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Von russischer Schauspielwucht

von Daniela Barth

Hamburg, 31. Januar 2011. Volleyball. Männer und Frauen spielen sich eine Zeit lang wortlos über ein Netz einen Ball zu. Dann erscheint eine kleine, ältere Frau, die im zwar abgeklärten, aber doch tragischen Ton über ihre Vernichtung berichtet. Das wird sich wie ein roter Faden durch die ganze, dreieinhalbstündige Inszenierung ziehen. Wie auch das "Netz", das im Laufe des Abends als Absperrgitter von sibirischem Gulag wie auch deutschem KZ dienen wird. Das "Kleine Schauspielhaus" (Maly dramatitscheski teatr) aus St. Petersburg gibt sich auf Thalias Brettern die Ehre.

Das Gastspiel der vom Regisseur Lev Dodin geleiteten vielköpfigen Truppe zum internationalen Theaterfestival "Lessingtage: Um alles in der Welt" gerät zu einer Art epischen Botschaft - eine außerordentlich klang- wie kraftvolle Wiedergabe von Geschichte: Auf höchstem russischen Schauspielniveau. Ja, dabei liegt die Betonung auf "russisch", denn hier wird hautnah demonstriert, was es heißt, sich die Seele aus dem Leib zu schauspielen.

Ein Anruf von Stalin

Der von Lev Dodin als monumentale Adaption auf die Bühne gebrachte Roman "Leben und Schicksal" vom russischen Autor und Kriegsberichterstatter Wassili Grossman verhandelt vordergründig russische Geschichte. Zehn Jahre lang schrieb Grossman an seinem weit verzweigten Schlüsselroman, dem persönliche Erlebnisse und Erfahrungen zugrunde liegen. 1960 bot er den Text einer Zeitung zur Veröffentlichung an. Das Buch wurde sofort verboten, der Geheimdienst fahndete fieberhaft nach Kopien des Manuskripts, um seine Verbreitung zu verhindern.

Erstmals erschien es 1980 in Lausanne, während der "Perestroika" dann auch endlich 1988 in Moskau. Dieses vom Humanismus geprägte Epos erforscht analytisch und reflektierend-philosophisch die sowjetische Realität auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte, der Schlacht um Stalingrad, und deckt die nachfolgende Epoche des Antisemitismus im Totalitarismus auf.

Die geschichtlichen Fakten werden indes am Prüfstein der Güte und Entscheidung des Individuums gemessen. Der russisch-jüdische Atomphysiker Victor Strum (Sergey Kuryshev) ist 1943 mit seiner Familie aus der Evakuierung nach Moskau zurückgekehrt. "Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit." Ein Anruf, mit dem Strum nie gerechnet hätte: am Apparat ist Stalin. Dies bedeutet Strums Rehabilitierung als Forscher, kurz nachdem er im Zuge antisemitischer Machenschaften als Staatsfeind diffamiert und aus dem Moskauer Institut für Nuklear-Physik entfernt werden sollte. Der Wind hat sich gedreht...

Leben unter Mördern

Für Victor Strum eine schwierige Gewissensfrage: Freie Bahn zu haben für seine Forschung und gleichzeitig mit ansehen zu müssen, wie in Stalins Gulags Familienangehörige und Freunde als Volksfeinde terrorisiert und vernichtet werden. Die menschen-verachtenden und antisemitischen Parallelen von Nationalsozialismus und Stalinismus sind zentrales Thema. Wie verhält sich der einzelne Mensch inmitten dieser mörderischen Ideologien? Physiker Strum entscheidet hinsichtlich zu rettender Verwandter: "Sie tun mir leid, aber ihr Schicksal ist nicht das meine." Dennoch: In den Wirren dieser Zeit treffen Menschen aufeinander, die sich sonst nie begegnet wären, und es gibt so etwas wie die "menschliche Güte", unabhängig von religiösen und ideologischen Zielen.

Das Ensemble besteht aus 21 Akteuren, allesamt sind sie homogen integriert. Trotzdem scheint es, dass Victor Strum-Darsteller Sergey Kuryshev hier den Ton angibt. Mit für deutsche Sehgewohnheiten erstaunlicher Exaltiertheit und Körperlichkeit und das Russische auf faszinierende Weise tremolierend vibriert, schnurrt, schnarrt, plärrt und bebt dieser Mann auf den Brettern, dass einem beim Zuschauen fast schwindlig und beim Hören fast summend-schummrig wird.

Spielen nach Stanislawski

Eines der berühmtesten Beispiele für Konstantin Stanislawskis, des großen russischen Schauspiellehrers und Theaterreformers vom Anfang des 20. Jahrhunderts, Spielmethodik ist die Übung mit den Tennisbällen. Hierbei sprechen die Schauspieler während der Szene keinen Text, sondern formen die zu übermittelnde Aussage durch die Art des Ballwurfs zum Gesprächspartner.

Sei es Zufall oder nicht: Dass dies im übertragenen Sinne die Einstiegsszene von "Leben und Schicksal" ist, erscheint der deutschen Betrachterin jedenfalls als ausgesprochen bedeutungsvoll. Das "Maly Theater", das sich selbst auch als europäisches Theater begreift und schon zahlreiche Gastspiele in aller Welt absolviert hat, verleugnet seine Treue zu einer ehrwürdigen heimischen Tradition nicht. Der Leiter Lev Dodin probt ausgiebig, was nichts anderes heißt, als: jahrelang! Er setzt in seinen Proben für gewöhnlich jeden Schauspieler und jede Schauspielerin in allen Rollen ein. Wie "nach Stanislawski" üblich erobern sie sich den Stoff über die "Etüdenmethode": Sie graben sich relativ frei improvisierend in szenischen Etüden immer tiefer in den zu verhandelnden Stoff. So entstehen kollektiv erarbeitete vielfältige Text- und Spielvarianten. Die endgültige Rollenverteilung soll oft erst kurz vor der Premiere festgelegt werden.

Theatralische Flutwelle

Dieses totale Eintauchen garantiert auf der Bühne eine dichte und reichhaltige Aura. Und: Aus dieser Arbeitsweise erklärt sich wohl auch die epische Wucht, mit der uns diese Bühnenkomposition von "Leben und Schicksal" fast schon zu erschlagen droht. Dazu kommt, dass Regisseur Lev Dodin die Szenen ineinander verwebt und damit eine Art eigenartiges Zeit-Netz spinnt. Er hält sich nicht an die Chronologie, sondern springt in den Zeitebenen und Orten hin- und her, teilweise überlappen sie sich sogar oder laufen parallel.

Dieser Bühnenkosmos entfaltet die Wirkung einer theatralischen Flutwelle, die das in der Mehrzahl sehr aufmerksame Hamburger Publikum auf – naja – irgendwie ganz undeutsche Weise überrollt. Zeitweise droht man darin zu ersaufen – in dieser stundenlangen gewaltigen Fülle an Emotionen und Informationen und Requisiten. In seltsamem Kontrast dazu stehen die wirklich sehr nüchternen Übersetzungen aus dem Russischen, denen alle blumigen und verschachtelten Formulierungen, die diese Sprache, deren ungleich pompöse Poesie, so sehr ausmachen, schlichtweg fehlen. Schade eigentlich. Ungeachtet dessen: am Ende tosender Applaus für diese außergewöhnliche Aufführung.


Leben und Schicksal
nach Wassili Grossmann
Regie: Lev Dodin, Bühne: Alexey Poray-Koshits, Kostüme: Irina Zvetkova.
Mit: Elizaveta Boyarskaya, Igor Chernevich, Oleg Dimitriev, Oleg Gaianov, Pavel Gryaznov, Igor Ivanov, Anatoly Kolibianov, Alexander Koshkarev, Danila Kozlovskiy, Sergey Kuryshev, Alexey Morozov, Stanislav Nikolskiy, Maxim Pavlenko, Daria Rumyantseva, Oleg Ryazantsev, Vladimir Seleznev, Tatiana Shestakova, Elena Solomonova, Stanislav Tkachenko, Vladimir Zakharyev, Alexey Zubarev.

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

"Dodin gelingt es, Grossmans ausladendes Panorama aus dem Zweiten Weltkrieg zu bändigen", schreibt -itz im Hamburger Abendblatt (2.2.2011). Sein "eindringlich inszenierter, bewegend gespielter Appell an die Menschlichkeit" zeige im symbolischen Naturalismus der fast vierstündigen, immer wieder packenden Aufführung "auch die Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und kurzem Glück. Hungernde Häftlinge umlagern ein auf dem Eisenbett halb nackt sich umarmendes Liebespaar. Überdeutlich wird Dodins Botschaft: Dem Menschen das Recht auf sein Gewissen zu nehmen ist schrecklich."

Einen gewaltigen, aufrüttelnden Kraftakt erlebte auch Monika Nellissen, wie sie in der Welt (2.2.2011) schildert: "In breit angelegten Rückblicken, in Überschneidungen, dichten Verknüpfungen und kunstvollen Engführungen werden immer wieder die Grausamkeiten des Kriegs, werden Bilder von deutschen KZs und sowjetrussischen Gulags, von konspirativen Versammlungen und privaten Begebenheiten spielend eingeblendet. So entsteht trotz manch pathetischer Überzeichnung ein beklemmendes Panorama der Schreckenszeit."

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