Lord of Lord!

21. Dezember 2010: Ist das Theater? Ein Happening? Eine postspektakuläre Performance vielleicht? Am 13. November diesen Jahres ist es in einer Shopping Mall in San Francisco zum plötzlichen Auftritt einer Sanges- und Spielgruppe gekommen. Dankenswerterweise wurde das Ereignis filmisch festgehalten.

Man sieht Menschen an Tischen; sie speisen, sie reden, sie laufen umher. Eine Alltagsszene in Amerika. Dann erhebt sich eine junge Frau mit rotem Schal. Sie telefoniert. Sie beginnt, laut und entschieden, zu singen. Sie singt das große Halleluja aus Georg Friedrich Händels Messias. Erste irritierte Blicke an den Tischen. Ein zweiter Sänger folgt, er trägt Kapuzenpulli, steigt auf den Stuhl. Es erheben sich weitere, zwei stehen neben einem Geldautomat. Bald sind es viele. Und bald sind Zuhörer und Zuschauer nicht mehr von Mitsängern und Mitmachern zu unterscheiden. Mehrere filmen, einige scheinen spontan einzustimmen. Kaum jemand, der noch mit Speisen beschäftigt ist. Dagegen viele glückliche Gesichter, verschmitzte Lächler, staunende Kinder.

Ein Flash Mob, ja, ein besonders schöner, berührender. Aber auch Theater? Es weiß zum Glück keiner, was Theater ist. Es erfindet sich das Theater ja jedes Mal neu. Und es kann ja alles mögliche Theater sein, obwohl natürlich nicht alles Theater ist. Die Politik zum Beispiel ist kein Theater, sondern Politik, auch wenn sie theatrale Mittel verwendet. Nun, ein schwieriges, umstrittenes Thema.

Es gibt bei dieser "Halleluja"-Inszenierung zumindest welche, die spielen und welche, die zuschauen. Es gibt sogar so etwas wie eine Botschaft: "Lord of Lord! King of King!" Eine heikle, auch missverständliche Botschaft. "The world would be a much better place if there was more of this kind of thing. Those bringing up political and or religious debates really to pull their heads in", hat einer der Kommentatoren auf You Tube geschrieben. Politische, religiöse Debatten! Eine bessere Welt! Also doch Theater.

Theater für Freunde der Werktreue. Es wird sich an die Partitur gehalten, wenn auch nur an den Klavier- oder wie hier den Keyboardauszug. Es gibt keine Nackten und kein Blut, Spaghettis allerdings schon. Dafür wurde auf alle Eingriffe in den Text verzichtet, noch nicht einmal zu Strichen konnte man sich durchringen. Und doch werden auch die Freunde des Regietheaters hier ihre Freude haben: Es gibt Flachbildschirme! Bühnen- und Zuschauerraum sind identisch! Keine Kostüme! Aber auch: Der Herr am Keyboard ist als Weihnachtsmann verkleidet! Und alles spielt in einem Einkaufszentrum (Konsumkritik!). Außerdem, hui, Laien! Oder nicht? Ist's womöglich eine Werbeveranstaltung einer orstansässigen Christengemeinde? Sind's missionseifrige Fundis am Ende?

Mein Lieblingsspieler ist jedenfalls der Herr im Blaumann mit einem Warnschild in der Hand: "Caution! Wet Floor!" Vorsicht, nasser Boden. Rutschiger Untergrund. Theater!

(Dirk Pilz)

 

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