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In der Beratungsgewaltspirale

von Georg Petermichl

Wien, 19. Januar 2011. Die Frage "Wer bin ich?" ziert das Portal hausgemachter Identitätskrisen – das weiß jeder. Und auf der Bühne steht sie gerne am Anfang von hässlichen Szenen des Overactings. Bei Philipp Hauß – diesmal als Regisseur im Off-Theater, sonst Burgschauspieler – steht sie am Ende eines Identitätsfindungsprozesses. Das ist schlichtweg genial: Sein Abend "Überleben eines Handlungsreisenden" skizziert die Existenzkrisen von Biff Loman, der dank der Vorlage von Arthur Miller ("Tod eines Handlungsreisenden") seinen Vater und sein ideologisches Rollenmodell Willy Loman durch Freitod verloren hat. Als zeitgenössischer Vertreter proaktiver Ratlosigkeit zwingt sich Biff zu diversen Beratern, Heilern, Therapeuten und Coaches, um sein Leben in den Griff zu bekommen.

Der Formenspuk der Selbstermächtigung

Philipp Hauß teilt Biff zur Identitätssuche in vier Schauspieler (Katrin Grumeth, Gottfried Neuner, David Oberkogler, Ana Stefanovic) auf und lässt ihn seine Probleme diskutieren, andere Meinungen einholen. Der Verdacht, sein Vater habe den falschen Traum verfolgt, steht im Raum. Verwandten Träumen, zum Beispiel dem Wunsch "erfolgreich" zu sein, will Biff nur mehr mit Beratungshilfe nachgehen: Shiatsu, Fünf-Elemente-Ernährung, Bioresonanztherapie, NLP, Unternehmer-, Gründer- und Schuldnerberatung – sie alle werden auf der Bühne durchexerziert. Gesammelt impfen sie Biff ein, dass seine Ratlosigkeit von Ängsten getrieben sei. Wie man die Ängste überwinde? Indem man seine Ziele erreiche. Wie man seine Ziele erreiche? Indem man sie verfolge. Wie man sie finde? Indem man wisse, was man kann. Wie? Indem man wisse, wo sein Platz ist.

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Coaching in der Arhtur-Miller-Fortschreibung von Philipp Hauß "Überleben eines Handlungsreisenden" ©Yasmina Haddad

"Aber wie find ich das heraus? Also ich mein ... wer ich bin, um dann zu wissen, wo mein Platz ist", meint Gottfried Neuner als Biff leise, fast schüchtern. David Oberkogler gibt sich als Ansprechpartner überschleckt und unbekümmert: "Ja, entweder Sie machen einen Jakobsweg, oder Sie gehen ins Kloster, oder Sie gehen in die Gesprächstherapie, oder Sie unterhalten sich mit Freunden." Katrin Grumeth hat im parallel ablaufenden Beratungsgespräch mit Ana Stefanovic die wichtigsten Stichworte auf Englisch betont. Ansonsten bietet sie näselndes Bundesdeutsch; ihre Gestik ist ausladend. Jedes Wort ist für sie lapidar, für das Gegenüber bedeutungsschwer.

Für all das blickt Dietrich Kuhlbrodt (Jahrgang 1932) kaum mehr auf. Als großartig stummer und ewig präsenter Geist Willy Lomans hat er sich nach seiner Sterbeszene in eine Wohlfühlecke zurückgezogen, wandert nur manchmal durch das Bühnenbild und liest sonst Bücher wie Will Fergusons "Glück" oder einen Businessplan-Ratgeber. Er wartet auf das unvermeidliche Ende der Beratungsgewaltspirale, die nur in eine Gesellschaftsdiagnostik münden kann: Beratung sei eine selbst-referenzielle Übung, um Opfer von Betrügereien von ihrer Enttäuschung in die Gesellschaft abzulenken. Dann springt Kuhlbrodt auf und verpasst den vier Biffs eine väterliche Kopfnuss: "Es gibt Hoffnung, aber nicht für uns!", flötet er dabei und macht dem Formenspuk der Selbstermächtigung endgültig den Garaus.

"Antworten enden am Sockel, Fragen enden am Strick" (Michael Richter)

Das Endszenario: "Glauben Sie an die Menschen", liest man auf einem zu Boden gefallenen Blatt Papier. Kein Fragezeichen, dafür eine hellblaue Zierleiste rundherum. In unmittelbarer Nähe liegt ein handgeschriebener Papierzettel: "Karriere, die sein Vater gewünscht hat". Vier abgewetzte Bürostühle, zwei Flipcharts. Einige Kopien von Sonnenuntergängen in Palmenlandschaften – Ruhemotive. Ein paar Stricke mit Galgenknoten. Und wirklich opulent und lässig fräsen sich zwei Möbiusschleifen in den Bühnenraum und komplettieren als mannshohe Unendlichkeitssymbole die Szenerie – Biffs Seelenlandschaft, nachdem er eine Armada an Lebens- und Berufsberatern durchbraust hat (Bühne: Michael Drobnik, Bettina Kraus).

Was bleibt nun von dem Abend in der "Garage X", der im März auch im Neuen Theater München gastiert? Er ist schnell, humorvoll, intelligent und vor alle dem unglaublich aktuell: Die Schauspieler sind mit Biff Lomans Existenzproblemen in Recherche-Therapie gegangen und haben die erlebten Beratungsgespräche dramatisiert. Sie schöpfen sich in den Kapriolen ihrer Berater aus, kopieren deren gleichgültiges Berufsleben (wunderbar: Gottfried Neuner mit einer stetig beschleunigenden Unternehmensberatung) und decken damit den perfide angewandten Selbstschutz der Profis auf. Und so entsteht auf der Bühne der Wunsch nach ein wenig mehr Leben und weniger Diagnose. Man wünscht Biff eine eigene Beratungsfirma, ums der Gesellschaft heimzuzahlen.


Überleben eines Handlungsreisenden - Eine Beratung
nach Arthur Miller
Konzept: Philipp Hauß und Bettina Kraus
Inszenierung und Fassung: Philipp Hauß, Bühne: drobnik.kraus (Michael Drobnik, Bettina Kraus).
Mit: Katrin Grumeth, Gottfried Neuner, David Oberkogler, Dietrich Kuhlbrodt, Ana Stefanovic

www.garage-x.at


Mehr zu Philipp Hauß? Zuletzt sah nachtkritik.de den Burgtheaterschauspieler als Hippolytos in Matthias Hartmanns Phädra-Inszenierung sowie als Charles in Quai West (Regie: Andrea Breth). Am Berlin Maxim Gorki Theater gastierte er im April 2010 in Sebastian Baumgartens Umsetzung von Dantons Tod.

 

Kritikenrundschau

"Angesichts der Scharlatanerie", die sich bei den Coaching-Experten in Philipp Hauß' "Überleben eines Handlungsreisenden" auftut, kriegt Barbara Petsch von der Presse (21.1.2011) "Sehnsucht nach Papa Freud und seinen Jüngern". Das Ensemble gefällt ihr "sehr gut, speziell Katrin Grumeth und Dietrich Kuhlbrodt". Auch die Inszenierung sei "perfekt gemacht und amüsant". Ob sie allerdings mit Millers Drama mithalten kann? Wohl kaum. Millers Stück wirke "vielschichtiger, auch berührender als die flotte, praktikable Aufführung". Immer wenn Millers Originaltext erklingt, merke man "den Unterschied doch sehr stark". Der Abend zeige "den Menschen bereits entindividualisiert und komplett ins System integriert", die "psychischen Extravaganzen" würden von Biff "mittels Psychotrainer" ausgemerzt. "Trotzdem verschlingt ihn das System. Der überraschende Schluss offenbart diesen Subtext, der das Beste an der Produktion ist."

 

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