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In the Year Twenty five Twenty five

von Sarah Heppekausen

Essen, 29. Januar 2011. Im Foyer des Grillo Theaters sind so unspektakuläre Dinge ausgestellt wie eine Zwiebel, eine Kondomverpackung oder eine kaputte grüne Plastikkanne. Selbst der Spiegel, die Toilette, die Heizung sind mit kleinen Schildern versehen. Es sind Erinnerungsstücke an eine ferne Vergangenheit. An das Jahr 2011. Und das ist mittlerweile 514 Jahre her.

Regisseur Thomas Krupa beschäftigt sich gerne mit der Zukunft, in Freiburg brachte er im vergangenen Jahr eine Arbeit unter dem Titel Als wir Menschen waren – Ein theatrales Zukunftslaboratorium heraus. Seine Vision für Essen und für 2525: Die Menschen haben keine Gefühle mehr, das Theater existiert bloß noch als Museum, kulturelle Werte sind verschütt gegangen wie das antike Pompeji. Deren Ausgrabung inszenieren Krupa und der Komponist Ari Benjamin Meyers in "25 Sad Songs". Musik dringt bekanntlich in die Tiefen unseres Gehirns und hat eine starke Wirkung auf unsere Gefühle. Für Krupa und Meyers ist Musik die Brücke zur Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist. Der Schlüssel zu einer Welt der Affekte und Leidenschaften, der Trauer, Wut, Freude und Liebe.

Eingetaucht in blaues Licht

Das klingt pathetisch und ist es auch. Denn diese Revue besingt die Melancholie, spart weder an emotionalen Großhits noch an effektvollen grün-blau-roten Lichtstimmungen. Neil Youngs After the Goldrush, Simon and Garfunkels The Boxer, Fake Plastic Trees von Radiohead oder Leonard Cohens Halleluja stehen zum Beispiel auf der Playlist, toll interpretiert von den Musikern unter der Leitung von Stephan Kanyar und gesungen von Schauspielern aus dem Ensemble. Laura Kiehne hängt bei Nightswimming (REM) kopfüber über dem Bühnenboden, eingetaucht in blaues Licht.

Für die futuristische Folk-Ballade In the Year 2525 – dem Zeitalter vorgebenden Titel des Abends – stecken die Schauspieler ihre Glieder in scheppernde Schellenreifen wie zur schallverstärkten Mission Vision. Die Songtexte werden in deutscher Übersetzung auf eine Leinwand projiziert. Schließlich geht es auch um Inhalte. Die Musik ist in dieser Aufführung nicht nur Sprache der Gefühle, sondern füllt auch das Textbuch. Denn das bleibt ansonsten ziemlich dünn und die Rahmenhandlung, der dystopische Überbau, wird mehr angespielt als ausformuliert.

Ein alter Mann schleppt sich zu Beginn auf die Bühne, legt eine verstaubte CD in den Rechner und erzählt mit verzerrter Stimme von der Zukunftsvorstellung seiner Großmutter. Er ist der letzte seiner Art, übrig geblieben aus einer fremden Zeit der Emotionen und der Sterblichkeit. "Wir sind Auto gefahren, haben geraucht, Fleisch gegessen, getanzt, uns geschlagen, Familien gegründet, geweint, gelacht", wird er den gefühlsresistenten Cyborgs später berichten. "Aber die meiste Zeit geschah nichts, wie in einem französischen Film."

Der letzte emotionsfähige Mensch: ein Theaterfake?

Diese amüsante Szene bleibt genauso szenisches Beiwerk wie die Zuwendung zum Publikum, die Analyse des menschlichen Begrüßungsrituals als Zeichensprache, das verständnisfreie Applaus-Imitieren. Es sind bloß kurze Unterbrechungen des Musikprogramms. Gut, das zeichnet eine Revue natürlich aus. Aber dieser Abend will gar keine Revue sein. Die ist nur das Überbleibsel der Vergangenheit, verzeichnet auf einem digitalen Datenträger und für die Wesen in 2525 rekonstruierenswert. Krupa will mehr. Ein theatralisches Nachdenken über die Zukunft, die Wirkung von Musik, über Kultur soll "25 Sad Songs" sein, heißt es im Programmheft. Vor allem aber ein sehenswerter Einwand gegen massive Sparvorschläge im Theaterbereich.

Das Gedankenexperiment ist spannend, bleibt aber reine Kopfsache. Die Schauspieler bemühen sich um ein emotionsloses Spiel in grauen Anzügen, das sich, während sie singen und mit Unterstützung farbiger Kostüme aus der Fundusgarderobe (Kostüme Ines Burisch), zu mehr Leidenschaft entwickelt. Dem alten Mann (Ragna Guderian) wird zum E-Gitarren-Solo aus Nirvanas Rape Me bildstark die Maske vom Gesicht gezogen. Ist selbst der letzte emotionsfähige Mensch bloß ein Theaterfake? Oder ist das der Schritt zurück in die Gegenwart? Das Spiel erschöpft sich in Andeutungen, in Gesten und Zitaten. Und die Fiktion bleibt Anhängsel der 27 (!) interpretierten Songs.

Und so ist "25 Sad Songs" eben doch eine Revue, unterhaltsam und gefühlsbetont. Aber viel zu harmlos für ein Aufbegehren, für echte Leidenschaft. Dass Theater das kann, wissen wir doch. Oder sind wir etwa schon in der Zukunft angekommen?

 

25 Sad Songs
Eine Revue von Thomas Krupa und Ari Benjamin Meyers
Konzept, Musik, Inszenierung: Thomas Krupa, Ari Benjamin Meyers, Musikalische Leitung: Stephan Kanyar, Rauminstallation: Andreas Jander, Kostüme: Ines Burisch, Dramaturgie: Carola Hannusch.
Mit: Ragna Guderian, Tom Gerber, Gerhard Hermann, Laura Kiehne, Ines Krug, Jan Pröhl, Musiker: Simon Camatta, Gunda Gottschalk, Stephan Kanyar, Tobias Schütte.

www.schauspiel-essen.de

 

Der in 1972 in New York geborene Musiker, Dirigent und Komponist Ari Benjamin Meyers lebt seit 1996 in Berlin, wo er unter anderem bisher auch an der Schaubühne und dem Maxim Gorki Theater gearbeitet hat. Alles über Thomas Krupa auf nachtkritik.de hier.

 

Kritikenrundschau

Vom dramaturgischen Handlungskonstrukt der "Sad Songs" sehe man wenig, man könne es aber dem Programmheft entnehmen, konstatiert Britta Helmbold in den Ruhrnachrichten (31.1.2011) ernüchtert. Die Schauspieler böten – "wohlwollend gesagt" – ihre eigenwilligen Interpretationen der Lieder dar, und die erzählenden Momente seien "recht spärlich und zudem ziemlich platt".

Britta Heidemann schreibt auf Der Westen (31.1.2011), dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Die Revue "25 Bad Songs" sei ein "großer Spaß". Was ist Melancholie, wollten die Forscher aus der Zukunft begreifen. So bizarr die Neuvertonung der "großen Gefühlstransporteure unserer Gegenwartskultur" wie Simon & Garfunkels "Boxer", Leonard Cohens "Hallelujah" oder Sinéad O'Connors "Nothing Compares 2 U" gegen den Strich gebürstet würden, "solange sie auf den Resonanzraum des Herzens und Gefühligkeit trifft, funktioniert die Idee". Allerdings ginge der Anspruch der Inszenierung, "Teil der neuen deutschen Protestkultur sein zu wollen" nicht auf, die Ernsthaftigkeit des Theatersterbens oder der Love Parade-Toten von Duisburg wiege dann doch zu schwer.

 

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