von Nils Kahnwald oder von Peer Gynt ist". Die Inszenierung habe "Charme, Witz" und könne "sehr berühren". Diesem "gewitzten Regisseur wie Antú Romero Nunes" gehöre "die Zukunft: Er vereint die Sehnsucht des Publikums nach erzählten Geschichten mit der aufgeklärten Lässigkeit, dass alles Theater ist, nicht mehr und nicht weniger!"

 

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