Die Erniedrigten und die Sorglosen

von Hartmut Krug

Dresden, 8. Januar 2011. Die Dresdner Bühnenversion von Hans Falladas Roman beginnt mit einem Vorspiel vor dem Vorhang, angekündigt unter dem Titel "Die Sorglosen". In einer langen Tischreihe sitzen die Darsteller vor Xylophonen, einige rasseln, einer klampft, und gemeinsam intonieren sie eine zart-besinnliche Musik. Ganz beiläufig, ohne die Tische zu verlassen, rutscht man dann vom Spiel in die demonstrierende Vorführung. Wenn der Arzt, von dem das unverheiratete Liebespaar Pinneberg und Lämmchen Verhütungstipps erhofft, die Schwangerschaft der Frau verkündet, ist das auch eine lustige Nummer. "Das wird schon, das wird schon gehen", beruhigt man sich, denn man hat ja sich und die Liebe, und geheiratet wird nun auch.

Falladas Welterfolg aus dem Jahr 1932 ist ein in liebevollem Naturalismus ausgemalter Bilderbogen: Der Angestellte Johannes Pinneberg und seine patente Frau Emma, genannt Lämmchen, wollen nicht mehr als ihr kleines, stilles, privates Glück. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so: Pinneberg geht fast unter im Strudel des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit, und allein Lämmchen hält die kleine Familie mit Putz- und Hilfsarbeiten über Wasser. Was den beiden bleibt, ist die Sicherheit: "Wir sind zusammen."

Die Hoffnung auf die Anständigkeit der Menschen

In Falladas Roman, den Hermann Hesse "das Buch vom armen, geduldigen, kleinen Mann" nannte, kann man sich richtig hineinkuscheln, so munter menscheln seine Figuren, die trotz der äußeren sozialen Härte wohlig charmant oder angenehm skurril gezeichnet sind. Peter Zadek hatte den Roman in Bochum 1972 als große, kritische Revue inszeniert, und in vielen Bühnenversionen ist immer wieder das anrührende Idyll der Pinnebergs mit ihrer apolitischen Hoffnung auf Besserung durch die Anständigkeit der Menschen kritisch beleuchtet und durch genaue Menschendarstellung, durch Schärfung der Konflikte und durch Radikalisierung oder Aktualisierung der Probleme aufgebrochen worden.

Barbara Bürk tut nichts davon. So wie im Vorspiel stellt sie in drei langen Stunden den Stoff und die Figuren einfach aus. Sie zeigt Menschen von heute mit Handlungen und Gesten von gestern. Vor allem aber setzt sie auf Komik.

Dafür hat sie ein starkes, spielfreudig komödiantisches und homogenes Ensemble mit Torsten Ranft und Rosa Enskat in mehreren Rollen an der Spitze. Ranft kann allein mit der Betätigung einer Rassel die Bühne beherrschen, und wie er in der FKK-Szene in paradiesischem Zustand über die Bühne tobt, das ist nicht nur von virtuoser Komik, sondern beweist auch zugleich, dass nackte Männer auf der Bühne nicht immer peinlich sein müssen. Und Rosa Enskat schrillt und zappelt sich in wunderbarer Exaltation gleich durch mehrere Frauenrollen. Während Christian Erdmann einen anrührend hilflos staunenden Pinneberg und Karina Plachetka ein von innen strahlendes Lämmchen geben – damit bekommt das Publikum zwei liebenswerte Mitfühlangebote.

Viel Bewegung, verknappte Figuren, handwerkliche Sicherheit

Natürlich, das ist spätestens mit dem Vorspiel klar, stellt Barbara Bürk das emotionale Bedienpotential des Stoffes, wenn auch nicht kritisch, aber doch als vorhanden, deutlich aus.
Insgesamt sind die Figuren in dieser Fassung meist nur angerissen und verknappt, vor allem aber komödiantisch übersteuert und klischiert. Wenn Pinneberg in der Herrenkonfektion des Kaufhauses beginnt, wird er in einer wilden, überlangen tänzerischen Parodie in die Demutshaltung eines Verkäufers eingeführt.

Viel Bewegung, manch schwuchtelige Sequenzen und erotische Deutlichkeiten in ausführlicher Dezenz sind auf einer Bühne zu erleben, auf die Requisiten und Menschen auf einem langen Laufband herein gefahren werden. Unter dem Laufband stehen Waschmittel und Windel-Kartons, ohne dass Laufband oder Kartons dramaturgisch sonderliche Bedeutung gewinnen. Weil hier ein Märchen aus jeder und keiner Zeit erzählt wird, mit nicht mehr als handwerklicher Sicherheit und Einfallsreichtum.

Wohlfühl- und Mitfühltheater

Ich habe mich während dieser Aufführung immer wieder gefragt, warum man mir in Dresden eigentlich diese Geschichte vom kleinen Mann erzählt. Erlebt habe ich ein Wohlfühl- und Mitfühltheater vor einem situierten Publikum, das sich anscheinend gut bedient und ordentlich unterhalten fühlte von Problemen, die so nicht die seinen sind.

Und da in dieser Spielfassung auf keinen Schmerzpunkt gedrückt wird und niemandem, weder den Figuren noch dem Publikum, irgend etwas wirklich weh tun konnte, war der Applaus groß. Selbst die Szene, in der Pinneberg vom Verlust seines Selbstwertgefühls erzählt, nachdem er von einem Polizisten vom Bürgersteig gescheucht wird, ist hier nur schauspielerisch souverän gelöst worden. Kein Missverständnis: ich erwarte kein Betroffenheitstheater, aber doch wenigstens eines, das uns heute betrifft. Gutes Handwerk und unterhaltsame Komik, das allein kann es doch nicht sein.

 

Kleiner Mann, was nun?
nach dem Roman von Hans Fallada für die Bühne eingerichtet von Barbara Bürk und Julia Weinrich
Regie: Barbara Bürk, Bühne: Anke Grot, Kostüm: Irène Favre de Lucascaz, Musik Markus Reschtnefki, Licht: Olaf Rumberg, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Karina Plachetka, Christian Erdmann, Torsten Ranft, Rosa Enskat, Ahmad Mesgarha, Benjamin Höppner, Anna-Katharina Muck, Sascha Göpel, Markus Reschtnefki.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr Fallada? In den Münchner Kammerspielen inszenierte 2009 Luk Perceval eine Version von Falladas Kleiner Mann, was nun?. Pinneberg-Darsteller Paul Herwig erhielt beim Theatertreffen 2010 den Alfred-Kerr-Darstellerpreis. Die Laudatio hielt Juror Bruno Ganz.



Kritikenrundschau

"Volkstheater mit Witz und Ironie, Herz und Verstand", befindet Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (10.1.2010). Im praktischen und wandelbaren Konglomerat aus Arbeits-, Wohn- und Showarchitektur "sind die Weichen für ein Spiel in bunten Bilderbögen gestellt", wo "das junge Paar, sehr heutig in seinem gesamten Habitus, seinen kleinen Reaktionen auf alltägliche Kleinigkeiten" sehr nahe und gut nachvollziehbar spielten. Neben Karina Plachetka und Christian Erdmann hebt Petzold aus dem insgesamt akklamierten Ensemble Rosa Enskat und Torsten Ranft heraus. Sein Fazit: "Keine intellektuelle, aber eine intelligente Inszenierung, die auch die wohl obligatorische Entkleidungsszene nicht ausspart, sondern mit dem Treff der Nudisten umwerfende Parodie zu bieten und auch in Sachen Sex einige überraschende, dabei gar nicht prüde Ansichten in petto hat."

Einen skurrilen Tanz über dem sozialen Abgrund hat Rainer Kasselt beigewohnt, "als wär's ein Stück von heute", wie er in der Sächsischen Zeitung (11.1.2010) schreibt. "Barbara Bürg erzählt die Geschichte nicht als Tragödie, sondern Tragikomödie. Sie setzt bunte, grelle Szenen gegen die dunklen, traurigen Momente", das Lachen bleibe einem oft im Halse stecken. Dabei zwinge Bürg das Publikum, in den Spiegel zu schauen: "Nicht ohne Grund bleibt das Theater den dreistündigen Abend über leicht beleuchtet." Darüber hinaus sei es ein Abend der Schauspieler.

"Schrill, überzeichnet, grotesk" inszeniere Bürg, meint Gabriele Fleischer in der Freien Presse (11.1.2010), die nicht so richtig überzeugt wurde:  "Scheinbare Nebenschauplätze, wie die zufällige Bekanntschaft Pinnebergs mit dem Verein für Freikörperkultur seines Kollegen Heilbutt werden zur skurrilen Lachnummer. Braucht es dieses Amüsement wirklich, um das schicksalhafte Leben des kleinen Mannes Pinneberg und seiner Familie in Zeiten des Leistungsdrucks und der Angst des Versagens darzustellen?" Immerhin: "Mit der Besetzung der Hauptfiguren ist ein Glücksgriff gelungen."

 

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