Über dem schwarzen Spiegel der Seele

von Andreas Klaeui

Zürich, 18. Dezember 2010. Ein kleiner Abend in der Schiffbau-Box, eine Petitesse – aber was für eine! Eine Annäherung an das Unheimliche, ohne im mindesten gruselig zu tun, ohne es irgendwie an der Oberfläche beschwören zu wollen. Drei kurze Texte von Edgar Allan Poe, ein Schauspieler, ein Schlagzeuger, und ein Bühnenbild, das sich erst unmerklich, dann unerbittlich zum dunklen Spiegel verwandelt.

Unterwegs nach Feen-Eiland

Zunächst könnte man fast von Idylle reden. Wäre da nicht dieser Anfangsblitz gewesen, der die beiden Männer sekundenschnell ganz unwirklich in den Raum gehängt hat. Aber jetzt sitzen sie einfach am Tisch vor uns, zwei Männer in Anzug und Zylinder, Fritz Hauser entlockt allerlei Schlagwerk knarrende Rhythmen, Robert Hunger-Bühler berichtet vom "Feen-Eiland", und wer auf romantische Schauereffekte gehofft hat, sieht sich getäuscht.

Mit großer Sanftmut, verbindlich im Tonfall, fast neutral (was natürlich nicht heißen soll gleichförmig) erzählt er von der merkwürdigen Insel im Waldfluss, am einen Ufer Sonne, am andern tiefer Schatten, und von der Fee im Kanu, die sie umkreist und bei jeder Runde älter und gebrechlicher wird, bis Fee und Eiland in der schwarzen Nacht verschwunden sind.

"A Dream Within a Dream" heißt der Abend nach einer Gedichtzeile Poes, und dies ist, was der Figur auf der Bühne, was den drei erzählten Figuren geschieht: die Wahrnehmung verschiebt sich, die Realitätsebenen verunklaren sich wie beim Traum im Traum, und aus ungeahnten Ritzen strömt das Unbewusste.

Am dunklen Meer des Geheimnisses

So bei dem freundlichen Menschen, der in der Kurzgeschichte "Das verräterische Herz" munter erzählt, wie er einen alten Mann (er hatte so ein beunruhigendes "Geierauge") ermordet hat, und vollkommen rational darlegt, man möge ihn doch bitte nicht für verrückt halten, ein Verrückter hätte das doch alles nicht so konsequent und minutiös geplant. (Dass das titelgebende Herz des Toten dann doch seine Strategie durchkreuzt, fällt in Zürich weg.) Oder bei dem Schiffbrüchigen, der im Tropensturm auf ein Totenschiff und in einen Sog gerät, aus dem es kein Entrinnen gibt, der "einem nie zu enthüllenden Geheimnis" entgegeneilt, "dessen Aufdeckung die Vernichtung bedeutet", tiefer und tiefer hinein ins unheimliche Dunkel am Ende der Welt, wenn nicht überhaupt: in ihrem Innern.

Robert Hunger-Bühler träumt am Tisch oder schlängelt über die Bühne. Mit dem Ernst eines verdoppelten Buster Keaton schlagen, schütteln, schrappen die beiden Herren am Tisch ihre Perkussionsinstrumente, auch der Zylinder ist eine Membran und kann mit der Kleiderbürste gestrichen werden; mit der Aufmerksamkeit einer jagenden Katze verfolgt Hunger-Bühler die Luftwirbel Fritz Hausers. Und aus den Ecken löst sich langsam und zäh eine viskose schwarze Flüssigkeit, glänzend und abgründig, und erobert Millimeter für Millimeter den Boden unter den Füßen. Bis die beiden Herren im Zylinder vollständig umgeben sind vom dunklen Meer des "nie zu enthüllenden Geheimnisses" und in einem ganz und gar surrealen rosa Licht schweben, im luftleeren Raum, über dem schwarzen Spiegel der Seele.

 

Edgar Allan Poe - A Dream Within a Dream (UA)
Regie: Barbara Frey, Bühne und Kostüme: Penelope Wehrli, Musik: Fritz Hauser, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Lukas Bärfuss.
Mit: Robert Hunger-Bühler und Fritz Hauser.

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr zu Barbara Frey, der Intendantin des Zürcher Schauspielhauses, in unserem Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Klein, aber fein: Eine Schatulle voll geheimnisvollem Zauber" wird die Box im Zürcher Schiffbau nach Ansicht von Barbara Villiger Heilig (Neue Zürcher Zeitung, 20.12.2010). Hier zelebriere Barbara Frey "ihre wohldosiert minimalistische Kunst". Aber wie soll man dieses siebzigminütige "aparte Wunderding nennen? Klangskulptur vielleicht - wobei dank dem schauspielerischen Element durchaus Dramatik aufkommt. Es geht aber nie darum, etwas zu illustrieren, weder die Biografie Poes noch sein Œuvre." Hunger-Bühler spreche "so leise, klar und eindringlich, dass der Text einerseits zum Bild wird, anderseits zu Sprachmusik von schmeichlerischer Neutralität" und so, "als erinnerte er sich an Visionen". Bei Hauser und Hunger-Bühler fühlt sich die Kritikerin an E. T. A. Hoffmanns "sinistre Gestalten" erinnert. Dieses "Kunst-Stück" biete sich "in einer hellhörigen und hellseherischen Transparenz" dar.

Der Abend beginne "so behutsam, als trüge die Regisseurin ein Tablett mit Meissner Porzellan durch die Box im Schiffbau", beschreibt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (20.12.2010). Frey baue hierbei "auf die minimalen Verschiebungen der Wahrnehmung", sie "will nicht inszenieren, (...) sondern imitieren mit anderen Mitteln - und so mit dem Publikum interagieren. Wir sollen sie selbst erfahren, diese Verschiebungen um einen Millimeter, die die Welt auf den Kopf stellen. Und da ist es - bisweilen -, das Verrutschen der Klangwelt im Ohr (...), das Verzerren der Bildwelt im Auge". Die Texte seien "sinnfällig gekürzt aufs Geheimnisvolle und Grundsätzliche" und würden "nicht in diese teils langfädige theatrale Onomatopoesie verstrickt. Sie stehen à part und bilden doch den Kern". Hunger-Bühler trage sie "ungewohnt - und wohltuend - trocken vor, sozusagen als Gebrauchsanweisung für den Umgang mit dem Unerklärlichen. Gut so". Die "öden Possen mit Partyhütchen und Zylinder und die manchmal allzu frei herumgaloppierenden Geräuschkompositionen" fielen allerdings aus diesem "Traum in einem Traum" heraus. "Am schönsten und schaurigsten aber, sinnlich und samtpfotig wie ein Duft", sei das Bühnenbild von Penelope Wehrli.

"Geisterstunde im Schiffbau", raunt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (22.12.2010) angesichts von Freys luxuriös ausgestatteten und -gestalteten Poe-Abend. "Mit ihren steifen Zylinderhüten sehen die beiden Männer zwar aus wie Bestatter, und doch sind sie eher ein altes, mürbes Clownspaar, das sich kichernd zu einer morbiden Séance zusammengefunden hat. Die Idee, den großen Schwarzkünstler der phantastischen Literatur als Humoristen zu entdecken, hat durchaus Charme." Und doch habe dieses "konzertante Geräuschtheater mit seinen somnambulen Akteuren etwas ebenso Protziges wie Preziöses - es prunkt mit seiner Bescheidenheit". Angestrengt neckisch sei diese bloße Laune der Intendantin Barbara Frey, die sich mit ihrem philosophischen Schabernack eine hochkarätige Regie-Petitesse spendiert hat.

 

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