Berauscht durch den Kamin gerutscht

von Simone von Büren

Zürich, 3. Februar 2011alt. Man wird hineingeschleudert in diese Inszenierung in einem Wirbel schnell kreisender Bilder  trinkende Münder, Katzen, ein weibliches Auge, Bakterien, Leuchtreklamen, Straßen, wogendes Meer, gegen Scheiben gepresste Gesichter, laufende Menschen. Zu einem gewaltigen Orgelklang stürzt einem die riesige weiße Wand, die saubere Fassade entgegen und enthüllt ein Wohnzimmer mit gold-schwarzen Tapeten, lila Teppich, gelbem Sofa. An die Rückwand projiziert sind in groben Pixeln ein Kamin und das Videobild eines fast identischen Wohnzimmers, auf dessen gelbem Sofa eine halbnackte Frau liegt.

Verdächtige Damenaccessoires nach einer durchzechten Nacht

Schichten überlagern sich in diesem Bühnenraum: 19. Jahrhundert und Gegenwart, Realität und Traum. Tatsächliche und projizierte Möbel. Aus einer futuristisch anmutenden Zeit-Raum-Kapsel mit infusionsähnlich installierten Alkoholflaschen schält sich - vom ersten Moment an wunderbar verwirrt  Klaus Brömmelmeier als Lenglumé. Der Protagonist von Eugène Labiches Gesellschaftskomödie "Die Affäre Rue de Lourcine" erwacht nach einer durchzechten Nacht mit Kopfschmerzen und rätselhaft schwarzen Händen und entdeckt in seinem Bett einen schnarchenden Fremden, der sich als sein alter Schulkamerad Mistingue (Miguel Abrantes Ostrowski) und angeblicher Erfinder der Baguette entpuppt.

Auch er hat schwarze Hände und nicht die blasseste Erinnerung an die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Pflaumenkerne, Kohlestücke und Damenaccessoires in den Hosentaschen der beiden steigern die Verwirrung. Als Lenglumés Frau (Carolin Conrad) in der Zeitung liest, es sei ein Mädchen in der Rue de Lourcine ermordet worden, verdächtigen die verkaterten Herren sofort sich selbst und setzen alles daran, Spuren und Zeugen zu beseitigen.

Mit Beschleunigung durch die Komödienkonventionen

Sebastian Baumgarten inszeniert das Stück  chronologisch und für seine Verhältnisse überraschend textgetreu  als wilden Rausch. In atemberaubendem Tempo jagt er die vier wendigen, spielfreudigen Darsteller durch die streng gebaute Handlung und zieht dabei alle Register der Komödienkonvention. Frech bedient er sich der Klischees: Der von Jan Bluthardt hervorragend verkörperte Diener Justin ist hier ein Kubaner mit schwarzer Maske, riesigen roten Lippen, erotischem Salsaschritt und einem halsbrecherischen Mischmasch aus Spanisch und gebrochenem Deutsch. Madame Lenglumé ist die mondäne Blonde in durchscheinendem Leopardenkleidchen und Stöckelschuhen. Das ermordete "Kohlemädchen" in der Rue de Lourcine wird zu einer jungen Schwarzen, die Lenglumé "armes Mohrenköpfchen" nennt.

Die schiere Menge der eingebauten Gags ist Programm. Worte und Silben werden vertauscht, Französisch und Deutsch wirbeln durcheinander, Figuren verheddern sich in ihren Sätzen. Es wird Kokain geschnupft und viel zu viel holländischer Curaçao getrunken. Perücken fliegen. Justin taucht aus dem Kamin auf, schlägt seine Vorgesetzten mit dem Staubwedel und wirbt von der Wand hängend für die Revolution. Der Vetter mit Spießer-Schnurrbart (Jan Bluthardt) hat ein steifes Bein. Auf dem Sofa im Video räkelt sich eine Bedienstete. Ein heftiger Schnee-Windstoß weht Madame in ihren rosa Pantöffelchen aus dem Raum. Unsichtbare Knöpfe öffnen Türen und verwandeln den Salon in ein Badezimmer. Und immer wieder spazieren Lenglumé & Co auf die Video-Ebene und stehen dort ein wenig verloren herum.

Schräg, unvorhersehbar, halluziniert

Zur surreal psychedelischen Atmosphäre der Inszenierung trägt die intensiv eingesetzte Tonebene maßgeblich bei: Christoph Clösers elektronischer Klangteppich wird ergänzt von eingespielten Klangeffekten: quietschenden Türen, Schlürfen, Schüssen, Gemurmel. Gedanken der Figuren werden über Lautsprecher eingespielt. Anstatt in Worten spricht der wütende Lenglumé in Brassband-Motiven zu seiner Frau. Immer wieder bewegen Figuren die Lippen, aber man hört nichts. Alles ist schräg, verschwommen, halluziniert. Alles ist rasant, bissig und unvorhersehbar.

Baumgartens Erfahrung mit der Oper kommt nicht nur in der Musikalität der Inszenierung zum Ausdruck, sondern auch in seiner Fähigkeit, große Gefühle mit einem höchst formalisierten Rahmen zu verbinden. Körper zittern zu einer Bach-Toccata, Worte zersplittern, choreographierte und verfremdete Bewegungen bleiben pulsierend lebendig. Gerade in dieser präzisen Geformtheit entfaltet das Überbordende der Aufführung sich lustvoll.


Die Affäre Rue de Lourcine
von Eugène Labiche, Deutsch von Elfriede Jelinek
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Tabea Braun, Musik: Christoph Clöser, Video: Stefan Bischoff, Dramaturgie: Andrea Schwieter.
Mit: Klaus Brömmelmeier, Miguel Abrantes Ostrowski, Carolin Conrad, Jan Bluthardt.

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu Sebastian Baumgarten gibt es nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Not amused zeigt sich Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (5.2.2011). Nach grandiosem Anfang streue Sebastian Baumgarten mit Bedacht viel Sand ins dramaturgische Präzisionsuhrwerk dieser Komödie, und lege verschiedenen Deutungsfallen aus. Dabei lasse Baumgarten nichts aus, "keine politische Unkorrektheit, kein Frankreich-Klischee, keine Kalauerkette, keine Slapstick-Keule". Doch der hochtechnisierte, heißlaufende szenische Aufwand führt aus Klaeuis Sicht nirgendwo hin und bleibt deshalb Staffage. "Baumgarten setzt auf Komik von aussen, in der Ausstattung, in szenischen Gags, in stilistischen Manierismen: eine Komik wie Geschenkpapier, die pure Dekoration. Sie entzieht dem Stück seine eigentliche Energie, ohne etwas dagegenzusetzen."

 

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