Wie das legendäre Atlantis

von Andreas Schnell

Osnabrück, 28. Januar 2011. Am Anfang war die Zunge. Das ist natürlich beinahe biblisch. Aber wenn es um einen Schriftsteller geht, einen großen, einen Nobelpreisträger gar, darf man schon einmal große Worte in Dienst nehmen. Der Schriftsteller ist Elias Canetti, die Zunge, die "gerettete", die seine. Natürlich nicht wirklich: Die Zunge, die da maschinell animiert im Emma-Theater züngelt, würde nie in einen Menschenmund passen.

"Die gerettete Zunge" ist der Titel der Autobiographie Canettis. Rustschuk, das sei auch gleich verraten, der altertümliche Name der Stadt, in der Canetti die ersten Jahre seines Leben verbrachte. Heute heißt sie Russe und ist die fünftgrößte Bulgariens. Mit dem dortigen Theater hat das Theater Osnabrück ein von der Bundeskulturstiftung gefördertes Kooperationsprojekt, dessen krönender Abschluss die gemeinsame Produktion "Rustschuk" ist, die im April auch in Bulgarien zu sehen sein wird.

Animierte Bilder einer untergegangenen Welt

Die Zunge also, und im übertragenen Sinne die Sprache, ist durchaus Thema in "Rustschuk". Im Zentrum steht allerdings, zumindest optisch, Wasser. Beinahe den gesamten Bühnenraum bedeckt es, nur am Rande steht ein Schreibtisch, an dem ein alter Canetti (Jan Schreiber), rauchend und hustend, seine Erinnerungen aufschreibt. Und es gibt noch zwei weitere Canettis: das Kind (Andrea Casabianchi) und den Jugendlichen (Oliver Meskendahl), wobei die nicht immer streng voneinander getrennt sind, manchmal gar wie siamesische Zwillinge in der gleichen Jacke stecken.

Denen zur Seite stehen "die Leute aus Rustschuk", die mal Handwerk nachgehen, singen, tanzen und manchmal ziemlich schöne Masken tragen. Wir sehen, Regisseur Ivan Stanev fährt einiges auf, um Canettis Kindheitserinnerungen in Szene zu setzen. Und er hat sehr viele, sehr schöne Ideen: In das Wasser werden Postkarten projiziert, einige sind gar animiert. Da fährt mal ein Zug über eine Brücke, mal blinzeln dir die alten Schwarzweißphotos zu, mal entsteht vor unseren Augen eine Flusslandschaft, zunächst in schwarzem Strich gezeichnet, danach kommen die Farben – und dann fährt auch noch ein Schiff den Fluss entlang...

Im multikulturellen Schmelztiegel

Das Wasser, allgegenwärtig in dieser Inszenierung, erklärt Stanev, verdecke die untergegangene Welt wie das Meer das legendäre Atlantis – und es bricht und verunklart de Blick auf das Vergangene, darf man hinzufügen. Da lässt sich machen. Allerdings bleibt vor allem auf der Textebene am Ende mehr Unklarheit als vielleicht gut wäre. Gewiss, da gibt es einiges aus jener untergegangenen Welt zu erfahren, vor dem Ersten Weltkrieg, als im multukulturellen Schmelztiegel Rustschuk gut ein halbes Dutzend Sprachen gesprochen wurde, als der Einzug der Zigeuner allgemein bestaunt wurde und statt der Gründung einer Bürgerinitiative oder eines Polizeieinsatzes die ganze Sippe bewirtet wurde – und das jeden Freitag.

Wir erfahren auch, dass Canetti, der seine Werke in deutscher Sprache verfasste, jene erst viele Jahre später lernte, nach Bulgarisch, Englisch und dem Spaniolisch, einem altertümlichen Spanisch, seiner Eltern, die sephardische Juden waren. Wir erfahren auch, dass Canetti bis zur Geburt seines jüngeren Brüders von seinen Eltern wie ein Mädchen angezogen wurde. Und es gibt Anzeichen einer frühen Beschäftigung mit der Psychologie der Masse, die ihn später immer wieder beschäftigte.

Augenschmaus ohne dramatischen Bogen

Vom Miteinander der rustschuk'schen Gesellschaft aber oder den Gründen, weshalb Canetti schließlich Deutsch schrieb, erfahren wir wenig. Stanev reiht Episode an Episode (gerahmt von zwei Interviewausschnitten, in denen dann noch einmal große Canetti-Themen aufleuchten) und becirct dabei mit seinen Bildern und Einfällen, ohne dass ein thematischer oder dramatischer Bogen den Abend überspannte.

Und einiges sprengt noch den ohnehin schon undeutlichen Rahmen: Der Großvater (Olaf Weißenberg), der wortgewaltig den Sohn verflucht, der die Familie verlassen will, und auch einige Einsätze des Tänzers Krzysztof Zawadzki wirken, sagen wir, nicht unbedingt zwingend. So ist man hin und hergerissen, zwischen der Begeisterung für diesen Augenschmaus – und der Frage, was jetzt eigentlich genau die Fragestellung des Abends war.

 

Rustschuk – Die gerettete Zunge
Ein Canetti-Projekt von Ivan Stanev
Regie und Bühne: Ivan Stanev, Kostüme, Masken, Kunstobjekte: Anabel Fröhlich, Video: Thorsten Alich, Dramaturgie: Jürgen Popig.
Mit: Jan Schreiber, Oliver Meskendahl, Andreas Casabianchi, Tihomir Blagoev, Borislav Vezhenov, Yasena Gospodinova, Evgeniya Yavascheva, Olaf Weißenberg, Krzysztof Zawadzki.

www.theater-osnabrueck.de

 

Alles über den Regisseur Ivan Stanev auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

"Rustschuk - Die gerettete Zunge" lasse "staunenswert authentisch Elias Canettis Autobiografie wieder auferstehen" und sei "Glanzlicht der Theaterkooperation zwischen dem bulgarischen Russe und Osnabrück", schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (31.1.2011). Es sei "frappierend, was Stanev und sein Team aus den ersten 40, noch um die Hälfte eingekürzten Prosa-Seiten aus 'Die gerettete Zunge' herausgeholt haben". Jan Schreiber als Canetti klappere "auf seiner mechanischen Schreibmaschine, sieht aus und bewegt sich wie der Nobelpreisträger und spricht täuschend echt wie er - eine sagenhafte schauspielerische Leistung". Die Aufführung zeige "viel liebevolle Sorgfalt", die es auch vertrage, "wenn sie mal durch Klischees oder Slapsticks unheilig gebrochen wird." Der "berstend vitale Abend mit seiner so ungewöhnlichen wie ausgefeilten Bilder- und Körpersprache" zeige, "mit wie viel Gewinn sich zwei Theatertraditionen zu einer neuen gemeinsamen Ästhetik befruchten können".

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