Wem die Essiggurken schmecken

Berlin, 20. Januar 2011. Gestern ereignete sich in der Volksbühne zu Berlin eine interessante Premiere. Gezeigt wurde Bertolt Brechts "Die Mutter" in der Regie von Silvia Rieger; sie übernahm auch die Titelrolle. Mit ihr auf der Bühne: Pascale Schiller, Harald Warmbrunn, Günter Zschäckel, Frank Büttner, Mex Schlüpfer und der junge Davide Scarano in der Rolle des Sohnes. Sie standen in Wollpullovern vor einer grauen Betonwand und sprachen Brechtsätze.

Dabei verhielten sie sich so unauffällig wie möglich und griffen gelegentlich auf die szenische Technik des Verlangsamungseffektes zurück. Wer nicht sprach, schaute aufmerksam in die Luft. Einmal wurde eine rote Fahne über die Bühne getragen. Später erklang aus den Lautsprechern Lärm, die Schauspieler verzogen keine Miene. Drei von ihnen wickelten Essiggurken aus Flugblättern und aßen sie auf. Am Ende des Stückes legte sich Silvia Rieger zu den Flugblättern auf den Boden und sprach in ihre Armbeuge.

Auf einem Zettel, der dem Zuschauer beim Erreichen des Veranstaltungsortes im 3. Stock der Volksbühne übergeben wurde, konnte man Brecht-Notizen zu der Frage "Wer ist der Chor?" lesen. Gut fünfzig Zuschauer haben diese Veranstaltung besucht. Der Intendant weilte in Zürich. Ein Volksbühnen-Dramaturg kämpfte mit dem Schlaf und erlag ihm für kurze Momente. Am Ende wurde applaudiert, aufmunternd.

(Anne Peter)

 

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Kommentare  
Blog, Rieger spielt Brecht: Rieger kann gut Brecht
Das Frau Rieger gut Brecht deklamieren kann, hat sie ja schon einst in den Iden des verregneten Agora-Sommers mit den Geschäften des Herrn Julius Cäsar bewiesen. Nur wurde da noch Seit an Seit und Hand in Hand geschritten. Hätte eigentlich besser zur Mutter gepasst. Schade.
Blog, Rieger spielt Brecht: kein Lärm, sondern Nono
Frau Peter kann zählen, bis 50; und sie kennt die Dramaturgen der Volksbühne. Sie kann rot und grün unterscheiden und kennt sich mit Gurken aus. Und neue Musik empfindet sie als Lärm. Sie kokettiert mit Ihrem Banausentum. Wir erfahren viel - zu viel- über Frau Peter und wenig zu einer radikalen Inszenierung, die Brecht nicht falsch aktualisiert. Einer Inszenierung, die wie aus einer anderen Zeit kommt. In der Verlangsamung sehen wir Menschen die sich und ihr Leben reflektieren, bis an die Grenze des Schmerzes. Wenn Mex Schlüpfer vom Streikbrecher zum Streikenden wird, wenn Günther Zschäckl das Lied von der Krähe rezitiert, oder wenn wir Harald Warmbrunn sehen, der sein ganzes Leben Kompromisse gemacht hat, wenn Silvia Rieger das Lob des Kommunismus, das so häufig zitiert worden ist, das es schon abgedroschen schien, rezitiert, dann gehen einen die Texte auf einmal etwas an. Und wir können uns in ein Verhältnis zu ihnen setzen. Und die Musik Nonos, die Frau Peter als Lärm wahrnimmt, konfrontiert uns mit Emotionen, die auch aus einer anderen Zeit kommen. Heute wissen alle immer schon alles, aber kaum jemand ist noch der Erfahrung fähig. Silvia Rieger aber öffnet uns den Blick auf die Qualitäten eines zu Unrecht als propagandistisch und oberlehrerhaft betrachteten Werkes.
Blog, Rieger spielt Brecht: Kokettieren mit eigenem Banausentum
Nicola Bock spricht ein generelles Problem an, das Kokettieren mit dem eigenen Banausentum. Das kommt leider immer öfter vor. Warum sollte eine Kritikerin auch Ahnung von Nono haben, da müsste sie vielleicht ja etwas von Musik verstehen. Auch Esther Slevogt hatte bei der Kritik zum DT-"Traumspiel" keine Ahnung von der - gerade in dieser Inszenierung unendlich wichtigen - Musik und hat dieses "Banausentum" dann noch verteidigt. Gibt es eigentlich, überspitzt gefragt, Fortbildungskurse für Kritiker? Gerade steht da ja auch eine Kritik zu Castorfs "Schwarzer Spinne" online, wo - bis auf eine kurze Ausnahme - die Schauspieler nicht einmal erwähnt werden. Theater ohne Musik, ohne Schauspieler - ja, was muss ein Kritiker/eine Kritikerin denn dann noch bedenken? Nicht falsch verstehen: Ich habe etwas gegen das dauernde Kritiker-Bashing. Aber manchmal muss man gewisse "Schludrigkeiten" eben schon benennen - auf der Bühne und in der Kritik. Gerade weil die kritische Reflexion des Bühnengeschehens so wichtig ist. Ich lese gerade die gesammelten Peter Iden Kritiken, und auch wenn ich selten einer Meinung mit ihm bin - da wird immerhin noch gedacht und man spürt ein Wissen und eine Begeisterung für den Gegenstand der Betrachtung.


(Anmerkung der Redaktion:
Da wir Namen von bekannten Personen stets routinemäßig überprüfen, weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass dieser Kommentar NICHT von der Schauspielerin Astrid Meyerfeldt stammt. Deshalb ist der Kommentatoren-Name in Anführungszeichen gesetzt.)
Blog, Rieger spielt Brecht: seltsame Vorbedingung
Muß man etwas von Nono verstehen, um Silvia Riegers Aufführung würdigen zu können? Dann möchte ich die Aufführung lieber nicht sehen, wenn es so seltsame Eingangsvoraussetzungen gibt.
Blog, Rieger spielt Brecht: nicht unvoreingenommen, sondern roh
@4: Nein, sondern man muss lediglich unvoreingenommen hören und sehen können. Das Problem von Frau Peter ist doch, dass sie mit den Emotionen dieser Musik nichts anfangen kann und, dass sie sich nicht auf das Zuhören einlässt, weil sie schon weiß was Brecht ist und wie er zu spielen ist und dass Frau Rieger Regiearbeiten gefürchtet sind und, und und ... . Dann muss die Musik eben als Lärm qualifiziert wereden, weil sie für sie eben nichts als Lärm ist. Das Banausentum besteht nicht in der Unkenntnis, sondern in der Rohheit.
Blog, Rieger spielt Brecht: autotherapeutische Sitzung
liebe frau bock, liebe frau "meyerfeld", ich habe den abend auch gesehen. nono zu erkennen ist nicht schwer, es steht ja im programmzettel. wie man nono findet, ist das eine, aber was sie aus dem abend machen, ist bedenklich: sie folgen dem muster, wenn es langweilig ist, wenn es "kritiker" nicht verstehen, wenn eine inszenierung "aus einer anderen zeit kommt", dann ist sie radikal, dann "öffnet sie blicke". entschuldigen sie, aber das ist pubertär, das ist nur trotzig gedacht. so einfach ist das nun wirklich nicht. sie basteln sich da eine zu simple welt aus "dummen" zuschauern und "radikalen" künstlern.
für mich war der abend vor allem maniriert und erschreckend einfach gedacht genau so wie sie ihn hier verteidigen. rieger glaubt offenbar, es ist schon alles getan, wenn man "ablehnt", wenn man "anders" ist, sie stellt damit aber nur eine pose aus, was viel über rieger sagt, aber nichts über brecht und das stück. diese inszenierung ist, wenn ich ihre worte verwenden darf, frau bock, aus einer "rohheit" des eingeschnapptseins. ich kam mir vor wie bei einer autotherapeutischen sitzung von frau rieger, die hier ihren wut worauf auch immer zeigt.
Blog, Rieger spielt Brecht: Kultur hat immer Voraussetzungen
Musik in einer Inszenierung verfolgt gewisse Intentionen und setzt sich in Beziehung zu einem Bühnengeschene, zumal Luigi Nono dem Themenfeld der Politik, der Diktatur in seiner Musik ja wirklich große Wichtigkeit zugestanden hat. Wenn diese Musik in einer "Mutter"-Inszenierung verwendet wird, erwarte ich von einer Kritik - auch von einer so schnoddrigen Glosse - dass sie diese Musik zumindest erkennt oder nachrecherchiert. Einfach "Lärm" zu schreiben zeugt einfach von Ignoranz. Und zu "Eingangsvoraussetzungen": Kultur hat immer gewisse Voraussetzungen. Muss ich etwas über Alban Berg wissen um Wozzek würdigen zu können? Keine Ahnung, aber es hilft in jedem Fall ungemein. Muss ich etwas über Kunstgeschichte wissen, um Duchamp schätzen zu können? Wahrscheinlich, denn sonst bleibt sein Pissoir ein Pissoir, und nicht mehr. Und darüber hinaus habe ich schon noch andere Ansprüche an einen veröffentlichten Text als an ein Stammtischgespräch nach einer Premiere ...
Blog, Rieger spielt Brecht: einfach kindisch
Ich habe den Abend als solchen gar nicht verteidigt - man kann die Inszenierung schrecklich finden, langweilig, misslungen. Sich aber toll, witzig oder sonstwas zu finden, wenn man Luigi Nono "Lärm" nennt ist einfach kindisch und zeugt von einer seltemen Einstellung Kunst gegenüber - das hat der misslungenste Abend nicht verdient. A.M.
Blog, Rieger spielt Brecht: Schmollen in der Kunstecke
@7 gottchen, was sind sie aber auch humorlos. ja, genau, es ist eine glosse, ein blog, eine kleine randbemerkung zu einer inszenierung, für die schweigen das beste wäre. nun seien sie nicht so albern verbissen. und wenn sie schon von voraussetzungen reden, dann sollten sie doch erstens wenigstens wissen, dass "lärm" in der musiktheorie keineswegs nur abwertend verwendet wird (im gegenteil) und zweitens, dass in bezug auf nono von "lärm" zu sprechen tradition hat, auch das gehört zur kunstgeschichte, auch wenn ich nicht glaube, dass diese glosse hier das so gemeint hat.
und: es gibt auch eine rezeptionsgeschichte brechts und diese inszenierung tut so, als gäbe es diese gerade nicht - sie schmollt in einer autitischen kunstecke. das muss man dann auch alles wissen, denn sonst nämlich ist das, was sie schreiben, nichts als theaterkantinenstammtisch.
Blog, Rieger spielt Brecht: Genie oder Scharlatan? Toll!
Der Grat zwischen einer radikalen künstlerischen Hervorbringung und purem Dilettieren ist manchmal sehr, sehr schmal. Ich gestehe, dass ich Silvia Rieger dafür bewundere, wie sie nun schon seit Jahren traumwandlerisch sicher auf diesem Grat wandelt, während ihre Zuschauer und Kritiker rechts und links die Abhänge herunterpurzeln: Die einen kollern bergab, weil sie von dem Anblick des Erhabenen so geblendet sind, dass sie ihre Trittsicherheit verlieren. Die andern schütteln die Köpfe und sausen freiwillig talwärts. Nur Frau Rieger geht ihren Weg weiter - und nie wird sie uns wissen lassen, ob sie ein Genie oder ein Scharlatan ist. Toll!
Blog - Silvia Riegers Die Mutter: utopischen Kern herausgearbeitet
Die Diskussion darüber, ob Silvia Rieger ein Genie oder Scharlatan ist, bleibt uninteressant, solange sie nicht konkret an der Arbeit geführt wird. Wer die Gelegenheit hatte die Weber in der Inszenierung von Thalheimer zu sehen und wer die Arbeiten Volker Löschs kennt, dem werden die Qualitäten der Mutter in der Regie von Rieger nicht entgehen können. Die Qualität dieser Arbeit liegt darin, dass sie den utopischen Kern des Brechtschen Stückes herausarbeitet: Das der Mensch sich ändern kann. Das „in die Armbeuge“ rezitierte Lied, das es von uns abhänge ob die Unterdrückung bleibt, wird am Moralischen und Propagandistischen vorbei, ausbuchstabiert. Menschen, die im Nachdenken über sich und andere zum Schluss kommen, das sie streiken, Menschen die ihr Leben lang Kompromisse gemacht haben und sich entschließen keine Kompromisse mehr zu machen. Keine „ Helden“, aber auch keine, die dumpf ihren Unmut, ihre Empörung herausschreien, wie bei Lösch oder uns hohläugig ansehen und denen nichts bleibt als zu schreien, wie bei Thalheimer. Hier sehen wir Menschen, die sich die Freiheit nehmen, nicht mehr mitzumachen. Und Brecht ohne Besserwisserei und Zynismus.
Blog, Rieger spielt Brecht: in der Tradition von Alfred Kerr
Zum Thema Genie und Scharlatan. Frau Peter steht in einer lanegen Tradition wie der folgende Kerr-Text belegt, nur um zu sagen, dass nicht immer alles schlechter wird....

"Nur wer die Gähnsucht kennt,
Weiß, was ich leide.

……Die Kritik ist kurz. Noch ein Auftritt. Noch ein Auftritt. Steigerungslos. Angeklebt. Vier Stunden fast. Wer nicht schläft, wächst aus. Jemand kann Zitherspieler werden. Jemand kann Möbeltischler werden. Jemand kann Lithograph sein oder im Baugeschäft. Aber warum Dramatiker, wenn ihm just diese Fähigkeit mangelt?

…..Diesmal sagt Brecht wenigstens, von wo er's hat. ....Modernheit liegt darin, Schriftsteller aus dem sechzehnten Jahrhundert zu verarbeiten. Zwei Fragen melden sich: warum ist Lion Feuchtwanger, der an dem "Werk" beteiligt sein soll, auf dem Zettel verschwiegen? Zweitens: sind Stellen aus älteren Autoren sonst ent ... verwendet? ....…technisch unbeholfen. ... Brecht macht ihn noch viel ungeschickter. ... Durch dicke, gedehnte, belastende Beitat. Ohne Schimmer von Gliederung. Ohne Schein von Akzent. Das Urbild bleibt ja konzis gegen diese Vierstunden-Wurst.
....Dauernd neblige Finsternis. Gleichförmig.

Alfred Kerr"
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