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Von Pontius bis Pilates

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 12. Februar 2011. Michail Bulgakow wurde die Ungnade des frühen Künstlertodes zuteil. Zuvor litt er, der ehemalige Erfolgsautor der Moskauer Theaterszene, unter stalinistischer Zensur und Publikationsverbot. Den Erfolg seines großen Romans "Der Meister und Margarita" verpasste er um 26 Jahre. Dessen Veröffentlichung im Jahr 1966 war eine literarische Sensation, nicht nur in der von politischen Frühlingsbrisen durchwehten Sowjetunion. Die Rolling Stones ließen sich von Bulgakows satirischem Text inspirieren. Und der Song "Sympathy for the devil" bringt es eigentlich ganz gut auf den Nenner, worum es Bulgakow in diesem Werk vor allem ging: um eine literarische Abrechnung. Um Genugtuung durch einen luziferischen Rachegeist. So viel Biographismus darf sein: Bulgakow lässt auf dem Papier den Teufel tüchtig aufräumen mit der Borniertheit in einem erstarrten System, wo Denunzianten, Parteibonzen und Kunstfunktionäre seit den späten 1920er Jahren Stalins Doktrin bis zur Lächerlichkeit perpetuieren.

Sympathy for the devil und des Teufels Führungsqualitäten

Ja, der Fürst der Finsternis ist bei Bulgakow grundböse, aber auf eine befreiend einnehmende Weise. Außerdem gehorcht der Teufel nur sich selbst, was ebenfalls reizvoll ist, er ist nicht wie Goethes Mephisto ein Abgesandter "jener Kraft" oder - wie wir - irgendein Angestellter irgendeines Satans. Diese Unabhängigkeit verdient Respekt.

Christian Weise, der Regisseur, sieht das ähnlich und vertraut Corinna Harfouch die Rolle des Voland an, die glatzköpfig und mit herrischen Gesten beneidenswerte Führungsqualitäten mehr als nur andeutet. Dieser verführerische Dämon im eleganten Zweireiher und Schlag an der Hose hasst nur die Langeweile noch mehr als jede kleinbürgerliche Attitüde und sagt schon mal wie einst Lieutenant Kojak mit unfassbarer Lässigkeit "Das ist ja entzückend!".

Die Bühne von Volker Hintermeier ist zunächst eine naturalistisch anmutende Wohnküche samt Glasveranda, wo die Tristesse haust, zwischen angeschimmelten Wänden und angerußten Ofenrohren die Figuren die dunkle Enge ihrer fragwürdigen Existenz wie auch Stalins Konterfei an Flurwand ständig vor Augen haben. Ein Fenster offenbart schummrig-deprimierende Lichtverhältnisse. Manchmal donnert es oder es hängt Unheil verkündender Musiknebel im Raum. Draußen tröpfelt was, während drinnen der Wodka fließt und es zwieblig müffelt. Man isst und säuft und brüllt häufig "Na Sdarowje". Aber es sind keine Schicksalsfreunde, die sich in dieser angedünsteten Atmosphäre angiften, sondern Heuchler wie Berlioz, der schwergewichtige Kritiker, den Philipp Otto stark ausgepolstert und mit Lederflicken am kleinkarierten Sakko als selbstzufriedenes Mastschwein des Staatsfeuilletons gibt.

Befreiung vom Leid an der sowjetischen Welt

Diese Wohnung ist allerdings auch das Zuhause des selbsternannten Meisters (Toni Jessen), welcher ein Buch über Pontius Pilatus geschrieben hat, tiefreligiöser Stoff, der dem eingebildeten Atheismus der Kultur- und Tugendwächter ketzerisch erscheint, konterrevolutionär. Der Meister wird irr an seinem Manuskript und stakst in ausgeleierten Unterhosen und Kopfverband täppisch umher, nur die schöne Margarita (Nadja Stübiger) glaubt noch an ihn und seine Kunst. Es ist wahre Liebe, die zum Tode und darüber hinaus führt: zur Erlösung. Voland samt Gefolge befreit die beiden von ihrem Leid an der sowjetischen Welt.

Die Pilatus-Passagen, die Bulgakow als Erzählung in den Roman eingebettet hat, werden in der Veranda mit Puppen gespielt und per Handkamera auf eine Leinwand projiziert. Jeschua Ha-Nozri endet wie Jesus am Kreuz, Pilatus kennt keine Milde - doch Jeschuas Glaube ist unerschütterlich. Für diese Botschaft strafte die Zensur Bulgakow ab, der nicht im Historischen Materialismus, sondern in der himmlischen Ewigkeit das Ziel des Menschen erkannt hat. Mit Jeschuas Worten: "Das Reich der Wahrheit wird kommen!"

Puppenspiel, Kostüme und voller Körpereinsatz

Was für ein messianischer Satz. Irritierend, nicht nur damals. Möglicherweise war der Regie die gute Nachricht dann doch einen Tick zu eifernd, weshalb Christian Weise das Stück nach einem überzeugenden Anfang schließlich ins Burleske und Trashige gleiten lässt, die Distanzierung durch das Puppenspiel reicht ihm da wohl nicht. Er sucht nach überzeugendem Anfang Zuflucht in der opulenten Bebilderung einer Halluzination, die das Alter Ego Bulgakows, Iwan (Lukas Rüppel), ein schizophrener Lyriker, von Zeit zu Zeit aus der Zwangsjacke zuckend herausbrüllt. Tatsächlich kann man den Text so lesen: als phantastischen Roman, das Gefasel eines Delirierenden.

Wir sollen geifernd lachen, denn der Mensch ist ein unheilbarer Patient und schlechter Witz. Tun wir aber nicht. Weise übertreibt es nämlich und macht aus dem Ganzen im Laufe des dreineinhalbstündigen Abends eine verkrampfte, ermüdende Rocky-Horror-Picture-Show zu den Songzeilen der Stones. Dafür plündert er den Kostümfundus und verkleidet die Figuren bis zur Unkenntlichkeit bei vollem Körpereinsatz. Erst Pontius, jetzt Pilates. Karneval statt Katharsis. Das Ensemble spielt nun in einer aufgesprengten, tiefen Bühne beherzt an gegen Strapse, Plateaus, Sepplhüte, Spitzentütü und rutschendes Zweithaar, was zwangsläufig zu Rollaugen und Wackelköpfen führen muss. Und längst nicht nur bei denen auf der Bühne.


Der Meister und Margarita
nach dem Roman von Michail Bulgakow, deutsch von Renate und Thomas Reschke
Regie: Christian Weise, Dramaturgie: Christian Holtzhauer, Bühne: Volker Hintermeier
Musik: Jens Dohle, Kostüme: Andy Besuch, Animation: Julia Oschatz.
Mit: Nadja Stübiger, Corinna Harfouch, Lotte Ohm, Kora Tscherning, Sebastian Arranz,
Johannes Benecke, Boris Koneczny, Toni Jessen, Lukas Rüppel, Michael Stiller, Philipp Otto, Cornelius Schwalm, Jens Dohle.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr zu Christian Weise gibt es im nachtkritik-Archiv. Bulgakows Der Meister und Margarita wurde im Dezember 2010 auch von Viktor Bodó in Graz inszeniert und im April 2008 von Sebastian Baumgarten in Düsseldorf.

 

Kritikenrundschau

Das Stuttgarter Staatstheater habe den Beweis erbracht, "dass der fast vierhundertseitige Schinken trotz seiner surrealen Elemente spielbar ist", schreibt Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (14.2.2011). Christian Weise und Christian Holtzhauer hätten "eine Fassung erarbeitet, welche die gegeneinander geschnittenen Handlungsstränge plausibel macht". Doch Weise schaue nicht, "was sich aus dem Text herausholen lässt, sondern wie er ihm seine eigenen Einfälle und Assoziationen überstülpen kann". Er zitiere Pop- und Filmgeschichte, das Ergebnis aber sei "eine Mischung aus Trash und Tirolerhut. Auch das multimediale Crossover funktioniert letztlich nicht". Das Ganze sei "Holzhammertheater, platt und grobschlächtig, ohne ästhetische Linie, ohne dramaturgisches Konzept. Nichts als Stückwerk, das sich von Szene zu Szene hangelt - und sich dabei in den eigenen Ideen oft selbstverliebt verliert." Ein Lichtblick sei Corinna Harfouch als Satan, "bei der auf allzu plumpe Klischees verzichtet wurde. Sie gebe "eine Ahnung, wie dieser Abend hätte geraten können, wenn die Figuren, die Schauspieler und die intellektuelle Dimension des Romans mehr Raum bekommen hätten".

Volker Hintermeiers Bühnenbild sei, "zusammen mit den Animationsfilmen von Julia Oschatz, ein Höhepunkt der Inszenierung" und schaffe es erst, "Bulgakows phantasmagorisches Epos vor dem Publikum erstehen zu lassen", schreibt Thomas Morawitzky in den Stuttgarter Nachrichten (14.2.2011). Das Stück selbst, "das noch als konventionelle Groteske begann", verwandele "sich zusehends in einen einzigen hysterischen, körperlichen Exzess: Tische fallen um, Figuren verlieren den Verstand, Schauspieler zittern und schreien und fallen übereinander her, die Ordnung verabschiedet sich. Das allerdings ist ausgesprochen unterhaltsam. Rund drei Stunden dauert dieses Spektakel - langweilig sind sie nicht."

"Die Anstrengung ist enorm, das Desaster auch", beginnt Egbert Tholl seine Kritik in der Süddeutschen Zeitung (16.2.2011). Bulgakows Roman auf die Bühne zu bringen, sei an sich schon "ein Unterfangen, dem eine gewisse Hybis innewohnt". Bulgakows Buch sei "ein irrsinniger Rausch, das den Leser in einen machtvollen Strudel zieht". Weise nehme "von dieser wundersamen Zwiebel der Fabulierkunst die äußerste Haut und erzählt in einem pittoresken Bühnenverhau völlig naiv Ausschnitte von dem, was man an äußerer Handlung im Roman erkennen kann. Die armen Schauspieler buchstabieren sich als kümmerliche Chargen durch einen Quatsch ohne Boden, der Denkkosmos Bulgakows ist Weise schnurz." Dem Regisseur gehe es nur "um vordergründige Albernheiten, die öden und enervieren, wenn man nicht mitteilt, woher die Spinnerei kommt". Er scheitere "intellektuell am Roman und handwerklich an seinem eigenen Tun". Das Personal sei einfach "nur grell, scharf, nackt oder doof, von Bulgakows zärtlicher Liebe zu seinen Figuren ist nichts spürbar". Immerhin, eine "doch teuflisch gute, ungemein schillernde" Corinna Harfouch hat Tholl gesehen. "In ihr ist spürbar, wohin der Abend hätte gelangen können."

 

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