Stilisiertes im sentimentalen Sektor

von Petra Kohse

Berlin, 6. Oktober 2007. Glühende Zigarettenspitzen im Dunkeln. Melancholische Klavierakkorde im Rhythmus langsamer Schritte, mal zart im Hintergrund, mal schicksalhaft hochgezogen. Menschen, die in geduckter Haltung an die Rampe trotten und dort ins Publikum starren oder blutige Hände vorzeigen. Und ein Einheitsbühnenbild, das sofort Beklemmungen auslöst. Sie fühlen Mitleid und sind bewegt? Vorsicht: Dies ist Theater im sentimentalen Sektor.

Michael Thalheimer hat im Deutschen Theater Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" inszeniert. Das hat er schön gemacht. In eineinhalb dringlichen Stunden formiert sich ein sinnfälliges Bild nach dem anderen, wechselt Grinsekomisches aus dem Komödienstrang mit Beklemmendem aus der Tragödie und kommt einem Trauriges aus dem eigenen Leben in den Sinn.

Thalheimers Bühnen-Feng-Shui

Der 42-jährige Thalheimer ist ein Könner und ein Poet. Kein Gewusel, kein Geschwafel und nur das zu sehen, was man sehen muss. Es ist eine Art Bühnen-Feng-Shui, das er betreibt. Man setzt sich hin und vertut keine Zeit, weil man sofort anfängt, aufgeräumte Gefühle zu haben bei ihm. Aber weil man gar nicht wegen der gezeigten Handlung anfängt zu fühlen, sondern schon vorher, wegen der Musik oder angesichts des Bühnenbildes, und weil man auch ungefähr immer das gleiche fühlt (Melancholie, Verlorenheit), muss man aufpassen: Denn wo es vor allem um Grundgefühle geht, ist der Horizont oft schwer zu erkennen.

Hauptmanns Berliner Tragikomödie von 1911 war ihrer Zeit voraus. Bei der Uraufführung taten sich selbst Wegbegleiter (wie Alfred Kerr) schwer mit dem Lob. Sie sahen nur die Mutter-Tragödie der Frau Maurerpolier John, die ein eigenes Kind verloren hat, sich von einer ungewollt schwangeren Polin ein neues beschafft und dieser, als sie das Kind wiederhaben will, ihren kriminellen Bruder Bruno auf den Hals hetzt.

Und sie sahen die Komödie um den schmierigen Theaterdirektor Hassenreuter, der die Naturalismus-Vorstellungen des jungen Spitta als Angriff gegen seine eigene, klassizistische Ästhetik zunächst rundweg ablehnt, sich die entsprechenden Schlagworte im Angesicht des Schicksals seiner Putzfrau John aber eilfertig aneignet. Das Sozialgefüge in der Berliner Mietskaserne und besonders die Gestaltung des Maurerpoliers, der vom Aufstieg ins Kleinbürgertum träumt und sich zum Handlanger der Obrigkeit macht, wurden erst Jahre später als brisant verstanden.

Höhlengang nach unten

"Die Ratten" sind auch heute noch ein drängendes Stück. Die Nöte ungewollt oder gar nicht schwangerer Frauen sind komplexer und zum Teil andere geworden, aber noch genau so tragödientauglich. Die alternde Henriette John aus dem Stück braucht nicht nur aus emotionalen, sondern auch aus Versorgungsgründen ein Kind: ihr Mann, der in Altona arbeitet, droht nach Amerika auszuwandern. Mit der Kindsbeschaffung versucht sie, ihn zu binden und ihre Existenz zu retten. Und vernichtet sie doch, weil sie sich der Hilfe ihres kriminellen Bruders bedient, den ihr Mann als Verkörperung seiner eigenen Unterschichtsherkunft mehr hasst als er seine Frau liebt. Am Ende liegt die John mit ausgebreiteten Armen auf der Straße.

Bei Thalheimer können die Figuren nicht aufrecht stehen. Die Panoramabühne von Olaf Altmann ist ein Coup: ein kaum mehr als schulterhoher Schlitz zwischen zwei massiven Holzplatten, von denen sich die untere als Schräge bis an die Rampe fortsetzt. Ein Höhlengang, ein Spalt, eine Nische, von wo aus es nur nach unten geht.

Es wird, vor allem im Tragödienteil, stilisiert gespielt, mit der vorgesehenen Mundart als zusätzlicher Verfremdung, äußerlich holzschnitthaft reduziert, aber mit viel innerem Aufruhr. Constanze Becker als Frau John und Regine Zimmermann als Paulina Piperkarcka sind glutäugig (Zimmermann) bzw. desolat (Becker) in die Ferne starrende Kraftwerke. Auch in Niklas Kohrt als Bruder und Sven Lehmann als John brodelt es verdeckt, und in isolierten Momenten kocht es sogar über. Starke, aber kaum aufeinander bezogene Leistungen, gerahmt von der verhaltenen Klamottenhaftigkeit Horst Lebinskys als Hassenreuter und Mathis Reinhardts als Spitta.

Der Regisseur verbeugt sich im guten Anzug

Die Musik (Bert Wrede) ist die ganze Zeit präsent und dräut und treibt. Was wäre die Inszenierung ohne Musik? Die Musik macht Stimmung für die Ausweglosigkeit von Anfang an, der Vollzug wird nur bebildert. Die Schauspieler stehen in Gruppen oder allein, kauern mal oder liegen gar, jede Szene ein geradezu archetypisches Arrangement.

Und das, wahrscheinlich, ist das Falsche daran: Dass die soziale Tragödie als Katastrophe beschworen wird. Als unabwendbar, naturgemäß. Dabei gibt es so viele Kommentarmöglichkeiten und unterlassene Hilfeleistungen, von heute aus gesehen. Aber Thalheimer ignoriert die Optionen in historisierender Absicht. Was bleibt, ist der Fall einer Frau, die zugrunde geht, weil sie sich nimmt, was ihr nicht gehört. Das Publikum ist bewegt und begeistert, der Regisseur verbeugt sich in einem guten Anzug. Er duckt sich noch mehr als die Schauspieler unter der Deckenplatte und freut sich sichtbar über den Erfolg.

 

Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede. Mit: Constanze Becker, Michael Benthien, Henrike Jörissen, Kathrin Klein, Niklas Kohrt, Horst Lebinsky, Sven Lehmann, Lotte Ohm, Mathis Reinhardt, Barbara Schnitzler, Isabel Schosnig, Regine Zimmermann.

www.deutschestheater.de

Kritikenrundschau

Allein Olaf Altmanns Architektur wäre aus Sicht von Reinhard Wengierek in der Welt (8.10.2007) "wieder ein Bühnenbild des Jahres". Aber auch die Schauspieler geben Anlass zur Begeisterung: "Da ducken sich lauter Kraftpakete sprachlich-gestischer Energie an der düster dräuenden Absturzrampe. Da bekommt das Elend im Hinterhof-Milljöh unversehens archetypische Kontur. Da erwächst aus dem lokalen, teils auch angestrengten Icke-Dette-Dialekt geradezu gespenstisch ein menschheitlicher Klageton", weshalb Michael Thalheimers Inszenierung für Wengiereck insgesamt ein Höhepunkt seiner "ingeniös redundanzfreien Auf-den-Punkt-Bringe-Poesie" ist. "Sie ist so karg wie stark. So fantastisch wie lakonisch. So gedankenschwer und universal wie leicht und konkret. Ein erhellendes Denk-, ein grandioses Mitfühlstück."

Selbst Gerhard Stadelmaier überschlägt sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2007) "Dies ungefähr ist die wuchtigste, die pathetischste (das heißt: leidenssatteste), grausamste, berührendste Version des Stücks. Unendlich lange nicht mehr gesehen.  ... Der Regisseur Michael Thalheimer, der als Skeletteur von Stücken begonnen hat, der ihnen nur die Knochen (ohne innere Organe) ließ, fängt seit einiger Zeit an, manche von ihnen mitten ins Herz zu treffen." Auch Olaf Altmanns Bühne wird gefeiert, weil sie "lauter Gespenster mit Genickstarre. Gekrümmte, Gepresste" produziert. "Aber nicht manieriert, ausgestellt, denunziert. Sondern in tiefer Not. Aus der heraus spielen sie. Gestalten der Wirklichkeit, die völlig Unwirkliches an und mit sich erfahren, das ihnen Seele, Hirn und Herz zerreißt."

Auch Andreas Schäfer zeigt sich im Berliner Tagesspiegel (8.10.2007) hochzufrieden, hat ihm der fühllose Sezierer Michael Thalheimer doch stoisch das Herz von Hauptmanns Drama serviert. Trotzdem "das Gelingen dieses beklemmenden Abends gehört, neben dem brillierenden Ensemble, zum großen Teil dem Bühnenbildner Olaf Altmann. Seine beiden monumentalen Holzflächen bilden einen Bühnenschlitz von geschätzter Einmeterfünfzig-Höhe, so dass die Schauspieler sich ausschließlich gebückt, mit abgeknicktem Kopf oder angewinkelten Beinen, also nur mit Qualen bewegen können und sich mit Betreten des Raumes automatisch in verrenkte, expressionistisch anmutende Elendsskulpturen verwandeln."

"Bühnenbildner Olaf Altmann hat einen atemberaubenden Extremraum gebaut. Der Einfall ist so großartig wie der ganze Theaterabend", findet auch Katja Oskamp in der Berliner Zeitung (8.10.2007) "In dem Schlitz stecken die Geknickten fest, am äußersten Rand des Schraubstocks. Stehen sie frontal, stellt sich eine optische Täuschung ein. Die dritte Dimension bleibt aus. Mit zu kurzen Beinen, zu langen Armen, zu großen Köpfen werden sie zu verzerrten Flächen ihrer selbst. Diesen Männern und Frauen fehlt die Perspektive. Ein erregend spannender Theaterabend."

Auch Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (9.10.2007) stimmt zu: "Jede Szene zielt direkt auf den Kern." Zwar störe der "unangenehm süßliche Soundtrack", der den Abend immer wieder mit "wehem Sentiment kontaminiert", aber trotzdem trumpfe die Inszenierung keineswegs auf. Constanze Becker und Sven Lehmann hätten hier "einen großen Abend", wegen ihnen sehe man der Aufführung "hellwach" zu. Und zur Bühne: "Das Gespenstische an dieser Bühne aus dem Menschenversuchslabor ist, dass man sich beim Zusehen an sie gewöhnt. Was erst grotesk wirkt, wird zu einer natürlichen Umgebung für die Berliner Elendsproletarier und abgestürzten Kleinbürger des Stücks."

Auch Katrin Bettina Müller teilt die allgemeine Begeisterung über die Thalheimerschen Ratten. In der taz (10.10.2007) schreibt sie, Thalheimer habe das Stück nicht in die Gegenwart versetzt, "aber für viele Bezüge in die Gegenwart geöffnet". Der heutige "extrem schizophrene", von der gesellschaftlichen Position abhängige Umgang mit dem Kinderwunsch, die perverse Ausstellung von Mutterglück, Kindsmorde als Skandalgeschichten – mit den Ratten könne man nicht erklären, was da heute schief läuft, man könne aber "den Kern der Bedürfnisse und Konflikte herausschälen, um die es dabei eigentlich gehen sollte". Und das genau leiste die Inszenierung.

 

Kommentare  
zu Hauptmann/ Thalheimers Ratten
Gesprächsfetzen der Premierenfeier:
"Klasse Theaterabend, aber es hat Thalheimer regiert, also wird die Kritik sicher nicht begeistert sein..."
Antworten in toto: "Nein, dieses Mal wird die Kritik nicht negativ berichten können, ...".

Auf die Nachtkritik ist jedenfalls schon 'mal Verlass. Danke. Schade.

P.S.:
Die Schauspieler waren fast ausnahmslos gigantisch! Solche Darsteller in dieser Anzahl geballt erleben zu dürfen, ruft fast schon erstarrende Demut hervor. Ich glaube, ich werde mich noch häufiger zu den Ratten begeben... Die behaupteten harmonischen Lebensgestaltungskonzepte des Hr. Thalheimer lasse ich dafür nur allzu gerne über mich ergehen.
zum Ratten-Bühnenbild von Olaf Altmann
Schade, dass der Bühnenbildner nicht an die Zuschauer im Rang dachte...
zu Thalheimer
Mit welchem Recht wird der Kritikerin vorgeworfen, dass sie Thalheimer kritisiert, weil er Thalheimer ist?? Die Kritik ist doch begründet worden! Habe den Abend nicht gesehen, aber die mit der Hilfe stark emotionalisierenden Bühneneffekten behauptete Ausweglosigkeit der Figuren habe ich bei ihm noch jedes Mal gesehen. Die Ursache dieser Ausweglosigkeit bleibt damit natürlich im Dunkel einer quasi-mystischen, ziemlich allgemeinen Depression und genereller Lebensverzweiflung. Ziemlich schlicht wie ich finde!
zu Petra Kohses Thalheimer-Kritik
Die Kritik von Frau Kohse ist nicht so begründet, wie sie daherkommt, denn die Musik ist nicht DAS stimmungsmachende Element des Abends, im Gegenteil, sie war das einzige was (nicht nur mich) etwas genervt hat an einem sehr präzise und genau durchdachten, emotional sehr reichen, hervorragend gespielten Abend. Im Gegensatz zu Frau Kohse empfand ich die Darsteller sehr auf einander bezogen, die Figuren hatten alle Boden (oder auch Tiefe, wie immer man das nennen will), der inszenatorische Bogen beleuchtete sehr wohl die verpassten Hilfestellungen und das Wegsehen und die Oberflächlichkeit UNSERER Gefühle zu den in den Medien gerne tagelang ausgebadeten "Familientragödien". Zum Theme Kritiker empfehle ich die diesbezüglichen Sätze aus RATATOUILLE - nicht neu, aber hübsch formuliert.
zur Thalheimer-Kritik
Lieber Herr Steinebrunner, die Sucht nach dem sozusagen digitalen Urteil - Daumen rauf, Daumen runter - ist groß, und offenbar lesen Sie Frau Kohses Text als Daumen-runter-Kritik. Ich tue das nicht: Sie spricht davon, dass Thalheimer schön inszeniert habe, und ich glaube, es ist ihr ernst damit. Sie formuliert dann Einwände, die man haben kann, die etwas Grundsätzliches formulieren, die ins Herz der Theaterkunst fragen. Hier sieht sie bei Thalheimer Mängel - darüber kann man reden! Aber ein Verriss, entschuldigung, lieber Herr Steinebrunner, sieht anders aus.
Wenn Se sich übrijens noch häuf'jer zu de Ratten uffn Dachboden begeben wollen, dann bring'Se doch mal zwee Karten mehr mit - aber bitte im Parkett, Musjöh!
Zum Ausdruck Menschenpresse
die menschenpresse ist ein wort von feuilletonisten denen es noch zu gut geht. die haben kein problem als die nächste kritik. vielleicht gefällt ihnen nur das wortteil "presse". da sind sie zuhause.
Thalheimers Ratten: ein unentschiedenes Rühstück
Das Bühnenbild ist erstmal eine Wucht. Mit enormem Effekt. Der sich im Laufe des Abends langsam irgendwann verbraucht. Die eine große Setzung - krawumm. Man weiß es bald, wie die darunter gehen, und keiner stößt sich den Kopf. Ja, irgendwie stört sich keine der Figuren wirklich an diesem Ding, das sie so einengt. Als wäre es ihnen völlig selbstverständlich geworden. Das wird es auch dem Zuschauer mit der Zeit. Sven Lehmann schlägt am Ende mal dagegen - eine Ausnahme, an zentraler Stelle allerdings -, aber auch kein Loch hinein. Gegen dieses Holz gibt es kein Auflehnen.
Es scheint außerdem beinahe, als müsse hier einzig das Altmann'sche Bühnenbild für die Wahrung der strengen Thalheimer-Form herhalten, die es so gar nicht mehr gibt, sondern die nur noch - in Erinnerung an frühere Inszenierungen - behauptet wird. Denn die Spielweise ist (eben im Gegensatz zu frühem Thalheimer-Theater) vor allem eins: unentschieden. Dabei folgen die Unterschiedlichkeiten auch keinem (für mich) erkennbaren Konzept. Das Schauspiel fällt v.a. in zwei Richtungen auseinander: Auf der einen Seite Verfremdung in Sprache und Körper (am deutlichsten bei Lotte Ohm als Walburga und Henrike Jörissen als Selma), auf der anderen, hauptsächlichen Seite hemmungsloses Einfühlspiel bei den Protagonisten (vor allem Konstanze Becker, Sven Lehmann; das allerdings gekonnt, ja, sehr gekonnt, wenn Sven Lehmann sich am Ende nicht so sehr ins Gebrüll retten würde). Aber von Stilisierung ist da wirklich nichts zu sehen. Dann gibt es noch die Karikaturen (Horst Lebinsky) und was Regine Zimmermann genau macht, ist schwer zu sagen, jedenfalls ist sie schon irgendwo jenseits. Im Spiel von Becker und Lehmann wirkt noch nicht einmal mehr die ob des Bühnenbildes gekrümmte Haltung wirklich verfremdend, sondern den Figuren fast wie natürlich anverwandelt.
Was die Figuren niederdrückt: ein riesiger anonymer Block, ein Universalelend, "die Verhältnisse", "das Schicksal", ein nicht näher bestimmbares Unheil, das deshalb auch gar nicht bekämpft werden kann oder muss. Eben nicht zum Löcher-Reinschlagen. Es drückt sie alle auf gleiche Weise nieder, die doch jeweils von anderen Umständen umzingelt oder auch weniger umzingelt sind. Da kann man Petra Kohse nur Recht geben: die soziale Tragödie wird mit diesem Klotz zur unabwendbaren Katastrophe.
Auch das Publikum ist, im übertragenen Sinne, unter einen solchen Klotz gespannt. Des Zuschauers Block ist die Emotion. Per Stimmungsmache soll er ähnlich unausweichlich in den Theatersessel gedrückt werden. Dabei ist die Musik wohl nicht das einzige stimmungsmachende Element, aber sie hilft dem Einfühlungsspiel der Protagonisten doch gewaltig und ganz hollywood-like unter die Arme, noch zusätzlich draufgesetzte Stimulation der Tränendrüsen beim Zuschauer. So bleibt es unabwendbar unausweichlich ein Rührstück.
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