Voll das Leben

von Georg Kasch

München, 4. Oktober 2007. Warum ausgerechnet Friedrich Schillers "Don Karlos"? Warum nicht eine Shakespeare-Komödie? Oder, wenn es unbedingt eine Tragödie sein muss, "Hamlet"? Denn darauf läuft Christian Stückls Eröffnungsinszenierung am Münchner Volkstheater mit einem überwiegend jungen Ensemble ohnehin hinaus.

Karlos ist hier ein derart infantiler und depressiver Prinz, dass man ihm gerne methodischen Wahnwitz unterstellen möchte, König Philipp aber ein Widerling, dem ein Giftmord nicht fremd sein dürfte. Zudem treibt ein Page sein Unwesen, der mit seinen Fratzen und launischen Einlagen an komische Volkstypen wie die Totengräber erinnert. Er liefert das entscheidende Stichwort: In Posas Monolog vor der Begegnung mit Philipp heißt es "Sein oder nicht" – und natürlich ergänzt der Page: "...Sein. Hamlet, 3. Aufzug, 1. Szene." Schon klar.

Stückl greift gerne ins pralle Leben, zeigt Liebe, Leidenschaft, Verrat. Da ist seine Inszenierung bei der Sache, da gelingen ihm bewegende Details: Mit welcher Liebe der servile Graf Lerma die vom König ausgerissenen Akten wieder einsortiert. Oder wie Karlos seinem toten Freund Posa das Hemd zuknöpft, als hinge davon dessen Nachruhm ab.

Von allem ein bisschen

Doch wann immer sich das Ideendrama mit seinen endlosen Idealismusdebatten Bahn bricht, fällt dem Regisseur nicht viel ein. Es scheint, dass er von allem, was im "Don Karlos" angelegt ist, ein bisschen was erzählen will. Zunächst von den zarten Seelen, die im Überwachungsstaat gefangen sind. Eine Multifunktionskommandobrücke dominiert die Bühne, die sich drehend in eine Freitreppe verwandeln, ihre Weg aber auch im Nirgendwo enden lassen kann. Darunter Gänge und Gitterfenster, die die Spitzel zugleich zeigen und verbergen. Ausstatterin Marlene Poley hat die Damen und Herren in hautenge, die Beengtheit des Hofzeremoniells illustrierende Latexoberteile gezwängt. Nur die Freigeister Karlos und Posa dürfen Schlabberhemden tragen.

Dann vom Vater-Sohn-Konflikt: hier der zugeknöpfte Spießer mit Glatze, Ralph-Morgenstern-Koteletten und erhöhten Absätzen, dort der dauererhitzte Langhaar-Revoluzzer in Turnschuhen. Zudem vom Konflikt zwischen Leidenschaft und politischem Ideal. Schließlich von Einsamkeit und Alter auf dem mächtigsten Thron der Welt.

Zusammen wollen diese Erzählungen aber nicht kommen, und so fehlt dem Abend das Zwingende. Er findet keinen Rhythmus, nicht in der Struktur, nicht in der Sprache. Weder Nico Holonics’ am Rand des Nervenzusammenbruchs entlangschrammender Karlos noch Friedrich Mückes Posa können den Schillerversen einen Drive verleihen, dem man dauerhaft folgen möchte.

Darunter leidet auch die Faszination Posas, in den sich alle mehr oder weniger platonisch verlieben. Nur die Frauen locken den jugendlichen, selbstgewissen Charmeur im James-Dean-Look richtig aus der Reserve. Was für eine Szene, wenn er die Eboli ebenso erniedrigt, wie es kurz zuvor der König mit der Elisabeth getan hat! Oder wenn er vor der Königin weint, als sie begreift, dass ihr Abschied von Posa einer für immer sein wird. Anschließend verlässt ihn der Mut, und nur Freund Alkohol lässt ihn euphorisch sterben.

Don Karlos – ein Frauenstück!

Aber die Frauen! Sie sind das Kraftzentrum von Stückls Inszenierung. Barbara Romaners Eboli wandelt sich von der Hofdame mit Haltung in eine gurrende Sexbombe, dann in eine Furie und schließlich in eine verzweifelt Büßende – eine Operndiva, die ihre Arien perfekt beherrscht. Noch erstaunlicher aber ist, wie sehr sich Xenia Tiling den Text ihrer Elisabeth zu eigen macht, wie sie Schillers Verse spricht, als wären sie eben empfunden.

Spottend, ironisch, zupackend ist diese Elisabeth, keine stille Seele, sondern eine strategisch Denkende, eine Eigenwillige, die weiß, was sie sich und ihrem Geschlecht schuldig ist. Und ihrem Herzen. Beim Abschied von Posa lässt sie die Königin weit hinter sich, springt ihn an, küsst ihn auf den Mund: "Warum haben Sie mir das getan?"

Als die Frauen verstummt oder von der Bühne verschwunden sind, verpufft das Drama. Wie eine Sparvariante wirkt der Einfall, Domingo den Text des Großinquisitors sprechen zu lassen. Hatte Timur Isik dem Beichtvater zunächst schmierig-zynische Züge verliehen, sagt er nun seinen Text unverbindlich auf, während Christian Schnellers wie ein miesepetriger Kleinstadtbürgermeister wirkender Philipp dem toten Posa nachschmachtet. Hier scheint nichts auf von einer ungeheuerlichen, allgewaltigen Macht, die alle bisherigen Maßstäbe außer Kraft setzt. Hier pinkelt ein jugendlicher Geistlicher seinem weltlichen Chef ans Bein, und der bekommt eine Midlifecrisis. Schiller mal extra light. Dafür sind 3 Stunden 45 Minuten aber zu lang.

 

 

 

Don Karlos
von Friedrich Schiller
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Marlene Poley. Mit: Christian Schneller (Philipp der Zweite), Xenia Tiling (Elisabeth von Valois), Nico Holonics (Don Karlos), Ursula Burkhart (Herzogin von Olivarez), Camelia Chirtes (Marquisin von Mondekar), Barbara Romaner (Prinzessin von Eboli), Friedrich Mücke (Marquis von Posa), Markus Brandl (Herzog von Alba), Stefan Murr (Graf von Lerma), Timur Isik (Domingo), Andreas Tobias (Page der Königin).

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Ganz hübsch, aber nicht wirklich bewegend findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2007) Christian Stückls Eröffnungsinszenierung. Im Grunde sei sein Don Karlos "eine Art 'Denn sie wissen nicht, was sie tun' am Escorial. Der spanische Hof ist bei ihm hinreichend düster, ein metallisches Gebilde schafft einen Hauch von Gothic, doch gleichzeitig auch Verwirrung, denn die Gebäude-Installation von Marlene Poley dreht sich ächzend, wird zu immer neuen Konstellationen zusammengeschoben, die verschiedene Möglichkeiten für bedeutungsschwere Auftritte schaffen. Nur was diese Auftritte dann tatsächlich bedeuten, wird nicht immer klar – außer dass es natürlich ziemlich gut ausschaut, wenn ein junger hübscher Mann in fünf Meter Höhe auf einem Sprungbrett seines eigenen Gefühls steht."

Gabriella Lorenz äußert sich in der Münchener Abendzeitung (8.10.2007) recht missmutig und wirft Christian Stückl vor, sich beim Don Karlos nur für das Gefühlsdrama, nicht für die politische Idee interessiert zu haben. Das sei für Schiller definitiv zu wenig. Bis zur Pause trägt aus ihrer Sicht noch die zügige Spielweise. "Doch wenn danach die Emotionen explodieren, zerfasert die Inszenierung langatmig in Geschrei, Geheul, Revolvergefuchtel und Tätlichkeiten." Auch eine drastische Peinlichkeit wird verärgert verzeichnet.

Im Münchner Merkur (8.10.2007) schreibt Sabine Dultz, Christian Stückl und seine junge Mannschaft könnten sich mit dieser Arbeit sehen lassen. Denn es gelinge, "dem jugendlichen Furor des Schiller-Dramas, dem Überschwang des Lebensgefühls seiner Figuren, ihrem Anspruch an das Leben und ihrem Überdruss daran Ausdruck zu geben. Und darüber hinaus den Konflikt zwischen Privatem und Politischem ... deutlich zu machen."

Für Alexander Altmann in der Münchner tz (8.10.2007) wirkt die Aufführung als "'Tatort' aus dem Geschichtsbuch', zwar "ungeheuer solide, gekonnt, ja, streckenweise sogar mitreissend". Was uns der Stoff heute angehen soll, bleibt ihm bei dieser "lackglänzenden Edelkolportage" jedoch verborgen.

 

Kommentare  
Ein Wunder: Stückls Don Karlos
das ist lieblos, unaufmerksam und falsch,was der Rezensent da schreibt. Er hat wohl die vielen Regietheateridiotien, die man an Schiller beging nicht im Gedächtnis. Stückl nimmt den Dramatiker Schiller beim Wort, und man erlebt, wie spannend und hoch reflexiv, wie rhetorisch großartig er noch immer ist, wie gebrochen zweigesichtig seine Figuren sind, statt plump und eintönig verklamottet wie das meiste, das im Regietehater von ihnen übrig bleibt jedesmal.
Diese nachrkritik ist neidisch, unsensibel, grobäugig und ziemlich schäbig. Leider. Sehr bedauerlich. Wer Schiller wieder entdecken möchte, sollte diese Aufführung besuchen. Sie dauert fast 4 Stunden und ist nie langweilig, immer geschieht etwas Bedeutsames, Erhellendes und Überraschendes, das Bühnenbild und die Kostüme sind von der ganz besonderen Klasse. Und die Schauspieler können alle sprechen auf einmal, welch ein Wunder.
Schade, schade dass Sie nur so stumpfe Kritiker haben.
Dr. W.Hindemith
zu Don Karlos, mehr Beschreibung, weniger Wertung
Sehr geehrter Herr Kasch,
Ihre Worte sind Messer, wenn auch eher solche, die zum Schälen von alten Kartoffeln aus dem 70er-Jahre-Küchenmöbel hervorgeholt werden. Ihre stumpfe Wut hat sich sehr scharf in ihnen gespiegelt. Herzlichen Glückwunsch. (...) Herr Kasch, auch ich habe die Inszenierung an diesem Abend gesehen und bin nicht vollends begeistert, bin jedoch der Meinung ein Kritiker darf und sollte sich an Beschreibung üben, denn seine subjektive Wertung interessiert nicht, zumindest nicht in diesem Umfang. (...)P. Husemann
Don Karlos - Kasch antwortet seinen Kritikern
Sehr geehrte/r Frau/ Herr Hindemith, sehr geehrte/r Frau/ Herr Husemann,

Wut liegt mir völlig fern. Enttäuschung träfe es eher, weil ich nur einen halben Schiller gesehen und mich streckenweise gelangweilt habe, ohne dafür mit Fragen oder Erkenntnissen belohnt zu werden.

Mit meinem Fazit – Schiller extra light – bin ich selbst nicht glücklich, es ist eines dieser Kinder durchwachter Nächte und kein guter Ton. Es will Folgendes sagen: In Schillers „Don Karlos“ treffen Idee auf Gefühl, Menschen auf einen unerbittlichen Machtapparat. Schiller hat das sehr ausgewogen angelegt. In der Volkstheater-Inszenierung ist mir diese Ausgewogenheit aber nicht begegnet.

Kritiken leben davon, dass lediglich Schlüsselszenen und –elemente geschildert werden. Sonst wäre eine wissenschaftliche Seminararbeit das Ergebnis. Mein Fehler war es, mich in der Beschreibung vor allem auf die positiven Aspekte zu beschränken, so dass nur bedingt deutlich wird, worauf mein Urteil gründet. Ich trage nach:

Die Bühne ist einerseits tatsächlich ein kluges Gebilde, weil sie vielfältig bespielbar ist, mit ihrem kreischenden Drehen für die verrosteten Hofstrukturen steht und gleichzeitig mit seinen Serail-Gittern den Spitzeln Auftrittsorte verschafft. Andererseits irritiert die Ästhetik aus Raumschiffkommandobrücke und düsterem Geisterschloss, die sich auch in den Kostümen (zumal der Damen) wieder findet.

Karlos und Posa führen ihre Gespräche oft von unterschiedlichen Orten aus, Posa zum Beispiel vom Steg, Karlos von unten. Meines Erachtens ist das eine rein äußerliche Belebung. Den Inhalt ihres Gespräches macht es nicht lebendiger oder kraftvoller.

Von Anfang an hat Karlos etwas Trotzig-Wütendes, auch Selbstmitleidiges. Er schaut oft unter seiner überlangen Haarsträhne hervor, spricht erregt, schnell. Bis zum Schluss ändert sich sein Verhalten kaum. Posa hingegen zergliedert seinen Text in Intervallen von wenigen Worten, wirkt oft etwas überheblich und kalt. Er war aber nicht entschieden, weder ganz der sonderbare Schwärmer, noch ein zukünftiger Tyrann (oder als was immer man Posas selbstgefälligen Ikonoklasmus lesen möchte).

Stark ist der Kontrast zwischen Karlos und Philipp: Hier der spätpubertierende Hitzkopf mit wenig prinzlicher Modevorstellung, da der förmliche, pflichtbewusste, zu keinem positiven Gefühlsausdruck fähige Vater. Zwei Welten, die zusammen nicht kommen können. Ein König ist Philipp aber nicht, schon gar keiner mit einer Vision (vom einigen Großreich). Ich habe einen überforderten, unsympathischen Verwalter erlebt, dem die Fallhöhe für die letzte Szene fehlte. (Und warum wurde die eigentlich letzte Szene vor die Großinquisitorenszene gestellt?) So, wie es auch dem „Großinquisitor“ an Autorität gebrach. Wir alle wissen, dass Philipp und sein Staat sich im eisernen Griff der Inquisition befinden. Aber es muss jedes Mal von Neuem auf der Bühne erfahrbar gemacht werden.

Davon habe ich nichts erlebt, und auch den geistigen Höhenflügen des Karlos’ bin ich nicht begegnet. Immer da, wo es ans Zergliedern und Denken ging, habe ich Menschen gesehen, die gehen (z.B. eine Treppe hoch oder von links nach rechts), stehen, sprechen, die Arme heben oder senken. Aber von den Inhalten hat sich mir nur wenig vermittelt, war es schwer, den Sinnzusammenhängen zu folgen.
Kaschs Antwort, Teil II
So in der Schlussszene: Da steht Philipp auf dieser langen Treppe, hinter ihm Domingo (mit dem Text des Großinquisitors). Unten liegt Posas Leiche, daneben ein verwunderter (oder schon toter?) Karlos, den niemand mehr zu interessieren scheint, auch Elisabeth steht da, wagt aber keinen Einwurf (so steht es ja auch nicht geschrieben in dieser Szene für zwei Schauspieler). Später kommt noch Lerma hinzu. Ein Opernfinaletableau. Aber wie das so kraftlos und matt verhandelt wird, passt ganz und gar nicht zum Staatsgemälde. Schließlich erlischt das Licht, zugleich scheint grell ein Kreuz auf – eine Doppelung, ein erwartbares Zeichen. Das ist Kitsch!

Immer dort, wo es in Christian Stückls „Don Karlos“-Inszenierung um Emotionen ging, vermittelte sich mir etwas, und oft war dieses Etwas spannend und mitreißend oder rührend, bewegend. Das pralle Leben. Aber dort, wo es kompliziert wurde, intellektuell, erreichte mich nichts mehr. Nur den halben Schiller, seine Shakespearesche Seite zu erleben, hat mich enttäuscht.

Mit freundlichen Grüßen
Georg Kasch
An die Hunde
Was soll das denn? Hier steht nix brauchbares, ihr Hunde!
Don Karlos: interessiert nicht.
Schwachsinniges Buch musste es lesen, da wir dieses Buch nur als Lektüre zu lesen haben, sonst interessieren mich solche Bücher nicht.
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