Voll erwischt

von Simone Kaempf

Berlin, 5. Oktober 2007. Eigentlich haben der Biedermeier-Schriftsteller Adalbert Stifter und der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels nicht viel miteinander zu tun. Vielleicht so viel wie ein Pferderitt entlang eines schneebedeckten Fichtenwaldes und eine Autofahrt durch eine nächtliche Großstadt. In beiden Fällen ziehen draussen Dinge vorbei. In beiden vergeht Zeit. Deswegen spricht auch nichts dagegen, von Stifters übergenauen Natur-Schilderungen eine Brücke zu schlagen zu heutigen Wahrnehmungs-Mechanismen.

Goebbels lässt eine Erzählpassage von Stifter, in der ein winterlich zugeschneiter Baum zwei Schlittenreisende zur Umkehr zwingt, nicht nur vom Tonband einspielen, er hat seinen neuen Abend auch "Stifters Dinge" genannt, und liefert in seiner "perfomativen Installation" anhand dieses Dichters gar den Beweis für eine Zuspitzung der eigenen Arbeit: mehr denn je auf die Dinge fixiert zu sein und von ihnen aus erzählen zu wollen.

Mikrophone als Schauspieler

Schauspieler hat dieser Abend nicht. Stattdessen heischen zu Beginn ein paar Mikrophone um Aufmerksamkeit: Töne kommen aus ihnen, aber sie blinken auch hell auf. Dabei stehen sie so aufrecht rechts an der Rampe, dass man sich gleich an Schauspieler erinnert fühlt. Der eigentliche Bühnenkorpus aber besteht aus einer Installation von fünf ineinandergestapelten Klavieren. Die Holzverkleidungen sind geöffnet, man sieht die freigelegten Saiten, die über Elektroverdrahtungen und mechanische Kurbeln angeschlagen werden. Die Installation ist Wunderkiste und Gehirninneres zugleich. Am Ende fährt sie auf hydraulischen Schienen ganz nach vorne, als wolle sie sich dort den Applaus abholen.

Vielleicht sind die Maschinen den Menschen doch so ähnlich, dass auch menschliche Fehler und Eitelkeiten einkopiert sind – aber das ist nur ein Nebengedanke in einem Abend, der weniger auf Eindeutigkeit als auf Suggestion und Reflexion über das Theater setzt. "Ein Klavierstück ohne Pianist, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer", sagt Heiner Goebbels selbst darüber. Die Handlung entzieht sich folglich auch einer Erzählung, verbindet collagenhaft Töne, Bilder, Texte und Geräusche.

Der Apparat ist das Theater

Am Anfang streuen zwei Bühnenarbeiter Zucker in drei Wasserbassins auf der Bühne und drehen die Wasserhähne auf. Will sagen, sie geben nicht dem Affen Zucker, aber der Apparatur ihr Input. Der Apparat ist das Theater selbst, samt seinen dramaturgischen Regeln, seinen festen Vorstellungen von Rolle, Körper, Sprache. Und vor allem mit seinem Unwillen, von etwas umgeben zu sein, was buchstäblich keine Bedeutung haben könnte. Insofern schützt sich der Abend auch selbst, wenn er nach schlanken 70 Minuten zum Ende kommt - und natürlich ebenso endlos weiterlaufen könnte.

In der wirkungsstärksten Szene tröpfelt es sanft auf die Bühne, wie bei einem Sommerregen. Ein Klavier spielt Bachs "Italienisches Konzert", und dann wird ein Interview-Mitschnitt laut gedreht. Claude Levi-Strauss bezweifelt darin, dass es noch Orte gibt, die uns unbekannt sind. Selbst wenn wir einen Ort zum ersten Mal besuchen, würden wir ihn schon kennen. Das klingt so eindringlich wie melancholisch und wirkt ziemlich pessimistisch nach. Dieser Theaterabend kommt allerdings selbst ganz anders daher.

Wirkungsmacht der Suggestion

Die Atmosphäre erinnert an einen Techno-Keller ebenso wie an eine Industriefabrik, aber bleibt immer eine Kunst-Installation. Aus Szenen, Text und Bildern wird ein Kosmos geschaffen, der einem bekannt und fremd gleichzeitig erscheint und ziemlich wirkungsmächtig suggeriert, dass man als Zuschauer immer auch den Rätseln der eigenen Wahrnehmung unterworfen ist. Goebbels hat diesem Befund einen starken Abend abgetrotzt.

Das ist kein plattes, postdramatisches Spiel mit Theaterwirklichkeit und auch keines, das einen mit Sein und Schein austricksen will. So kann man zum Beispiel auf der Bühne sehen, wie ein kleines Stück Plastik gegen eine Rohröffnung schlägt. Das Geräusch jedoch hört sich an, als werde eine Bass-Saite gezupft. Man hört den Ton, sieht das Rohr, sucht ein Bass-Instrument und begreift, dass einen der Abend auf diese Weise voll erwischt.

 

Stifters Dinge
Konzeption, Musik, Regie: Heiner Goebbels; Raum, Licht, Video: Klaus Grünberg.

www.heinergoebbels.de

 

 

Kritikenrundschau

"Goebbels hat ein metaphysisches Drama der Wahrnehmung entworfen. Mit einer radikal modernen Ästhetik", freut sich Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (8.10.2007) "Ein Theater der Dinge, das ein gewieftes Spiel mit dem Abwesenden treibt, ohne Schauspieler, aber von enormer suggestiver Kraft. Die vermeintlich biedermeierliche Dichtung Adalbert Stifter spielt insofern eine Rolle, als eine Passage aus der "Mappe meines Urgroßvaters" eingelesen wird. Vor allem aber ist Stifter der geistige Mentor dieser Theaterinstallation: Seine minutiösen Naturbeschreibungen, die fast mystischen Versenkungseinübungen in das Reich der Dinge transformiert Goebbels in eine hoch verdichtete Bild- und Tonsprache, mit der er die Sphäre des Unsicht- und Unhörbaren auslotet."

"So kühn war selbst Heiner Goebbels, Deutschlands unkonventionellster Theatermacher, bisher noch nie!" befindet Jörg Königsdorf in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2007), schränkt dann aber ein: "Eine imposante Materialcollage, die freilich eher verkopft wirkt, als einen Freiraum sinnlicher Anschauung zu eröffnen."

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2007) hat Martin Wilkening sich der epischen Weite dieses Abends hingegeben. "Siebzig Minuten dauert dieser Prozess, und diese weise Beschränkung hilft, einen Beziehungszauber zu entfalten, der die Schönheit und den Eigenwert der einzelnen erzählerischen Elemente ausstellt. Da wirkt Goebbels Ästhetik geradezu klassischem Kompositionsdenken verpflichtet, und man spürt nur hier, in dieser Art von Kombinatorik, dass dieses geamtkunstwerkelnde Theater von der Musik her gedacht ist, einer Musik, die sich ansonsten mit sparsamen Gesten einfügt in die hierarchiefreie Ordnung dieser Musiktheaterwelt."

"Goebbels hat da viel riskiert. Er hat Stifter nicht zerlegt, er kommentiert ihn klanglich kaum, die paar Laute, die man hört, wirken eher, als nähmen die Geräte diese intensiven Sätze zur Kenntnis", schreibt Volker Hagedorn im Berliner Tagesspiegel (7.10.2007). "Es ist ja auch kein Werk, das hier entsteht, sondern ein Raum, in dem man Ruhe und Weite findet und wunderbare Bilder, Lichtkissen etwa, die durchs Wasser der Bassins schweben. Über sie gleitet die Klavierfestung nach vorn und steigert sich in ein rasendes, boogieähnliches Tastengewitter. Es ist, als wolle Goebbels nach so viel Meditation auch mal Spaß und Tempo haben. Wer darüber hinaus auch noch Sinn sucht, muss ihn sich schon selbst erdenken."

Hans-Jürgen Linke
liest in der Frankfurter Rundschau (15.9.2007), anlässlich der Uraufführung in Lausanne, bereits Adalbert Stifters dingorientierte Naturbeobachtung als Symptom des Verlusts, weshalb ihm Heiner Goebbels' Umsetzung umso logischer erscheint. Auch in Goebbels' Stück werde der Verlust thematisiert, indem Artefakte visuell und akustisch zu einer Natur-Maschine arrangiert würden. "Das Stifter/Goebbels'sche Maschinen-Installations-Theater nötigt durch unbeirrbare Entschleunigung zu ruhiger, staunender Wahrnehmung und beschäftigt durch die Skurrilität und suggestive Klarheit seines Eigenlebens, das sich nicht zuletzt der verspielten Anwendung zeitgenössischer Technik verdankt. Eine geschlossene Mannschaftsleistung, die eine ambivalente Menschheitsleistung reflektiert."

 

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