altDie Prekariatspassion

von André Mumot

Kassel, 22. Januar 2011. Kindheit bei Familie Woyzeck? Keine gute Idee. Der kleine Sohn (Lennart Breitenstein) sieht dementsprechend schmal, verhärmt und schmächtig aus in seinem blauen Schlafanzug und lässt eindrucksvoll verstörte Blicke kreisen. Kein Wunder: Bleibt ihm doch bloß ein Vater, der ihn immer wieder mit seinen Weltuntergangsvisionen bedrängt - und, noch viel schlimmer: Mutter Marie. Die will nur rauchen und Techno tanzen und dem Tambourmajor den Kopf unters Unterhemd stecken. Und statt ordentliche Vollwertkost zuzubereiten, stellt sie das Kind mit einer gewaltigen Chipstüte ruhig, die sie ihm zur Bettzeit auch schon mal rüde über den Kopf zieht. Aber wer kann schlafen, wenn die Erwachsenen um einen herum ihre Orgien feiern, sich mit jeder Menge Bier übergießen und ein brünstiges "Fuck The Pain Away" zum Partymotto machen?

Panorama menschlicher Verkommenheit

Es drängt sich natürlich geradezu auf, Büchners klarsichtige Betrachtung von Ohnmacht und Haltlosigkeit der gesellschaftlich Deklassierten auf heutige Prekariatsprobleme zu beziehen. Bei seiner Kasseler Inszenierung fackelt Markus Dietz daher auch nicht lange und greift, halb angeekelt, halb betroffen, tief hinein in die grellen "Familien im Brennpunkt"-Klischees von Verrohung und Verwahrlosung.

Konkrete Einbindung in gesellschaftliche Wirklichkeiten wird dann aber doch tunlichst vermieden. Die Bühne bleibt abstrakter Plankenraum, auf dem sich allgemein Abscheuliches ereignet. Hauptmann (Thomas Meczele) und Doktor (Daniel Scholz), die den Woyzeck erniedrigen und verlachen, sind jedenfalls Schinder ohne erkennbare soziale Verankerung, ihre Autorität entspringt keiner institutionellen Rolle, sondern schlicht einem gehässigen Sadismus. Denn in Büchners Fragment hat der Regisseur nicht nur Rabenmütter, sondern vor allem eines gefunden: Das Panorama allgemeiner menschlicher Verkommenheit.

Und unter der Bühne liegt der Pfuhl

Zur Illustration dieser fatalistischen Weltsicht erfolgt stimmungsstarke Beleuchtung: Unheilvoll schwingt eine einzelne Glühbirne über die dunkle Bühne, während sich Birte Leests fiebrig agile Marie und Frank Richartz‘ eindimensional chauvinistischer Tambourmajor ekstatisch paaren. Und noch drei weitere dieser nackten Lichter sinken vom Schnürboden herab, als ihr Ehemann sie dafür am Ende ins Jenseits befördert. Vorher hat er übrigens in grenzenloser Wut und schnaufender Schwerstarbeit einen großen Teil des Holzbodens aufgerissen, unter dem seichtes Gewässer zum Vorschein kommt. Das Ensemble, das in diesem feuchten Pfuhl in den Untergang hineinwatet, ist dabei stark, ruhelos und beständig erregt, was aber vor allem eines deutlich macht: Woyzeck ist nicht nur der Pathetischste in der Runde, er ist auch das Problem der Inszenierung.

Zu Beginn wird Bernd Hölscher, mit einer Strumpfhose über dem Kopf, noch als Tier vorgeführt. Die Jahrmarktsausruferin (Agnes Mann) steckt ihm Euroscheine in den Mund und stellt ihm die zentrale Frage: "Willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?" Die Antwort ist bei ihm ein bisschen sehr klar und lautet "Ja". Und so ist dieser Kapuzenpulliträger und Erbsenesser während des ganzen Stückes eher "armer Teufel", als "offenes Messer", kein dem Trieb, der Verwirrung, der Überforderung Ausgelieferter, sondern ein Beurteiler. Als melancholischer Grübler, der wissend erduldet, was man ihm zufügt, reibt er sich auf, bis er schließlich seine schmerzliche Prekariatspassion damit zum Abschluss bringt, dass er zur mordenden Vergeltung ausholt. Denn Woyzeck ist hier nicht Teil der Verhältnisse, er ist ihr Opponent, ein leidenschaftlich moralisierender Mahner, der es dem Publikum viel zu einfach macht.

Melodrama

Es ist das denkbar simpelste Erklärungsmuster von Stoff und Figur: Die böse verkommene Gesellschaft auf der einen, der letztlich nur bemitleidenswerte Außenseiter auf der anderen Seite. Wo analytischer Abstand gut getan hätte, ein Blick vielleicht auf hoffnungslos stumpfe Alltagswelten, setzt Dietz mit Nachdruck auf die größtmögliche Emotion. Bei ihm muss Woyzeck zum sentimentalen Tragödienhelden stilisiert werden, über den dann auch noch das eigene Kind das Urteil spricht.

Der Sohn im Schlafanzug folgt nämlich nicht, wie es die ungemütliche Realität nahelegen würde, dem Beispiel der Eltern. Unverroht und überlegen wendet er sich von dem zu seinen Füßen wimmernden, aufs Melodramatischste um Erlösung bettelnden Vater ab und spricht Anklagendes aus Büchners erster Woyzeck-Fassung ins Publikum: "Was kann der liebe Gott nicht, häh? Das Geschehene ungeschehen machen!" Da schaudert es einen natürlich. Weil es so erhaben dräut. Und Büchners Stück endgültig mit Kind und Kegel im Kitsch versinkt.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Inszenierung: Markus Dietz, Bühne und Kostüm: Mayke Hegger, Musik: Ole Schmidt, Dramaturgie: Stephanie Winter, Licht;: Oskar Bosman.
Mit: Bernd Hölscher, Birte Leest, Lennart Breitenstein, Raphael Weiss, Frank Richartz, Thomas Meczele, Daniel Scholz, Agnes Mann, Christina Weiser, Franz Josef Strohmeier, Sebastian Klein.

www.staatstheater-kassel.de

 

Andere Woyzeck-Inszenierungen, die nachtkritik.de zuletzt besprach: Die von Volker Metzler im Dresdner Dramaten vor acht Tagen, die von Nora Schlocker in Weimar im Juni 2010, die von Julia Hölscher im März 2010 in Potsdam.

 

Kritikenrundschau

"Markus Dietz erschafft mit Georg Büchners 'Woyzeck' am Kasseler Staatstheater einen zutiefst bewegenden Theaterabend voll großer Bilder und größtem Respekt für die Leistung des Hauptdarstellers Bernd Hölscher", urteilt ein online nicht genannter Autor auf dem Portal der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (23.1.2011). "Neunzig Minuten Schwerstarbeit, psychisch wie physisch", leiste Hölscher als Woyzeck "Ein Mann zerbricht, weil der kleine Rest Würde, den sein Unterschichtsdasein ihm lässt, verhöhnt und zertrampelt wird." Dietz gehe dabei "den Weg der Abstraktion", erzeuge „gesellschaftliche Bilder im Kopf". So werde in die "Bühnenkargheit mit grellem Frontallicht oder nur von tief am Boden pendelnden nackten Glühbirnen beleuchtet, reicht eine Chipstüte, um die ganze Unterschichtstristesse zu zeigen." Dieser Woyzeck-Abend biete damit "ein großes Panorama von jenen am Rand, die keinen Grund mehr haben, sich richtig anzuziehen, die nicht die Worte finden, angemessen mit Vorgesetzten, Amtspersonen oder nur den eigenen Kindern zu sprechen."

"Für diesen Woyzeck gibt es keinen Himmel, kein Glück, nicht einmal die Hoffnung darauf. Nur Schmerz und Ausgeliefertsein", schreibt Joachim F. Tornau (Frankfurter Rundschau, 26.1.2011). Einem "Zootier gleich" werde Woyzeck in dieser "brillanten Inszenierung" von den anderen beobachtet: "Dieser Woyzeck braucht keine inneren Stimmen, um in Verzweiflung und Raserei getrieben zu werden. Es ist beeindruckend und schwer auszuhalten, wie Bernd Hölscher diesen verlorenen Menschen auf der Bühne zum Leben erweckt. Wie er stiert und schwitzt und schreit."

 

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