Der Subtext der Macht

von Esther Boldt

Mannheim, 5. Oktober 2007. Die Stoffsuchmaschine Dramaturgie läuft auf Hochtouren: Hierzulande ist der gleichnamige Film noch nicht mal im Kino angelaufen, schon wird Lars von Triers "Der Boss vom Ganzen" im Theater uraufgeführt. Im Nationaltheater Mannheim nimmt sich die junge, vergangenes Jahr vom Schauspiel Frankfurt gekommene Regisseurin Christiane J. Schneider des Textes an.

Während sich von Triers Film "Dogville" vor vier Jahren inhaltlich wie formal bei Brechts Epischem Theater bediente, greift der "Boss" auf Stanislawskis Schauspielmodell der Einfühlung in die Rolle zurück, und bühnentauglich ist der Stoff allemal. In der Komödie wird ein Schauspieler als fiktiver Boss in eine kleine IT-Firma eingeschleust, eine raffinierte feindliche Übernahme der Wirtschaftswelt durch das Theater. Ein Strohmann, der jedoch plötzlich die Macht beansprucht, die ihm zuvor nur formal zugesprochen wurde. Als es um die Frage der Verantwortung geht, verweist jedoch auch der Stellvertreter auf seinen Stellvertreter und der Schauspieler versteckt sich hinter seiner Figur, eben jenem "Boss vom Ganzen".

Ein Strohmann fürs Unpopuläre

In Mannheim hat Bühnenbildnerin Sandra Meurer das Geschehen in einem 90er-Jahre-Interieur angesiedelt, eine graue Fassade mit Fenstern und Treppen deutet Büroräume an, im Vordergrund thront ein riesiger, schwarzer Konferenztisch. Auf dem Tisch probt Kristoffer (Michael Fuchs) seine ersten Sätze, dann huscht Ravn im gelben Hawaiihemd herein und die Verhandlung beginnt. Obwohl Ravn sich nicht zum Chef geboren fühlt, gibt er in Verhandlungen einen energischen Partner ab. Nur seinen Mitarbeitern gegenüber gebärdet er sich onkelhaft gutmütig. Für unpopuläre Entscheidungen und andere Fälle höherer Gewalt erfand er deshalb als Sündenbock den "Boss vom Ganzen". Weil Ravn jetzt aber die Firma verkaufen will und dafür eines leibhaftigen Boss' bedarf, heuert den Schauspieler Kristoffer an.

Ein Phantom materialisiert sich

Kristoffer bleibt nur, dem nebulösen Phantasma des Bosses, das zehn Jahre lang durch die Firma waberte, nachzukommen. Lasziv startet Lise (Martina Schütze) Verführungsversuche, während Heidi (Katrin Grumeth) nah am Wasser gebaut hat, der cholerische Gorm (Roman S. Pauls) den Boss erstmal verprügelt und der genialische Nerd Nalle (Mats Reinhardt) sich beim ersten lauten Ton mimosenhaft zusammenrollt. Diese Gefolgschaft ist zwar wirklich liebreizend, doch bleibt sie insgesamt zu possierlich, um wirklich das Interesse zu wecken. In Schneiders Inszenierung dient sie zudem nur als Staffage, als sozialer Ballast für den moralischen Unterton.

Denn Kristoffer, der im "Boss" die Rolle seines Lebens wittert, widerstrebt der Verkauf, mit dem die vier Senioren arbeitslos würden. "Meine Figur spielt mit mir!" So sind die witzigsten Szenen jene am Konferenztisch, wenn die Isländer einmarschieren, die die Firma kaufen wollen, und Kristoffers Unberechenbarkeit immer neue Blüten treibt.

Die Moral von der Geschicht' liegt unverborgen

Michael Fuchs spielt den spielenden Schauspieler als großmäulige, doch gern auch feinsinnige Rampensau, die beim Finale leider zu viele Kapriolen schlägt: Da hat die Figur die Macht erlangt, die sie zuvor nur auf dem Papier besaß. Und Fuchs wirft sich ins Zeug und die Arme in die Luft, guckt dramatisch und ringt bis zum Ermüden mit seinem fiktiven Widersacher. Da bekommt man tatsächlich Sehnsucht nach dem DOGMA, das da heißt: "Mein höchstes Ziel ist es, meinen Figuren und Szenen die Wahrheit abzuringen."

À propos Wahrheit. Einmal stellt Kristoffer an Ravn die Frage: "Was ist mein Subtext?" Dabei liegt der fast unverborgen dicht unter der Oberfläche. Es ist nämlich die Frage nach der Macht und wer sie innehat, die Frage nach Entscheidungsgewalt und Verantwortung und wie diese durch Konventionen und Verabredungen vergeben werden. Und die Frage nach der Gefolgschaft, die die vier Angestellten nur allzu gerne leisten. Den Ernst und die Wahrheit, die dem innewohnt, hätte man gern auf der Bühne gesehen – im teilweise hochkomischen, doch harmlosen Spiel gehen diese Unter- oder Obertöne leider flöten. Für ein hoffentlich tieferes Schürfen im Subtext warten wir also auf den Film. Oder auf die nächste Premiere.

 

Der Boss vom Ganzen / The Boss of it All
von Lars von Trier Deutsch von Maja Zade
Regie: Christiane J. Schneider; Bühne: Sandra Meurer; Kostüme: Sabine Blickenstorfer; Licht: Nicole Berry.
Mit: Michael Fuchs, Edgar M. Böhlke, Martina Schütze, Katrin Grumeth, Mars Reinhardt, Roman S. Pauls, Almut Henkel, Jacques Malan, Peter Pearce.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (8.10.2007) ist vor allem von der Regisseurin Christiane J. Schneider sehr wenig erbaut. Trotz von Triers geschickter Verquickung von "Wirtschaftsethik, Schauspielerbefindlichkeit, Außenseiterforschung und Freakshow" sei die Aufführung kein "großer Wurf" geworden. Schneiders Arbeit sei "harmlos", "unbedarft" und "hilflos". Au weia, der Mann ist aber geladen. Und benutzt auch einen Großteil des ihm jetzt noch zur verbliebenen Platzes für eine Abrechnung mit der Regisseurin, der es angeblich so ziemlich an allem mangelt, was ihr Berufshandwerk ausmacht. Wir schweigen davon.

Die Frankfurter Rundschau (10.10.2007) entdeckt in Manheim "die Fratze des Kapitalismus". Weniger in der Brutalität mit der Lars von Triers Boss vom Ganzen seine Leute feuert,  eher "in der Neigung zur Süßlichkeit", weil "der Firmenbesitzer von ihnen auch noch geliebt werden" will. Weil bei von Trier alles so offen zutage liege, vermerkt Judith von Sternburg, wirke "Christiane J. Schneiders Inszenierung zunächst wie gehobenes Boulevard". Eine List, denn dadurch unterschätze man den Fortgang der Dinge. "Denn schließlich siegt die Sentimentalität über die Moral in einer realistischen Weise", wie sie "heutzutage tatsächlich nur noch selten vorgeführt" werde.

 

 

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