Gott und die ganze Welt

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 13. Januar 2011. Da steht sie also, Judith, im blutbesudelten weißen Hemd, wie es einer Mörderin wohl zukommt. Aber sie trägt das Haupt des Holofernes im Sackerl, als ob sie gerade aus der Gemüseabteilung eines Supermarkts käme. Die Dinger sind halt praktisch, wenn man schnell was reintun muss, was tropft. Die Öko-Diskussion über die Plastiktüte bekommt eine neue Dimension. Und das Erlösungswerk der Judith ebenfalls. Sie hat sich und ihren Körper hingegeben. Der schier unbezwingbare Feldherr Holofernes hat die als letzte widerständische und gottgläubige Stadt Betulia belagert. Judith hat sich ihm angedient, mit ihm geschlafen und ihm das Haupt abgeschlagen. Aber jetzt erst recht zweifelt sie an sich und ihren eigenen möglicherweise gar nicht so hehren Absichten. Am göttlichen Auftrag sowieso. War nicht auch Lust (oder genauer: der aufgestaute und jetzt vehement abgearbeitete Frust einer nicht vollzogenen früheren Ehe) dabei? So weit ist's nicht her mit der Selbst-"Aufopferung".

Gott ist jedenfalls unendlich weit weg – er war es schon 1840, als der junge Hebbel sein erstes Drama geschrieben hat, und er ist es heute. Drum passt "Judith" wunderbar in die Jetztzeit. Gott und die Welt, die Werte und ihre Spielregeln – spirituell und gendertechnisch: Das lässt sich an diesem Text ganz vorzüglich durchdeklinieren. Elmar Goerden hat seine eigene Textfassung geschrieben. Ganz originaler Hebbel sind bloß die Regieanweisungen, die pingelig genau vorgelesen werden von einer bieder wirkenden Männerstimme aus dem Off. So wissen wir, was wir uns theoretisch vorzustellen haben vor dem skulptural wirkenden Bühnenbild aus hohen, weißen Lamellen, das tunlichst jedes örtliche Dingfest-Machen vermeidet. "Judith" ist ein Gedanken-Drama.

Obrigkeitsklagen bitte nur in slawischen Sprachen

Oder auch, wie hier in Graz, über weite Strecken ein Gedanken-Lustspiel. Gleich am Beginn haben wir den vierschrötigen Holofernes (Felix Vörtler) als einen Grand Guignol der männlichen Kraft kennen gelernt. "Baal war gestern", sagt er einmal (heute ist Nebukadnezar) und der hemdsärmelige Kriegsrecke lässt uns aufs Anschaulichste wissen, dass es gar nicht so leicht ist, an einen Gott zu glauben, wenn man Volk um Volk unterwirft, Altar um Altar umstößt und Priester um Priester morden lässt. Götter sind ziemlich zwergenhaft gegenüber einem solchen Berserker der Virilität. Und doch denkt dieser Über-Feldherr über einen Über-Gott nach!

Die Figur des Achior hat es dem Regisseur angetan und er hat sie gegenüber dem Hebbel'schen Original stark aufgewertet: Stefan Suske darf aus diesem Herrn im Anzug einen devoten Ja-Sager machen, der es dem Holofernes auch mit seiner Zustimmung nie recht machen kann, eine Art Hofnarr, das Verbindungsglied zum Volk. Einer, der Volkes Stimme im Wortsinn übersetzt (wer die Obrigkeit und die Situation anklagt, tut's in slawischen Sprachen - man ist multiethnisch unterwegs).

judith_verena_lercher_graz
"Judith" in Graz © Peter Manninger

Accessoire: Staubsauger

Auch Judith hat sozusagen ein volkstümliches Alter Ego zur Seite, ihre kleine Schwester (bei Hebbel: Amme) Mirza. Ihr gibt Pia Luise Händler den Charme eines handfesten, aber mit beiden Beinen im Leben stehenden Dummerchens. Der Staubsauger ist ihr Accessoire. Mirza wäre gefeit vor jeder ominösen göttlichen Berufung, vor jedem heroischen Rettungswerk. Sie käme nicht auf Selbst-Hingabe, um die Stadt, das Volk zu retten.

Verena Lercher ist Judith, eine kantige, hagere Erscheinung. Diese Judith reflektiert viel und sie münzt ihre innere Spannung (da gibt es viel aufzuarbeiten aus einer früheren, sexuell unerfüllten Beziehung) um auf ein größeres Ziel. Ein solches täte ihr die eitle und auch recht mit sich selbst beschäftigte Männerwelt rundum nicht zutrauen, aber die Herren bereiten ihr auch keine Hindernisse. Im Dialog mit Holofernes (wenn beider Gottes- und Menschenbild noch einmal verglichen wird) läuft Judith zur Vollform auf, und der Kraftprotz hat allen Grund, sich zu wundern.

Grund-Nervosität und Überschwang

Ein großer Dialog in einer Aufführung, die am Premierenabend leicht irritiert wirkte von einer gewissen Grund-Nervosität. Auch kleinere Versprecher nagen an der Textfassung von Elmar Goerden, die davon lebt, dass Hebbels Formulierungen zeitgeistig liquid verbrämt, konterkariert, ironisiert werden. Das ist sprachlich (und auch in den Kostümen) ganz heutig, unprätentiös, erfrischend.

In Hebbels Stück steckt viel Überschwang, der Dichter war nicht gefeit, die ganze Welt in möglichst vielen Facetten erklären zu wollen. Diese Eigenheit behält Elmar Goerden bei und er macht es damit sich, seinen Schauspielern und seinem Publikum in den zwei pausenlosen Stunden nicht ganz leicht: Er spitzt die Dinge inhaltlich nicht zu, er engt das Thema nicht ein. Religionskritik, starke Männer, eine starke (aber gar nicht so selbstsichere) Frau: Es geht um Gott und die (ganze) Welt.

 

Judith
von Friedrich Hebbel, Textfassung Elmar Goerden
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Dramaturgie: Regina Guhl.
Mit: Verena Lercher, Felix Vörtler, Pia Luise Händler, Stefan Suske.

www.buehnen-graz.com/schauspielhaus

 

Mehr zu Hebbels Judith? 2009 kombinierte Sebastian Nübling bei den Salzburger Festspielen Hebbel mit Vivaldi, 2008 spürte Volker Schmalöer in Kassel Judith zwischen PET-Flaschen nach.


Kritikenrundschau

Begeistert zeigt sich Beate Frakele im Standard (15./16.1.2011) davon, wie Graz "den norddeutschen Dramatiker Friedrich Hebbel entdeckt". In seiner "Judith"-Neubearbeitung habe Regisseur Elmar Goerden "den Text verdichtet und aktualisiert. Er reißt den Kern aus Hebbels Drama und schleudert ihn auf das Proszenium, wo ihn ein kleines Team von Akteuren auf engstem Raum zu einem scharfkantigen Stein schleift." Fesselnd sei das Ergebnis: "Hebbels Prosa verschmilzt gekonnt mit Goerdens Formulierungen. Lakonisch und schlagfertig entlocken sie dem Publikum verblüfftes Lachen."

Verhaltener urteilt Werner Krause in der Kleine Zeitung (15.1.2011): "Elmar Goerden setzt in seiner eigens für Graz geschaffenen Version des Hebbel-Erstlings alles daran, das Stück mit seinen alttestamentarischen Wurzeln, das sich trotz seiner sprachlichen Wucht einen Ehrenplatz im Theatermuseum längst verdient hat, gründlich zu entstauben." Wenn es vom "Erhabenen zum Lächerlichen" in Hebbels Stück ein "Raubkatzensprung" weit sei, so habe sich Goerden "eher für ein Sprüngerl" entschieden. "Er kürzte das Werk rigoros, holt es auch kostümmäßig in die Gegenwart, kleistert ironische Texteinschübe dran und wartet mit einem neuen Schluss auf." Komplett schlüssig findet der Kritiker diesen "Versuch, den Hebbel ziemlich umzulegen, in Richtung Neuzeit" nicht.

 

mehr nachtkritiken