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Das große Liebes-Lalala

von Esther Boldt

Frankfurt, 23. Januar 2011. Im warmen Licht liegt die gute Stube, karg möbliert: Ein Bett, zwei Stühle, ein Nachttischchen. Vor dem Fenster hat sich das Laub bereits rot gefärbt, erklingen hier doch Herbstlieder in Frühlingstagen: "Autumn Leaves". Breite Holzbalken umfassen die Bühne, wie durch einen Bilderrahmen schaut man in Stellas Einsamkeitsstube, ins empfindsam glimmende Liebeskummerreich der bauschenden Röcke und wehen Herzen.

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Schauspiel für Liebende, bilderbuchschön
© Birgit Hupfeld

Denn in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt spielt man Goethes Schauspiel für Liebende, "Stella", inszeniert von Andreas Kriegenburg. Ein seltsames Stück Theaterliteratur, in dem ein Mann drei Frauen liebt: Im Ehealltag mit Cäcilie und seiner Tochter Lucie langweilt es Fernando, er brennt mit der blutjungen Stella durch. Doch sein unstet-stetes Herz zieht es zurück zu seiner Gattin, also verlässt er jene wieder, um diese auch nicht zu finden. Viel später begegnet er allen drei Frauen, denn Lucie soll Stellas Gesellschafterin werden.

Liebe macht atemlos

Das größte Problem also ist die Qual der Wahl, und die vielleicht interessanteste Frage des Abends heißt: Welches Ende wird der Regisseur wählen? In der ersten Fassung von 1775 schlägt Cäcilie die Liebe zu dritt vor, "eine Wohnung, ein Bett, ein Grab"; 1806 dann schlug die bürgerliche Moral mit einem Doppelselbstmord zu. Kriegenburg wählt die Utopie und führt den Abend zu einer tollen Liebesraserei, in der sich Marc Oliver Schulze als Fernando und Valery Tscheplanowa als Stella bildschön in ihr Unglück hineinverzweifeln.

Wieder und wieder sinkt Stella zu Boden, ganz Herz, ganz Gefühl, und bleibt in einer rosafarbenen Insel wogenden Rockstoffes sitzen. Sie ist eine weltabgewandte Liebeswandlerin, in ihren Schmerz verklammert und verstiegen wie in einen Schatz. Fernando dagegen verzweifelt an seiner multiplen Existenz als Vater, Ehemann, Geliebter, Gram beugt seine Schultern, lässt ihn stammeln, wimmern, keuchen. Liebe, so lernen wir, macht atemlos. Dagegen kommt Bettina Hoppes trockene, glasklare Cäcilie im kollektiven Gefühlstaumel wieder zu Bewusstsein.

Risiken und Nebenwirkungen des Miteinanders

Und dabei beginnt der Abend mit wohltuender, verspielter Distanz: Beim Einlass tummeln sich die fünf Schauspieler auf der Vorderbühne, umwickeln Tscheplanowas Oberkörper in einen meterlangen Schal, auf ihre Fingerknöchel malt Schulze einen roten Mund. Playback singen die Knöchellippen Kylie Minogues Evergreen "Can't get you out of my head". Dann wird sie wieder ausgewickelt, und die fünf schminken sich weiße Wangen, rote Lippen und schwarze Katzenharlekinaugen. Langsam spielen sie sich hinein in Risiken und Nebenwirkungen des Miteinanders, als ertasteten sie den Text mit einer Mischung aus Überschwang und Spiellust - ähnlich, wie Kriegenburg im letzten Jahr Goldonis Diener zweier Herren zum Anlass eines Spiels im Spiel nahm.

Dabei wird der herrlich nölige Teenager Lucie (Lisa Stiegler) zu einer doppelten Figur: Wenn sie anfangs den Kummer ihrer verlassenen Mutter tanzend verwitzt, holt gerade der Teenie die ewige Liebesleier zurück auf den Boden der Tatsachen und macht ihn zum Zitat: Alles schon mal dagewesen! Wenn sie sich später agil durch Stellas Einsamkeitsstube kugelt, aufs Bett fläzt und flirtet, dann wird sie zum Spiegel für Stellas und Cäcilies Jugendjahre. Wie der Bilderrahmen der Bühne, durch den der Blick fällt wie in ein anderes Jahrhundert, schafft Lucie einen Fingerbreit Abstand, während in zarten Wiedersehen und harten Liebesverklammerungen die drei unglücklich Liebenden einander wiederfinden und verlieren, wiederfinden und verlieren.

Im Wurmloch zwischen Vorgestern und Heute

Fein inszeniert sind diese Gefühlsverwirrungen, lustvoll und bilderbuchschön, wie man es von Kriegenburg erwartet. Und doch schmecken sie schal, bleibt das so zeitspezifische Drama in einem Wurmloch zwischen Vorgestern und Heute stecken. Virtuos pulsen sich Schulze und Tscheplanowa in das schwerwiegende Liebesleid der Empfindsamkeit hinein, in der jede Herzensregung Jammertal oder Himmelsfreude ist. Auf diese übergroße Gefühligkeit kann heutiger Patchworkfamilienalltag nur irritiert blicken.

Es singt das Schauspiel die alten Liebeslieder mit ihrem bekannten Schrecken, der wohlig schauert und still tröstet. Darüber wird er ganz banal, auch Seifenopern und Telenovelas legen ihn tagtäglich neu auf und walzen ihn zwischen Cliffhangern quotenwirksam aus. Doch wozu das Ganze? "La la la la la la la la", würde Kylie Minogue wohl sagen.


Stella
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Katharina Tasch, Licht: Frank Kraus, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Valery Tscheplanowa, Bettina Hoppe, Marc Oliver Schulze, Lisa Stiegler, Mathis Reinhardt.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrunschau

Die Schauspieler "lungern schon auf der Vorderbühne herum, wenn das Publikum noch seine Plätze sucht", berichtet Hubert Spiegel (FAZ, 25.1.2011). Und "erst einmal wird gealbert. Ein endloser blauer Schal schlingt sich um die Hälse, durch die Hände gleitet ein gelber Schlauch. Warum? Man ist verbunden, aneinandergekettet." Vor allem aber könne man sich so das Stück "erst einmal vom Leib halten". Aber der erste Eindruck täusche. "Kriegenburg schafft Distanz, aber dann treibt er sie seinen Figuren aus. Lucie wird dabei zum Punkt, von dem aus er das Stück aus den Angeln hebt, um es in die Gegenwart zu katapultieren." Bei Goethe spiele Lucie keine wichtige Rolle, sie habe "eine Funktion, aber kein Leben. Für die Probleme einer Fünfzehnjährigen, die ihr halbes Leben mit einer gramgebeugten Mutter verbringen musste, hat Goethe sich nicht interessiert". Kriegenburgs Lucie hingegen interessiere sich "für alles". Und "sogar Fußnoten kann Lisa Stiegler spielen: Wenn Fernando eine Glühlampe aus der Fassung schraubt, holt Lucie sofort die zweite Lampe und lässt sie im Nachttisch verschwinden, als würde sie ahnen, dass der soeben wiedergefundene Vater sich mit den Scherben die Pulsadern aufschlitzen könnte". So verweise Kriegenburg auf Goethes zweite Fassung, lasse "aber natürlich die erste spielen, obwohl er der glücklichen Liebe zu dritt auch nicht recht traut".

"Inhaltlich, und das macht die kleine Aufführung groß, steuert Kriegenburg sehr direkt auf das Thema zu. In 'Stella' geht es nur um Liebe, Liebe in einer Intensität und Ausschließlichkeit, wie in keinem anderen Drama, so heftig, dass man die Unglaubwürdigkeiten der Handlung sofort vergisst", meint Peter Michalzik (Frankfurter Rundschau, 25.1.2011). Und Kriegenburg habe "keinerlei Schwierigkeiten die im Theater (und der Wirklichkeit) fast immer etwas peinlichen, opernhaften Liebesgefühle ganz blank auf die Bühne zu bringen". Man erkenne jetzt, "dass die allmächtige Liebe und ihre Verwicklungen schon immer in Kriegenburgs Arbeit gesteckt haben, auch wenn seine Arbeiten früher rauer und wilder waren". Kriegenburg sei "nicht nur ein visionärer Bilderfinder und Stimmungsmaler, ein Bühnenlyriker und Komödiant, er ist tatsächlich auch ein großer Theatererzähler". Lisa Stiegler zeige hier als Tochter Lucie "sehr schön, wie man sich gegen die vielen übergestülpten Gefühle wehrt: mit Sarkasmus, Witz und vor allem Persiflage".

"Das ist natürlich ein Schmarrn", befindet Jan Küveler (Die Welt, 25.1.2011) über die erste "Stella"-Fassung, die Kriegenburg verwendet. Denn "der Vater des 'Stella'-Gedankens ist leider selber noch Gefühls-Teenager. Der hat gleichsam den Führerschein mit siebzehn und will möglichst schnell auf die Pathos-Autobahn, wo er dann im fünften Gang dahinbraust". Am wenigsten bekomme das Stella selbst, "paradoxerweise weil die Schauspielerin Valery Tscheplanowa sich als seelenverwandt erweist". Denn obwohl Tscheplanowa "sich verschwendet, strampelt, um Hilfe kreischt, also alle Zeichen eines baldigen Untergangs gibt, sieht man sie bloß schwimmen - im Theater eine Katastrophe". Das sei "ein Jammer. Denn zumal Bettina Hoppe als Cäcilie und Ensemble-Nesthäkchen Lisa Stiegler als Lucie kann man gar nicht genug loben". Stiegler sei "die beste Idee der Regie und ein Segen", ihre "Würde ist der Witz".

Einen "taufrischen Klassiker" hat Michael Kluger (Frankfurter Neue Presse, 25.1.2011) gesehen. "Aus zarter Liebesschwärmerei taumelt das Stück in einen Abgrund der Verletzungen, enttäuschter Hoffnungen und zerstörter Sehnsucht. Am Ende ist alles Verwüstung." Und Kriegenburg zeige "im Guckkasten ein Panorama verwirrter Emotionen, voll Überschwang und Leidenschaft. Es ist ein gebrochener Blick auf die Gefühlskultur eines vergangenen Jahrhunderts, in dem sich die Gegenwart zwischen Seifenoper und Familiendesaster gleichwohl wieder erkennt". Zum "Staunen und Bewundern" sei das "glänzende" Ensemble an diesem "wuchtigen, überwältigenden Theaterabend".

 

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