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Götterkrach im Haus der Sprache

von Christian Rakow

Berlin, 4. Februar 2011. "Io!" – ist es der markerschütternde Klageschrei, den man uns heute entlockte? Nein, nicht "Io!". Sondern: "Yo!" sagen wir zu dieser "Antigone" und ihrem Chor, der war wie lange keiner. Yo! Zwei Schlagzeuge wuchten die Hölderlin'schen Chorverse voran, vom Hämmern zweier Klaviere gesäumt. Der Abend führt durch ein Spalier aus Sound und Licht und Nebel; die harten Breaks der Songs sind Spießroutenstöße. "Thebe erschütternd, herrsche der Bacchusreigen!"

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Christoph Gawenda ©Arno Declair

So orakelt Peter Thiessen, der Hohepriester des Pop, und treibt Kante, seine – was eigentlich? – Hamburger-Schule-, Indierock-, Post-Indie-Band, auf olympische Gipfel. Sie sind kein bedächtiger Thebaner Bürgerchor, sondern ein schlaksig cooler Dionysiostrupp. Götter der Entgrenzung – aber mit gebügelten Hemdskragen.

Identitätsstück für Männer

Regisseurin Friederike Heller hat ihre alten Companeros von Kante zum zweiten Mal binnen Jahresfrist in die Schaubühne gerufen. Wie schon im Guten Menschen von Sezuan steht mit "Antigone" ein Abiturstoffklassiker auf dem Programm. Wieder mit Flitter, Travestie und lässig poppiger Attitüde. Wieder in einem funkelnden Konzertset, anstelle eines klassischen Bühnenbildes (Ausstatterin Sabine Kohlstedt tobt sich in glitzernden Glamrockkostümen der Protagonisten aus). Aber was hat der durchgängige V-Effekt, der bei Brecht noch so schön passte, hier im antiken Drama verloren? Die LehrerInnen werden einiges zu diskutieren haben.

Es lohnt die Mühe. Denn anders als in ihrer Brecht-Verlegenheitslösung sind Heller dieses Mal die Hände nicht durch allzu enge inszenierungsrechtliche Vorgaben gebunden. Also seziert die Regisseurin wie mit chirurgischem Skalpell den Stoff, rafft Szenen und schneidet sie virtuos ineinander. Und im Ergebnis ist der alte Sophokles nicht bloß wieder belebt, sondern springt uns als eine von modernen Diskursen gesättigte Novität an. Ein Identitätsstück für Männer und andere Sorgenfälle hat Heller der sophokleischen "Antigone" abgewonnen. Ein postfeministisches Lehrstück von hinten durch die Brust ins Auge geschossen.

Therapiemodell auf dem Prüfstand

Keine Frau nirgends. Mastermind Peter Thiessen bittet seine ausschließlich männlichen Mitstreiter zur Gruppentherapiesitzung. Vermutlich sind sie Väter ohne Sorgerecht, vielleicht auch Resozialisierungsfälle aus kleinkriminellem Milieu. Jedenfalls hängen ihre Schultern beträchtlich tief herab. Angesprochen werden sie wie Trauma-Patienten. Im "Selbstfindungskurs" sollen sie die Ödipussage nachstellen. "Wir spüren die Energie", raunt Thiessen, während sich seine Bandmitglieder mit sprödem Charme als Figuren hin und her drapieren. Heiterkeit ergreift den Saal. Sie wird in regelmäßigen Schüben wiederkehren.

Aus der unbeholfenen Männergruppe kristallisieren sich die Protagonisten heraus: Christoph Gawenda, ein Jüngling mit Falkenblick und weich geschwungenen Lippen. Er übernimmt die Rolle von Antigone, die Boten, Eurydike und bei Gelegenheit auch Kreon. Sein Widerpart Tilmann Strauß, mit zartem Oberlippenbart, mimt Kreon und beizeiten dessen Sohn Haimon. Den Seher Teresias übernimmt er mit einer kuscheligen, schielenden Handpuppe. Die beständigen Rollenwechsel der beiden Akteure haben Methode. Denn im Tragödienspiel im Spiel soll das zuvor angelegte Theatertherapiemodell auf den Prüfstand kommen. "Nimm es an", "Spüre die Energie", "Was weh getan hat, wird erinnert", kommentiert Thiessen als Selbstfindungsguru ihren Erfahrungstrip.

Egalitätsgebot hinterm Erkenntnisspiel

Tatsächlich wirkt die Show bis kurz vor Kreons Schicksalswende wie eine psychoanalytisch inspirierte, launige Reminiszenz auf Aristoteles' Seelenreinigungsversprechen. Die Tragödie offenbare und nivelliere die narzisstischen Fixierungen ihrer Helden. Wo "ein jeder das gleiche Recht habe, dazu zu gehören", dürfen mächtige Köpfe eben nicht zu hoch herausragen. Das ist das Egalitätsgebot hinter dem Erkenntnisspiel. Ihm widerstreitet aber ein zweites Therapieziel, das vom Ego-Performer fordert, "Rangordnungen" einzuhalten. So doziert Guru-Vater Thiessen, während Strauß' Kreon kleinkindlich auf seinem Schoß zittert. Die Bedürfnisse nach Gleichheit und nach starken Hierarchien – wer vermag, zwischen diesen Malsteinen der Familie wie der großen Politik ungeschoren hindurch zu kommen?

Spätestens an diesem Punkt drängt es die Inszenierung aus der engeren Seelenklempnerei heraus. Sie will auch die gesetzten Ordnungen nach ihrem Ausgangspunkt befragen. In "Antigone" erlebten wir die göttliche Behauptung einer Liebe (zum Bruder Polyneikes), die nicht in einer konkreten symbolischen Ordnung (Kreons Gesetz) aufgeht. Sie bedeute mithin die "Rückkehr zu einer unauslöschlichen vorsprachlichen Ontologie". So liest man im instruktiven Programmheft Judith Butler über Jacques Lacans "Antigone"-Deutung.

"No Future" einmal anders

Etwas von diesem metaphysischen Furor setzt das Finale dieses Abends frei. "Lasst uns aus dem Theatersaal einen Tempel der Vergessenheit machen", beschwört Thiessen die Menge, uns. "Oh, Sohn des Dionysios, werde offenbar", singt er. Gawenda erscheint als burleskes Revuewesen Eurydike mit Pfauenfederhut und Absatzstiefeln und verkündet den Tod Antigones und Haimons. Und während die Band in schallenden Punkrock wechselt, senken sich Scheinwerferstangen vom Schnürboden herab, bilden eine Lichttreppe gen Himmel.

Darunter krümmt sich Kreon und brüllt: "Io, unsinnige Sinne!" Das ist "No Future" einmal anders. Ein Götterkrach lässt das Haus der Sprache und des Sinns einstürzen. Das Chaos unverbraucht – es ist die beste Zeit.


Antigone
von Sophokles, Deutsch von Friedrich Hölderlin
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Kante, Musikalische Leitung: Peter Thiessen, Dramaturgie: Bernd Stegemann.
Mit: Christoph Gawenda, Tilman Strauß.
Flügel, Trompete: Thomas Leboeg, Klavier, Percussion: Michael Mühlhaus, Percussion, Gitarre: Felix Müller, Gesang, Harmonium, Gitarre: Peter Thiessen, Schlagzeug, Percussion: Sebastian Vogel.

www.schaubuehne.de


Mehr zu Friederike Heller gibt es im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Als "Pseudomusical" und "zwei Stunden schlimmstes Dekunstruktionstheater" verreißt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.2.2011) die Inszenierung. Anlass für den verspäteten Verriss ist Dimiter Gotscheffs "respektvoll beharrliche" Hamburger Antigone, mit der Bazinger Friederike Hellers "absonderlich überspannter" Version gemeinsam bespricht. Weder bei Gotscheff allerdings noch bei Heller finde Antigones Tragödie noch statt. Auch "was sie bewegt hat, scheint niemanden sonst zu bewegen", stellt die Kritikerin fest. Heller jedoch erleidet aus ihrer Sicht im Gegensatz zu Gottscheff "völligen Schiffbruch". Bei ihr stehe die Band 'Kante' im Mittelpunkt, die sich Friedrich Hölderlins Übersetzung der 'Antigone' zu krawalliger Rockpoesie zusammengeschustert hat und mit lärmendem Klangbrei verschmiert. Ständig ist ein Mikrofon für ihre Schreie, ihr Flüstern bereit - bis Kreon unwirsch den Stecker zieht und Antigone unplugged in den Tod gehen muss."

Unter harmlos verbucht augenscheinlich Elmar Krekeler auf Welt-online (28.2.2011) Friederike Heller Inszenierung, dem freilich auch der Ansatz ihres Zugriffs nicht ganz einzuleuchten scheint. Auch dieser Kritiker bespricht die Berliner Antigone aus Anlass von Dimiter Gotscheffs Hamburger Variation. Antigone ende an der Schaubühne als Tragicomical, schreibt der Kritiker, "mit der durchaus erschreckenden Musik der Hamburger Halbkultband Kante, die den antiken Chor der Aufführung gibt. Dazwischen ereignet sich ein diskursgewaschenes Stück über Andersartigkeit und Blutverlust und Machtverschiebung in einem System. Judith Butler geht um, aber keine aktuelle Empörung scheint auf. Auch die Rezitation des Hölderlintextes verläuft dem Eindruck des Kritikers zufolge nicht immer ganz unfallfrei.

"Jeder, der zur Familie gehöre, sei gleich wichtig. Wird jemand ausgegrenzt, vergessen, verleumdet, also nicht geehrt, gerate das ganze System durcheinander", so stellt Peter Thiessen, Sänger und Gitarrist von Kante, seine Sänger und die beiden Schauspieler auf der Bühne auf, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (6.2.2011). Was folgt sei vor allem amüsant, "aber es ist eben auch unheimlich. Regisseurin Friederike Heller macht sich zwar über den Familienaufstellungs-Ritus lustig, aber auf so zurückhaltende Weise, dass noch gehörig viel von dessen Unbedingtheits-Impetus spürbar wird." Nach der Intensität des Anfangs werde es dann zum Schluss wieder spannend. "Wie sich Peter Thiessen nun Kreon vorknöpft, um das wimmernde Häufchen Elend durch Demut aus dem Zirkel der Schuld in die 'Ordnung der Liebe' zu führen und das ganze Spektakel schließlich in einem dionysisches Fest des Kraches münden zu lassen - das erlebe man am besten selbst."

"Wie viel Textmasse vom Original in den Songs und Sketchen übrig ist, bleibt Hellers Geheimnis", so Eleonore Büning in ihrer Doppelbesprechung mit der "Antigone"-Opern-Inszenierung in der FAZ Sonntagszeitung (6.2.2011). "Sieben junge Männer stellen sich im Kreis auf und beginnen mit der Selbsterfahrungsgruppensitzung. Es handelt sich um eine therapeutische Familienaufstellung zum Ödipuskomplex." Bei der dürfe, nein müsse gelacht werden. Wenn sich die Musiker zurückziehen, müssen die beiden Schauspieler, Strauß und Gawenda, allein klarkommen mit ihrer multiplen Rollenaufteilung. Das Thema der Sitzung laute fortan: Der Einzelne und die Gemeinschaft." Als Antigone (Gawenda) im Grab verschwindet, wallen revuereif Trockeneisnebel zur Lightshow. Atemraubend auch die Bodenturnernummern, wenn die beiden sich immer wieder blitzschnell unter den Silberascheregen legen, den sie selbst in die Luft werfen. Am Ende senkt sich große Einsamkeit über die Szene, nur die Musik bleibt stehen."

"Desillusionierungstheater, Theater der grausamen Dekonstruktion" erlebt Jürgen Otten für die Frankfurter Rundschau (7.2.2011) schon im Prolog dieses Abends und kann dem postmodernen Antikenkommentar auch im Folgenden wenig abgewinnen. Besonders schlecht kommt die Band Kante weg: Heller vertraue "mit einem irritierenden Maß an Verkrampftheit auch an diesem verkorksten Abend auf die Kunst der Musiker, die aber gar keine Kunst ist, sondern nur eine Alibi-Kunst. Die Herren können weder singen noch besonders gut spielen, jede Studentenband hat dergleichen drauf. Und selbst wenn diese reichlich dilettantische Dudelei beabsichtigt wäre, wäre sie höchstens als dramaturgische Spinnerei schlüssig." Im Ganzen "zerrieselt die 'Antigone' in blankem Aktionismus", wobei zwischendurch "ein bisschen seminarisiert" werde.

"Konzeptkabarett" ist dieser Abend für Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (7.2.2011). Das "Männerhinterfragungsstück" biete in Gawenda und Strauß zwar zwei erfreuliche Hauptdarsteller auf, die die Hölderlin-Verse "in seltener Klarheit vorzutragen verstehen". Allein die beiden können nicht verhindern, dass das große "Revolutionsdrama über die 'Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen'" (mit Hölderlin gesprochen) an diesem Abend nicht stattfindet. Schuld hieran ist wiederum die Band Kante: "Heller ließ es sich auch gefallen, die Chorpassagen an die Hamburger Schnuddel-Indie-Rock-Band Kante zu vergeben, was diese als Einladung missverstanden, dem Tragödienspiel einen sentimentalischen Klangteppich auszurollen. (...) Es ist eine gedanken- und gemütsschlichte, genauigkeitslose, gefühlsduselige Musik, die nicht aus dem Stoff entwickelt, sondern ihm aufgepappt wurde. Statt Anarchie und Rausch in die Tragödie zu holen, versenkt Kante sie in den Sofakissen des Knuddel-Rock."

Durchlitten hat Lothar Müller Hellers "Antigone", wie er in der Süddeutschen Zeitung (8.2.2011) geradezu antikisch klagt: "Es gibt hier keine Gräberwelt, keine Polis, kein Hinabsteigen Antigones vom Taghellen in die Totenwelt, kein Echo auf Sophokles, für den die Bestattungsriten zum Kern der Demokratie gehörten und Kreon ein Tyrann war, weil er sie missachtete. Es gibt nur ein wenig Glitter für die Toten und die Tyrannei der kitschigen Musik auf Kosten der szenischen Phantasie. Das wirkt sehr 'live' und manchmal lustig. Das Traurige an solchen Abenden aber ist: Man schaut einer sterbenden Kunst zu." Der "Furor der Verfremdung und der Furor des entfesselten Kitsches." Im Selbsterfahrungsgruppen-Einstieg stecke die Einsicht: "Wir leben in einer Welt nach Freud, wir müssen aus der Scheinvertrautheit, die jeden Sohn mit Ödipus, jede Familie mit den Labdakiden verbindet, erst wieder herausfinden, um die antike Tragödie entdecken zu können. Aber der Inszenierung geht es nicht um dieses Herausfinden. Es geht ihr um ein wenig Nachhilfeunterricht, der seine Didaktik maskiert, und um die Austreibung des Tödlichfaktischen der griechischtragischen Worte."

Das bisschen Angst, das Kirsten Riesselmann vor dieser "Antigone" hatte, "weil man es immer noch merkwürdig findet, wie viele ehemalige Lieblingsbands zu Bühnenbeschallern mutieren", war ganz unbegründet. Die Unternehmung Hellers sei "formidabel" gelungen, schreibt sie in der taz-Berlin (9.2.2011). Die "Rhythmik und Üppigkeit der Hölderlin'schen Übersetzung" bekomme in der Kante-Vertonung "einen erstaunlichen Mehrwert (und der sprachliche Duktus der alten Hamburger Schule eine historische Deckel-auf-Topf-Referenz!)". Was zunächst "viel zu dick orchestral aufgetragen wirkt", finde später "im deliranten 'Bacchusreigen' zu einem großen musikalischen wie auch aussagetechnischen Höhepunkt". Dazu bewegten sich die beiden Schauspieler "behände um das Gravitationszentrum 'Band' herum. (...) Es ist großartig, wie Silberglitter und Federboas aus den beiden slackrigen Jungs Rollenspieler machen, die der größten zwischenmenschlichen Problemzone auf den Grund kommen: dem allzu fest gefügten Ich." Und trotz Lacan und Butler im Hintergrund sei die Inszenierung nie überfrachtet, "immer liegt die Persiflage des eigenen Ansatzes durch die Küchenpsychologie in der Luft".

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