Schmeckt, aber macht nicht satt

von Matthias Schmidt

Dresden, 13. Januar 2011. Das letzte Mal, dass ich erlebt habe, wie ein Intendant vor einer Vorstellung auf die Bühne kommt und sein Publikum persönlich begrüßt und umgarnt, muss fast zehn Jahre her sein. Peter Sodann machte es regelmäßig am Neuen Theater in Halle: er verloste Karten, erzählte ein Witzchen – ein meist liebenswerter Gastgeber fürs zahlende Stadttheater-Publikum. Man mag das altmodisch finden oder gar eitel, aber es hatte was. Viele kamen auch deshalb.

Volker Metzler, nicht Intendant aber immerhin Leiter der freien Dresdner Theatergruppierung Dramaten, setzt ebenfalls auf solche Gastgeberschaft. Mit einer launigen Rede trat er vor dem "Woyzeck" an sein Publikum heran. Ein bisschen Werbung, einige wohl kalkulierte Worte über die Arbeit ohne Subventionen und also gegen den großen "Rivalen" Staatsschauspiel, sehr herzlich ("Danach gibt es Suppe - wie immer!") und auch ein bisschen larmoyant. Immerhin, die 2008 vom ehemaligen Schauspieldirektor Metzler (Halle, Theater der Jungen Generation Dresden, TIF) gegründeten "Dramaten" wollen viel: ein Gegenmodell zum ihrer Meinung nach zu starren, festgefahrenen Stadttheater und damit professionell frei sein, in jeder Hinsicht. Publikumsbindung kann dabei jedenfalls nicht schaden.

Die Unausweichlichkeit des Mordes

Metzlers Rede enthielt die Bitte an uns Medienvertreter, den zu Beginn der Inszenierung gezeigten Film nicht zu nennen – aus rechtlichen Gründen. Dann machte der Theaterleiter und Regisseur das Licht aus und den Fernseher an. Für Techniker fehlt das Geld, für die Filmlizenz offenbar ebenfalls. Ersteres hat den Charme der Armen, Letzteres leider nicht. Der gezeigte Dokumentarfilm handelte jedenfalls von einer unausweichlichen Katastrophe, unausweichlich, wie es die im "Woyzeck" irgendwie ja auch ist...

Rund 45 Minuten lang war der Film, und genauso lang danach Volker Metzlers Inszenierung des Büchner-Fragments. Er inszeniert "zeitgemäß", was programmatisch "nicht-linear", "ohne roten Faden" und dadurch "konsumierbar" bedeuten soll. Klingt irgendwie ziemlich – sagen wir gewagt, und hat, neben einigen Vor- und auch Nachteilen, mit der Abgrenzung vom Stadttheatersystem nichts zu tun. Was dabei herauskommt, ist rein äußerlich sehr sehenswertes Theater: sparsame Kulissen, zeitgemäße Kostüme. Inhaltlich entsteht eine andere als die bekannte Geschichte vom armen, leicht unterbelichteten Soldaten Woyzeck, der schließlich seine Freundin Marie ersticht.

Die Welt durchschauen, vom Schicksal erlöst werden

Es entsteht ein neues Fragment aus vielen, scheinbar wild, in Wahrheit aber doch sehr sinnstiftend durcheinander gewürfelten Szenen. Aus Wiederholungen in unterschiedlichen Ansprechhaltungen und Dialekten und szenischen Variationen. Es geht hin und her, vor und zurück. Anfangs liegt Marie abgedeckt tot auf einer Bahre, und im Handumdrehen (Decke verschieben) wird daraus eine Schlafende. Und umgekehrt. Das funktioniert toll und trifft den Kern des Stückes. Zudem machen die drei Schauspieler tatsächlich Lust auf mehr von dieser an sich seltsamen Zerhäckselung. Sie spielten fast schon zuviel, um zu zeigen, dass sie es können. Zuviel aber auch, um eine Regiehandschrift erkennen zu lassen.

Die – und ein "mehr davon" – hätte die Inszenierung allerdings nicht nur gut vertragen, sondern sogar dringend gebraucht, wenn sie das hätte erfüllen wollen, wozu sie diverse Spuren legt. Die Figuren neu zu interpretieren etwa, was Wolfgang Boos als Woyzeck und Katharina Behrens immer wieder andeuten. Franz Woyzeck als bei weitem nicht hilflos ausgelieferter Mann, sondern als fast schon arrogant souveräner Durchschauer der Welt und seiner Rolle darin. Aus seiner Devotheit blinzelt Raffinesse, aus seiner Bauernschläue scharfer Intellekt. Für Marie als an der Welt Leidende, Verzweifelte, ist der Mord schließlich mehr Erlösung als Schicksal. "Kannst du nicht sterben?", fragt Woyzeck sie am Ende wiederholt, und scheint zu meinen: ich helfe Dir! Spannend auch der Arzt (die Ärztin!), die in Woyzeck nicht nur ein Forschungsobjekt, sondern ebenso ein Lustobjekt sieht, einen gut gebauten Toyboy mit Helm am Gürtel.

Im Prinzip hält man, was man verspricht

Alle haben sie ihre Abgründe, und alle kommen sie zu kurz. Sie näher zu untersuchen hätte sich gelohnt, um der zumeist als verlogen oder zynisch wahrgenommenen Aussage "Woyzeck, der Mensch ist frei" zu einer neuen Dialektik zu verhelfen.

Mit diesem bewusst viel anreißenden und letztlich zu wenig sagenden "Woyzeck" in Rekordzeit war das nicht zu leisten. Damit stehen sich die Dramaten mit ihrer Programmatik scheinbar ein bisschen selbst im Weg. "Konsumierbarkeit" ideologisch zu verdammen ist schade, denn prinzipiell hält die Truppe, was sie verspricht. Sie macht professionell freies Theater, viel zu gut eigentlich für einen schlichten Raum im dritten Stock eines Hinterhofs in der Dresdner Neustadt.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Volker Metzler, Dramaturgie: Franziska Fuhlrott, Live-Musik: Franzi Patzig.
Mit: Wolfgang Boos, Katharina Behrens, Kathleen Gaube.

www.dramaten.de

 

Einen anderen Dresdener Woyzeck inszenierte Volker Lösch, der im Oktober 2007 mit Büchners Underdog ein Wiedersehen in der Gegenwart als Neonazi arrangierte.

 

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