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Unglückliche Liebe auf Turnmatten

von Bernd Mand

Heidelberg, 22. Januar 2011. "Es gab eine Pause" antworte ich einem Freund am Telefon, der mich kurz nach dem finalen Schwarz anruft und nach meinem Theaterbesuch fragt. Das ist nicht einmal eine halb so böse Antwort, wie sich das jetzt beim ersten Mal lesen mag. Entgegen dem allgemeinen Trend, sich auf knappe anderthalb bis zwei Stunden Spielzeit ohne Unterbrechung zu stürzen, setzt Regisseurin Mareike Mikat nämlich nach 90 Minuten eine Zäsur. Fast hätte man ja schon vergessen, wie so ein Pausenzeitfenster angemessen mit Zigarettenkonsum und Bargesprächen zu füllen ist. Aber erst einmal zurück auf Anfang.

Mareike Mikat inszeniert am Heidelberger Theater Fatih Akins Gegen die Wand. Als Vorlage dient ihr hierbei das Drehbuch zu Akins preisgekröntem Drama und der Rest ist ein großes Spiel. In mitten von blauen Turnmatten und überkrönt von einem Basketballkorb ohne Netz erzählt Mikat die Geschichte der beiden Deutschtürken Sibel und Cahit. Alles beginnt mit einem ersten Zusammentreffen in der Klinik, in der Sibel nach einem missglückten Suizidversuch gelandet ist und Cahit nach einer alkoholisierten Steilfahrt mit dem Auto gegen eine Wand.

Blaue Matten, rote Rosen, düsterer Stoff

Sie überrumpelt ihn mit der Bitte ihn zu heiraten, um sie aus ihrem konservativen Elternhaus zu befreien und nach und nach wird aus der offenen Zweckehe dann schließlich Liebe. Diese ist nicht von langer Dauer, denn Cahit bringt eine von Sibels amourösen Abendbekanntschaften im Streit um und wandert ins Gefängnis. Sibel wird von ihrer Familie verstoßen und flüchtet zu ihrer Kusine in die Türkei. Nach fünf Jahren kommt es dann zu einem Wiedersehen mit Cahit am Bosporus.

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Franziska Beyer (Sibel) und Frank Wiegard (Cahit) ©Markus Kaesler

Schon beim Einlass in den Theatersaal empfängt Franziska Beyer als Sibel im rosafarbenen Tutu mit gleichfarbiger Jogginghose und Kapuzenpullover das Publikum. "Schön, dass ihr heute abend alle gekommen seid." Mit dem Mikrofon in der Hand turnt sie über die blauen Matten und stimmt Hildegard Knefs "Für mich solls rote Rosen regnen" an, bevor sie sich selbst mit einem schwarzen Klebebandstreifen den Mund verklebt und ins hintere Bühnendunkel abgeht.

Cahit (Frank Wiegard) tritt erst einmal als fordernder und ungnädiger Regisseur auf und stellt mit den männlichen Ensemblemitglieder die titelgebende Fahrt gegen die Wand nach. "Das ist es!" ruft er nach mehreren Versuchen aus und lässt sich auf eine der dicken Turnmatten und somit auch in die Handlung fallen. Es ist ein spielerischer und komödiantischer Einstieg in das gut zweieinviertel Stunden dauernde Drama, das hier, wie man sich bereits denken kann, gar keins mehr ist. Mareike Mikat zieht der tragischen Filmvorlage, die gleichermaßen als düster und neoromantisch gefeiert wurde, jeden einzelnen Zahn.

Herrlich verworrene Bilder

In der stilisierten Turnhalle auf der Bühne von Maike Storf geben körperliche Spielwut und Klamauk den Ton an, während die Inszenierung streng chronologisch die Geschichte erzählt. Für die kleinen Töne ist hier kein Platz. Es wird mit vielen schnellen Comicstrichen gearbeitet. Den passenden Soundtrack liefert das Mischpult von Neville Attree, der für das Gruppenbild zur Hochzeit oder als hilfsbereiter Retter nach einem Überfall auch seine kuschelige DJ-Koje verlassen darf. Viele Szenen tragen tiefe Improvisationsspuren.

Mareike Mikat legt ihr Ohr dabei direkt an den spielerischen Augenblick. Diese Aufmerksamkeit führt zu einem zügigen Spielfluss und teils herrlich verworrenen Bildern, wie der Flug von Sibels Kusine Selma (Ute Baggeröhr in der Mehrfachbesetzung, die sie im Übrigen auch Cahits Geliebte Maren spielen lässt) auf dem Besenstiel oder das wendige Spiel mit den Weichbodenmatten, die immer neue Räume auf der Bühne schaffen. Und so macht sich diese mutige Entscheidung, entgegen dem mächtigen Konzept der groben Striche, in kleinen Momenten bezahlt.

Die Tragödie hinter dem Spiel

Doch rauschen die Personen einem sehr schnell durch die Hände und den Sinn. Am schlimmsten trifft es Thomas Halles Nico, dem Eifersuchtsopfer, der hierdurch und zu Unrecht zum bloßen narrativen Füllmaterial wird. Zu rutschig sind die Figuren noch gezeichnet, als dass man wirklich Anteil nehmen könnte. Für die Tragödie hinter dem chaotischen Spiel ist die Geschwindigkeit irgendwie zu hoch. Da kann leider auch die kleine Verschnaufpause nicht helfen, die von Mikat am Wendepunkt der Geschichte eingesetzt wurde.

Somit wird letztendlich viel behauptet, aber wenig eingehalten. Und auch das große Gefühl zum Wiedersehen der beiden Liebenden, das bei weitem kein glückliches Ende darstellt, wird nur besungen. Wenn auch Franziska Beyers Version des Karussell-Songs Als ich fortging einem noch lange nicht aus dem Ohr gehen mag.

 

Gegen die Wand
nach dem Film von Fatih Akin
Regie: Mareike Mikat, Bühne & Kostüme: Maike Storf, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Musik: Neville Attree.
Mit: Franziska Beyer, Frank Wiegard, Axel Sichrovsky, Ute Baggeröhr, Thomas Halle, Jan Andreesen, Ronald Funke.

www.theaterheidelberg.de

 

Alles über die Regisseurin Mareike Mikat auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

"Vielleicht ist man ja nur auf der Welt, um Theater zu machen", kritisiert Alfred Huber für das Onlineportal des Mannheimer Morgen morgenweb.de (24.1.2011) die inszenatorischen Mittel dieses Abends. Regisseurin Mareike Mikat habe "viel Choreographisches und dröhnende Musik aufgeboten, um ständig in Bewegung zu halten, was man im Bereich des Darstellerischen hin und wieder gern etwas genauer gesehen hätte." So besitzt der Abend in der Schilderung des Kritikers allenfalls vereinzelte prägnante Momente von "Unmittelbarkeit". Nach der Pause verflache die Inszenierung. "Jetzt, am Ende all der inszenatorischen Zappeleien, müsste die reine Schauspielkunst triumphieren. Doch im Umkreis der emotional oberflächlichen, aber geschäftstüchtigen Hotelmanagerin Selma (Ute Baggeröhr) zeigt sich, dass die Regisseurin Mareike Mikat doch eher der Dynamik dramatischer Momente vertraut als den unfassbaren Verschwiegenheiten der Poesie."

Ganz anders urteilt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (24.1.2011). In der Nähe zu Friedrich Schillers "Die Räuber" sieht er Fatih Akins Vorlage; und Mikat habe "das Drehbuch wie eine Partitur" gelesen. "Begleitet von einem permanenten Soundteppich (...) verführt Mareike Mikat das Ensemble zu einem mehr als zweieinhalbstündigen Tanz- und Aktionstheater." Indem es sich wie aus einer "Probensituation" heraus entwickele, "vertraut das Theater ganz auf seine eigenen Mittel und erliegt nicht der Gefahr, bloßer Abklatsch des Films zu sein." Komplett konträr zur voran stehenden Kritik wird auch der Spannungsverlauf des Abends bewertet: "Die episodische Straffheit nach der Pause hätte man sich auch im ausufernden ersten Teil gewünscht. Eine ganze Reihe von Tanz- und Action-Szenen hätten hier verdichtet werden können. Doch Mareike Mikat wollte sich in ihrem sehr speziellen 'Director's Cut' vermutlich nicht von ihrem 'Bonusmaterial' trennen."

 

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