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Ein Egoist zum Verlieben

von Matthias Schmidt

Chemnitz, 27. Januar 2011. Der Schreck dauert ein paar Minuten. Ein hagerer, klamaukig wirkender Mann in Hochwasserhosen kommt zögerlich von der Hinterbühne nach vorne. Betont wirr und unbeholfen spricht er von norwegischen Böcken und den Ausmaßen ihrer Hörner. Peer Gynt oder Piet Klocke, das ist hier die Frage. Gelächter kommt auf und wird noch stärker, als Peers Mutter Aase (Ellen Hellwig) den trotteligen Sohn aus dem Zuschauerraum einen Versager schimpft, sich in der ersten Reihe eine Zigarette schnorrt, und dann erst richtig loszetert.

Zu böse für den Himmel

Doch Claudia Bauer hat alles andere vor, als Ibsens Drama mit Ironie zum Schenkelklopfer zu machen. In den reichlich zwei Stunden, ohne Pause und wie aus einem Guss, schafft sie es, Peer Gynt vom lächerlichen Pappkameraden zu einem leidenschaftlichen und, ja, auch rücksichtslosen Selbstverwirklicher zu machen. Einen, den man mag, weil er keine Kompromisse macht. Der seinen Träumen nachjagt, sich dabei wahlweise der Lächerlichkeit preisgibt oder über Leichen geht. Ein Egoist zum Verlieben.

Schuld daran ist vor allem Bernhard Conrad, der als Protagonist eine nahezu ungeheure Präsenz entwickelt. Er allein ist die Inszenierung. Rastlos wie der Duracell-Hase denkt er, spricht er, reist er, handelt er. Sein Peer ist kein Spinner, sondern einer von uns. Nur dass er eben nicht einlenkt, wenn wir alle es tun würden. Er lässt sich nicht vereinnahmen. Er lebt seine Phantasien aus, träumt seine Probleme weg, erinnert sie weg, flieht vor ihnen in neue Träume, die doch alle in demselben münden: Dieser Mann, kein großer Sünder, aber zu böse für den Himmel, wie es bei Ibsen heißt, will ganz er selbst sein. Wer wollte das nicht.

Ibsen 21 mit Stahlhelmen und Unterhosen

Er zieht aus, das Glück zu finden, halb Faust, halb Mephisto: mal forschend, mal bauernschlau, mal lüstern, immer Egoist und selbst in seinen Missetaten nicht nachhaltig verachtenswert. Ebenso bemerkenswert ist, wie es der Regie gelingt, trotz der relativ deftigen Bildsprache – die Trolle tragen Stahlhelme, die Geschäftsmänner nur Unterhosen – alle Aktualisierungen beiläufig daherkommen zu lassen. Dass aus dem Weg-Erinnern von Problemen (N)ostalgie werden kann, aus Religion Hörigkeit, aus Theorien Ideologien, aus Profitgier Verbrechen und so weiter, das alles stellt Claudia Bauer nicht als Botschaft aus. Und doch kann man es fühlen. Dass Peer ein Ästhetiker im Sinne Kierkegaards ist, dem es an Ernst dem Leben gegenüber mangelt, Bauer wirft es ihm nicht vor, sondern kontert es mit Humor, mit der Leichtigkeit des 21. Jahrhunderts – Ibsen 21, könnte man sagen.

Wenn er sich von den Trollen bekoten lässt, kommt das nicht als Ekel-Trash rüber, sondern als launige Pointe: Ein kleiner Anschiss richtet schließlich keinen bleibenden Schaden an. (Ist es das, warum der Abend erst "ab 16" freigegeben ist? Ach Herrje!) Selbst Howard Carpendales nun wirklich echt klebriger Schlager "Hello again", bei dem Peer Gynt anfangs seine Solveig kennen lernt und am Ende eben wiedertrifft (Hello again!), ragt nicht als opportunistischer Generationen-Gag heraus, sondern passt einfach.

Ein Aufschrei gegen das Mittelmaß

Komik und Tragik gehen aufs Gelungenste ineinander über, wohl dosiertes Aus-der-Rolle-Fallen macht "die vierte Wand" angenehm durchlässig. Ein "Peer Gynt", der maßvoll einsetzt, was das Theater heute zu bieten hat: einen auf der Bühne live eingespielten Soundtrack, eine offene Garderobe auf der Hinterbühne, ein paar Kulissenschmierereien und -zerstörungen sowie ein halbes Kilo zerlegter Zwiebeln. Die allerdings sind ironisch gemeint, denn ein Mensch aus lauter Schichten ohne Kern ist Peer Gynt wahrlich nicht.

Er ist einer, der am Ende bemerkt, wie skrupellos er agierte, und doch nicht anders kann, als weiter zu träumen. Von seinem Nachruhm, den Legenden, die sich um ihn ranken werden und davon, dass es besser ist zu scheitern als sich anzupassen. Noch einmal hebt er zu Schwärmen an: über den Schlussapplaus hinaus schickt Peer Gynt seine Botschaft ins Parkett. "Alles oder nichts! Love it or hate it!" Ein Aufschrei gegen das Mittelmaß, ein personifiziertes kierkegaardsches "Entweder-Oder". Wenn's nur so einfach wäre!

Solveig, die bei Ibsen all die Jahre in Glaube, Liebe und Hoffnung auf ihn wartete, hat ihn offenbar verstanden. Natürlich verzeihe sie ihm und gewartet habe sie auch, sagt sie am Ende werkgemäß. Dann stellt sie Peer ihre neue Familie vor: ihre Männer und Kinder. Großer Premierenjubel!


Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie: Claudia Bauer. Dramaturgie: Matthias Huber. Bühne und Kostüme: Patricia Talacko. Musik: Tom Müller, René Szymanski.
Mit: Bernhard Conrad, Ellen Hellwig, Caroline Junghans, Daniela Keckeis, Susanne Stein, Nikolaus Barton, Tilo Krügel, Urs Rechn, Valentin Unger, Friederike Lenk, Franziska Rattei, Dina Rochlitzer.

www.theater-chemnitz.de


Das Chemnitzer Theater ist unter Schauspieldirektor Enrico Lübbe auch ein Haus für neue Dramatik: Stücke von Ulrike Syha wurden hier mehrfach uraufgeführt, etwa das 2009 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladene Privatleben, ebenso wie zuletzt Lohnarbeit und Liebesleid... von Johanna Kaptein.

 

Kritikenrundschau

Begeisterung gibt Uta Trinks in der Chemnitzer Freien Presse (2.1.2011) zu Protokoll. Claudia Bauer lasse die Geschichte in einem Rutsch durchspielen, aktualisiere, "aber nicht vordergründig", finde manchmal deftige Bilder, die von den Mythen der nordischen Sagenwelt grundiert würden und aus "der dunklen Hinterbühne in das menschliche Geschehen eindringen und auch die Grenzen zwischen den Welten verwischen". Angetan hat es der Kritikerin auch Gynt-Darsteller Bernhard Conrad: "Conrad steht den ganzen Abend unter Strom, entwickelt eine unglaubliche Bühnenpräsenz und zieht wie ein Magnet (fast) alle Aufmerksamkeit allein an sich. Ständig in Bewegung, spiegelt sein elektrisierter Körper Peer Gynts flirrenden Geist, der Neuem, Erfolg und Sinn auf der ganzen Welt hinterherjagt. Kaiser will er werden, doch so verrückt und unreal, wie das klingt, so unweigerlich denkt man mit, was als moderner, rücksichtsloser Selbstfindungstrip allgegenwärtig ist."

 

 

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