Der blinde Therapeut

von Hartmut Krug

Berlin, 9. Januar 2011. Eine Opernarie füllt den klinisch weißen Raum, dessen weniges Mobiliar das Klischee einer edlen Arztpraxis bebildert. In einer Ecke, unter weißem Laken, kauert Prof. Dr. Matthes Grebenhoeve – schwarz der Anzug und groß, wenn auch irritiert, das Selbstbewusstsein. Wenn er aufspringt und an seine Patientenkartei tritt, beginnt ein großer Erklär- und Verteidigungsmonolog.

Die Skepsis, die schon im Titel von Oliver Bukowskis Monolog "Der Heiler" deutlich wird, hat dieser Psychotherapeut, der sich als Koryphäe in der Königsklasse bezeichnet, gegenüber den Möglichkeiten seines Berufes selbst entwickelt. Erst einmal aber räsoniert er hochfahrend gegenüber dem Supervisor einer Ethikkommission, in deren Rolle das Publikum als Ansprechpartner gerät, über sein Fach. Der Autor führt uns dabei wie nebenbei in Grundbegriffe und Grundprobleme psychotherapeutischer Arbeit ein. Objektiv soll der ideale Therapeut sein, doch der Untersuchende verändert das zu Untersuchende und umgekehrt: Übertragung und Gegenübertragung sind die Fachbegriffe.

Der Grand Canyon der Psychoanalyse

Und die Behandlung von Borderline, der Spezialität des Professors, beschreibt dieser als den Versuch, "als wollte man den Grand Canyon mit einer Wasserpistole füllen. Nur ... der Grand Canyon hat einen Boden." Weshalb er auch schon zweimal den therapeutischen "Supergau" erlebt hat, bei dem der Patient nach einer Sitzung in den Suizid ging. Davon erzählt der Professor, während er andere beschimpft, die Situation seines Faches anklagend, und räsonierend kritisiert und sich immer wieder in sein auftrumpfendes Selbstbewusstsein zu retten versucht. Doch all dies ist Verteidigung, denn der Endsechziger ist nackt neben einer toten jungen Patientin gefunden worden, die Selbstmord beging.

© Arno Declair
Jörg Gudzuhn als Heiler im Rentenalter
© Arno Declair

Der 65-jährige Jörg Gudzuhn – seit 23 Jahren Mitglied im Ensemble des Deutschen Theaters, in der noch jungen "Ära" der Intendanz Khuon aber sträflicherweise nur einmal mit einer Rolle betraut (im Desaster Sein oder Nichtsein, was eher einer Bestrafung gleichkam) – wirft sich bei seinem Abschied als festes Ensemblemitglied mit Witz und Energie in seinen anderthalbstündigen Monolog. In einen Monolog, der wie die meisten Theatermonologe als Gespräch einer Person mit sich und vielen anderen eigentlich eine Dialogreihe ist.

Komödiantisches Feuer und sinnliche Kraft

Wunderbar entfaltet Gudzuhn die durch Selbstbewusstsein und berufliche Zweifel gleichermaßen gefestigte Eitelkeit eines Mannes, der seine Kollegen ("verstehen Sie mich?", "können Sie mir folgen?") runtermacht oder dabei oft von erklärender Ernsthaftigkeit in selbstverliebt komisch auftrumpfendes, bramarbasierendes Erklären wechselt. Wenn sich dieser Professor erinnert, dann denkt er sich vor uns direkt zurück in vergangene Situationen, indem er sie beschreibt und wertet. Gudzuhn spielt dies mit wenig gestischem Aufwand, meist gebückt in sich hinein denkend, die Pointen auskostend und genau platzierend.

Dabei gibt er Bukowskis gelegentlich weitschweifigem Text mehr komödiantisches Feuer und sinnliche Kraft, als man ihm bei der Lektüre zutraut. Zugleich bleibt Gudzuhn, durchaus ein Rampendarsteller in gutem Sinne, immer diszipliniert, ohne diesmal der Gefahr der komischen Kraftmeierei zu erliegen – was wohl Regisseur Piet Drescher zu verdanken ist. Wie Gudzuhn – ein Schauspieler mit Individualität und Variabilität innerhalb des teilweise recht austauschbar wirkenden neuen Männerensemble des Hauses – seine Figur gestaltet, das besitzt eine heitere Ernsthaftigkeit der besonderen Art.

Leben und Monolog: gerettet!

Wenn er von der Patientin Sophie Brettschneider, einer jungen, hoch erfolgreichen Frau mit Charme, Intellekt und "klasse Hintern" erzählt, dann besitzt das nichts Schlüpfriges. Auch sein Auffinden, nackt neben der Toten, ist allein einem menschlichen Verhalten geschuldet, wie der "Angeklagte" in berührender Verwirrung zu beschreiben weiß. Gudzuhn versinnlicht hier in der Schilderung seiner Patientin, was Bukowski zeigen möchte – dass nämlich der Heiler in unserer von Konturlosigkeit, "von Berufs- und Tätigkeitsbeschreibungen" und dem "Sterben biographischer Zusammenhänge und Zukunftsgewissheiten" bestimmten Zeit noch immer vor dem Patienten "weiterhin blind" stehe.

"Danke, Sie haben mir das Leben gerettet", sind die letzten Worte der Selbstmörderin zu ihrem gescheiterten Psychotherapeuten. Nicht gerade gerettet, aber doch mit viel darstellerischem Feuer zu großer Bühnenwirksamkeit gebracht hat Jörg Gudzuhn Oliver Bukowskis engagierten, aber nicht zu seinen stärksten Texten gehörenden Monolog.

 

Der Heiler
Monolog von Oliver Bukowski
Uraufführung
Regie: Piet Drescher, Bühne und Kostüm: Hans Jürgen Nikulka, Dramaturgie: John von Düffel, Licht: Ingo Greiser, Maske: Andreas Müller.
Mit: Jörg Gudzuhn.

www.deutschestheater.de

 

Mehr über den Dramatiker Oliver Bukowski erfahren Sie im nachtkritik-Lexikon.


Kritikenrundschau

"Ist es jemandem wie Gudzuhn, der bei Heiner Müllers achtstündiger "Hamlet"-Inszenierung (Premiere 1990) an Ulrich Mühes Seite spielte, zu verdenken, dass er angesichts der gegenwärtigen Bühnenkunst etwas Schwung einbüßt?", befragt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (11.1.2011) den Abschied des Schauspielers aus dem festen Ensemble des DT in seiner als Porträt angelegten Rezension. "Was soll denn noch kommen, wenn man einmal erfahren hat, welche wirklichkeitserschütternde Relevanz Theater haben kann?" Der Bukowski-Monolog sei dabei durchaus so eingerichtet, dass man "den Mimen im Helden wahrnimmt", sprich: Gudzuhn in dem Prof. Grebenhoeve, der vor den "Ethik-Kommissaren" mit "souveräner Eitelkeit, auf ehrliche, angstlose Weise und ohne sich zu rechtfertigen" agiere. "Wie bei dem Dramatiker Bukowski nicht anders zu erwarten, bleibt der Monolog nicht in der Psychologie stecken. Er stellt die zutiefst politische Frage nach der Therapierbarkeit des Menschen in einer kranken Welt." Fazit: "Aufgeklärt über die Ausweglosigkeit der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen, durchaus angefreundet mit dem Gedanken an die Möglichkeit, nötigenfalls Selbstmord zu begehen, und nicht zuletzt gebeutelt vom Abschiedsschmerz verlässt man das Theater. Und hat bei allem beste Laune."

Im Tagesspiegel (11.1.2011) verneigt sich Andreas Schäfer vor Text und Schauspiel: "So intelligent wurde lange nicht mehr aus und über die Psychowelt geschrieben. Bukowski imitiert mit beeindruckend präzise eingesetztem Fachvokabular den Analytiker-Jargon (und die zu Kalauern neigende Selbstironie der Zunft), aber eben nicht, um ihn (und sie) per se vorzuführen, sondern um erst einmal zu zeigen, was man mit ihm alles kann: Komplexe Beziehungen in Worte fassen, versteckte Kommunikationsstrategien aufschlüsseln." In den Verteidigungsreden des Professors werde so "begriffliches Licht in ein diffuses Emotionsdunkel" gebracht. "Die Dekonstruktion der Rhetorik geschieht dann sozusagen unter der Hand, über die 'Involviertheit' und Ohnmacht des Therapeuten" vor der toten Patientin Sophie Brettschneider. "Mit dieser Sophie gelingt Bukowski das berührende Porträt einer hochgebildeten jungen Frau aus Berlin 'Mitte', die an ihrer Klarsicht zugrunde geht und dem Therapeuten bis zum Schluss unergründlich bleibt." Jörg Gudzuhns Abschied vom DT werde mit diesem Monolog ein "kleiner Triumph, gerade weil Gudzuhn alles andere als triumphierend aufspielt."

 

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