Lebensgier im Synthie-Swing

von Georg Kasch

Berlin, 16. Januar 2011. Am Ende, wenn sich Nora und Torvald Helmer im Schneetreiben anschreien und jeder den anderen verlassen will, stehen ihre zwei Kids still da und schauen ihnen zu. Dann wenden sich die lieben Kleinen um und versuchen, diesen Dialog lakonisch zu Ende zu führen. Er geht in – durchaus reizenden, aber wahrscheinlich unfreiwilligen – Lachanfällen unter. Was man daraus lernen kann? Kinder auf der Bühne, zumal mit Sprechtext, sind eine unsichere Bank. Und ja – das Treiben der Eltern wäre schon saukomisch, wenn's nicht so traurig wäre.

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Drehwand, Schatten, Hilke Altefrohne
© Bettina Stöß

Es wirkt, als wolle Jorinde Dröse in ihrer Inszenierung von Henrik Ibsens "Nora oder Ein Puppenheim" am Maxim Gorki Theater ihrer Scheidungskindergeneration ein Denkmal setzen. Helmers leben in den großgemusterten 70ern, als es zu Weihnachten noch Schreibmaschinen gab statt iPads. Dass sie sich erst hocharbeiten, springt einen aus Susanne Schuboths Ausstattung an: Ziemlich kahl und unbehaust wirkt die Bühne, auf der nur wenige Stühle stehen, ein Aschenbecher und ein Kühlschrank, der sich als selbstgebastelte musikalische Minibar entpuppt. Hier trägt Torvald geschmacklose Pullover von der Stange auf, hier wird gepafft, als könne man so seine Probleme in die Luft jagen.

Mit festen Prinzipen und Wohlstandsbauch

Es knackt im Getriebe dieser Ehe, sagt die Tonspur, und aus heutiger Sicht geht es natürlich überhaupt nicht, wie Peter Kurths Torvald mit Wohlstandsbauch und feucht zurückgekämmtem Haar seine Frau zwischen jovialen Späßchen mit Überwachungsfragen beschießt. Hilke Altefrohnes wandelndes Shoppingopfer Nora ist nicht besser: Für die existentiellen Probleme ihrer Jugendfreundin Kristine hat sie keinen Geist, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, sich an ihrem Kleinfamilienglück zu berauschen, und als Krogstad sie um ihre Hilfe bittet, probiert sie die Arroganz der Macht an wie ein neues Kleid. Eigentlich würden Nora und Torvald, die so federleicht miteinander tanzen können, ziemlich gut zueinander passen – wenn Torvald nicht so ein Prinzipienreiter und Nora nicht gar so romantisch wäre.

Grundsympathisch wirkt hier ohnehin niemand: Anja Schneiders verschrobene Kristine nicht, die nervös ihre Pulsgelenke aneinander reibt, wegguckt, wenn man mit ihr redet, dann plötzlich Nora kumpelhaft auf den Arm haut und sich am Ende mit Jeanne-d'Arc-Blick zum Glück zwingt. Auch Niels Rank nicht, der entschlussarme, auf sein Leiden fixierte Hausfreund, den Andreas Leupold zärtlich hintupft als großen Sehnsüchtigen, aber auch als ziemlich weinerlichen Schmerzensmann. Und Krogstad erst recht nicht, der zwar bei Gunnar Teuber zunächst als Häufchen Elend aufkreuzt, sein Kind an der Hand, das hinter der Glastür warten muss (und so eine Außenseiterbiografie spiegelt, die der Vater schon in Gesicht und Haltung trägt), aber da schon mit raubtierhafter Zähigkeit sein "Ich will nach oben!" in sich trägt.

Ihnen allen steckt eine krampfhafte Lebensgier in den Gliedern. Oft prallen sie saukomisch aufeinander, und einmal, da ist Nora schon ganz durch den Wind, weil Krogstads Brief bereits im Kasten steckt und es nur noch eine Frage von Stunden ist, bis Torvald ihn lesen wird, öffnet einer den Kühlschrank, fluffigster Synthie-Swing geht ihnen in die Beine, und dann albern die vier Großen so kindlich herum, als stünden sie in einer WG-Küche.

An der unteren Schwelle zur Mittelklasse

Doch solche Utopie-Idyllen währen nicht lang, weil Dröse die Suspense-Schlinge enger zieht und gewaltige Bilder komponiert: Da kämpft Hilke Altefrohne in all ihrer schmalen Zerbrechlichkeit mit der Drehwand, treibt sie an, schlägt sie ihrem Mann vor den Kopf, eine Getriebene, deren Überlebenskräfte erwachen. Überhaupt Nora: Wie sie da ins Publikum starrt, mit diesem "Ich weiß nicht was aber irgendetwas passiert gleich"-Blick, wie ihr Mund dabei mahlt, kaum merklich, aber beständig, wie sie den Kopf ruckartig bewegt, Torvalds Blicke sucht und ihnen doch ausweicht, das geht unter die Haut.

In der letzten halben der insgesamt zwei Stunden verliert Dröse diesen genauen, auch schrägen Blick auf die Figuren. Es entspinnt sich der übliche Ehekrach: verständnisloser Macho hier, resolute Zukunfts-Emanze da, und ob die Komik noch freiwillig ist – wer weiß das? Dennoch lohnt sich diese "Nora" mit der angenehm angerauten Oberfläche, die den gierigen Existenzkampf an der unteren Schwelle zur Mittelklasse zeigt. Schon allein wegen des Gorki-Ensembles – und der giggelnden Scheidungskinder.

 

Nora oder Ein Puppenheim
von Henrik Ibsen
Übersetzung und Bearbeitung von Gottfried Greiffenhagen und Daniel Karasek; Fassung des MGT Berlin
Regie: Jorinde Dröse, Ausstattung: Susanne Schuboth, Musik: Roderik Vanderstraeten, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Hilke Altefrohne, Peter Kurth, Andreas Leupold, Anja Schneider, Gunnar Teuber; Kinderdarsteller: Ole Köhler, Selma Köhler, Josie Lehmann.

www.gorki.de

 

Mehr zu Jorinde Dröse gibt es im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Im Foyer danach wurde vor allem über das eine geredet. Die lachenden Kinder", so Andreas Schäfer im Tagesspiegel (18.1.2011). Denn Jorinde Dröse mache aus Noras Akt der Selbstbefreiung einen ganz normal schäbigen Scheidungskrieg. Und während die beiden Elternteile "in einem existentialistischen Schneegestöber Wer-als-erster-geht-hat-Gewonnen spielen, bleiben die Kinder übrig. Sitzen verlassen auf einer Stufe, schon das ist ein trauriges Bild". Noch trauriger werde es, als die beiden anheben, die letzten Sätze, die Ibsen ihren Eltern zugedacht hatte ("darf ich dich wenigstens anrufen?" usw.) zu sprechen. "Aber sie müssen unfreiwillig immer wieder lachen – und ernten heftigen Beifall des Mitgefühls." Das Gute an dem Abend sei, dass Dröse ohne Brimborium erzähle, gewissermaßen mit der Nüchternheit der altrosa tapezierten Sperrholzbude. Klar und nackt wirke auch das Spiel der Schauspieler. "Aber die Figuren können nicht nur zwei Stunden frisch voreinander stehen, sie müssen sich auch bewegen. Und das tun sie auf eine überkandidelte, übertrieben alberne Weise. Es wird getanzt und gekichert, was wieder nur vom Ende her verständlich wird."

"Peter Kurth stampft. Er brüllt. Seine Gesichtsfarbe wechselt ins Dunkelrot", daran werden sich künftige Wutspieler messen lassen müssen, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (18.1.2011), der "Gefühlsverkrümmte" sah, "abgehetzt vom Dauerlauf nach Lebensglück", "Wurzellose", "Lebenswindgebeutelte". Dröse schere sich nicht um die Frage nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Emanzipation, Freiheit. "Sie will wissen, wie gerechtes, glückliches, sozial verantwortliches Dasein funktioniert - und plädiert für Wahrhaftigkeit." Und werfe neben den Seelen- und Selbstfindungsfragen noch jene nach dem Geld auf, sie setze die Ökonomie ins Zentrum. "So wird aus 'Nora', dem Emanzipationsdrama, ein Schulden-, Geld- und Bankenstück. Es ist fast, als habe sie 'Nora' durch die Brille von Elfriede Jelineks Schulden-, Geld- und Bankenstück 'Die Kontrakte des Kaufmanns' gelesen. Jelinek hat ein bös komisches, scharf anklagendes Drama über die Ökonomisierung aller Gefühle und Gedanken geschrieben; Dröse buchstabiert aus, was das im Ehe- und Angestelltenalltag, für Scheidungskinder und Geldgläubige bedeutet: Es ist die Hölle."

"Es hängt ein Schatten über dieser 'Nora', und der heißt 'Nora"", schreibt Elmar Krakeler in der Welt (18.1.2011), der daran erinnert, "dass Thomas Ostermeier vor acht Jahren den Text an der Schaubühne ins neue Jahrhundert rettete, wie selten ein Text in ein neues Jahrhundert gerettet wurde". Mehrere Finanzkollapse später erzähle Jorinde Dröse eine ganz andere Geschichte, aus einem ganz anderen Land. "Eine enge Kammer ist dieses Land, in der alles auf eine Drehtür hin flieht, die den Raum teilt (...) Die Perspektiven stimmen nicht in diesem Raum, alles ist schief, alles muss schief laufen. Daraus hätte ja was werden können." Nur leider lauft dann nicht nur Noras Ehe schief. "Sondern gleich auch das ganze Stück", so Kraleler. Man habe es relativ schnell begriffen, was hier vorgehen soll. Fazit: "Es wird, wie in mancher modernen Ehe, viel geredet, aber wenig entschieden - zum Beispiel, ob man nun in einem Drama oder in einer Klamotte spielt. Am Ende lachen die Kinder. Und man ist sehr einverstanden damit.


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