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Soll man Mörder trösten?

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 15. Februar 2011. Die Romanisierung der deutschen Bühnen ist nicht aufzuhalten. Fallada hier, Gontscharow dort. Überall keimen und sprießen sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten: die Dramaturgen-Adaptionen berühmter Prosawerke, ob alt oder neu, ob Hochliteratur oder leichte Kost. Als hätte die heutige Autorengeneration das Dramenschreiben verlernt. Am Stuttgarter Staatstheater gibt's jetzt sogar einen Bestseller-Krimi aus Italien zu sehen.

Der Titel ist immerhin gut: "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" von Massimo Carlotto. Seine Thematik ist brennend aktuell in Zeiten, da Kindesmörder vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage erheben können, weil ihnen im Verhör Prügel angedroht wurde – während die Namen ihrer Opfer schnell in Vergessenheit geraten. Es geht in Carlottos Roman um die Banalität des Bösen und die Folgen eines Gewaltverbrechens sowohl für die Täter als auch für das Opfer. Um die Fragen nach dem Recht auf Begnadigung und Resozialisierung und warum der Staat sich um die Täter kümmert, die Opfer aber in ihrem unermesslichen Leid alleine lässt.

Gnadengesuch und Rachedurst

Bei einem Raubüberfall wurden eine Mutter und ihr Kind erschossen. Raffaello Beggiato wurde gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt, sein Komplize entkam mit der Beute. Die eigentliche Handlung beginnt 15 Jahre später: Der Inhaftierte ist unheilbar an Krebs erkrankt und versucht nun, Silvano Contin, den Mann der Ermordeten, dazu zu bewegen, ein Gnadengesuch für ihn zu stellen. Contin unterschreibt, aber nur wegen der Chance auf Rache. Vergeben kann er nicht, leben schon lange nicht mehr. Das Opfer wird zum Täter: Contin erfährt den Namen und den Wohnort des verschwundenen Komplizen, setzt ihn und seine Frau unter Druck und tötet schließlich beide in einem Gewaltexzess. Beggiato, endlich frei, erkennt, dass er von Contin hereingelegt wurde, und gibt auf. Er nimmt Contins Morde auf sich, geht zurück ins Gefängnis, wo er bald stirbt. Contin flieht ins Ausland.

Einsicht in ihr Verhalten, Schuldeingeständnisse, sind von beiden nicht zu erwarten. Weder Beggiato noch Contin fühlen sich für ihr Morden verantwortlich. Als Beggiato dem Kontrahenten mitteilt, er selbst sei der Mörder seiner Familie, Contins Rache habe also die Falschen getroffen, bleibt dieser emotional völlig unberührt.

Vereinzelte Skandierer

Im neuen Probenzentrum Nord am Löwentor hat man das intime Foyer als Spielort für Carlottos düsteren Krimi gewählt: Einen engen Raum mit Betonwänden, in dem etwa 50 Zuschauer Platz haben, links die Bar, rechts die Fensterfront, in der Mitte eine Mini-Spielfläche. Kein schlechter Ort für den theatralen Blick in menschliche Abgründe. Doch die Umarbeitung der Prosa in 70 Minuten Drama will nicht funktionieren.

Das liegt nicht an den Darstellern, die sich redlich bemühen, das dramatische Potential aus dem Erzählten herauszuholen. Regisseurin Catja Baumann stellt das vierköpfige Ensemble aber meist frontal zum Publikum, lässt es vereinzelt skandieren, rezitieren, sprechen – ob nun Contin detailliert seine Morde schildert, Kommissar Valiani (Boris Burgstaller) Anklage gegen Beggiato erhebt oder die Prostituierte Giorgia (Katharina Ortmayr), Beggiatos Geliebte, sich bückt, um sich auch von Contin besteigen zu lassen.

Stille, die tief trifft

Ensemblespiel: Fehlanzeige. Fast nichts lenkt ab von der Sprache. Aber Carlottos Sprache erträgt die völlige Nacktheit auf der Bühne nicht. Sie verrät schnell ihre Oberflächlichkeit. "Samstags betrinke ich mich. Mir genügt der Wein im Karton", sagt Contin, "der Geruch des Leichenschauhauses hat sich auf meinen Gaumen gelegt. Dann setze ich mir die Kopfhörer auf, um meine Nachbarn nicht zu stören, und höre Musik von den Pooh. Die hat Clara geliebt". Solch platte Bilder haben nicht die Kraft, den immensen Schmerz zu offenbaren, der Contin in den Blutrausch treibt. Müsste Sprache hier nicht wehtun, schneiden, sezieren? Das latent Gewalttätige kann Carlottos Sprache allein nicht zu Tage fördern.

Wollte man den Roman angemessen auf die Bühne bringen, müsste man wohl auf Splatter setzen. Da fügte sich dann auch der larmoyante, uneinsichtige, prollige und dauergeile Raffaelo Beggiato (etwas zu nett: Bijan Zamani) gut ein, der mit so delikaten Sätzen wie "Fünfzehn Jahre durchgehalten für nichts und wieder nichts. Jetzt hab ich einen Doppelschwanz im Arsch. Den Krebs und Contin" zu unterhalten weiß.

Dennoch: Es gibt ihn an diesem Abend, den großen Theatermoment. Wenn Jens Winterstein alias Silvano Contin sich immer mehr echauffiert über die Bevorteilung der Täter: "Nirgends steht geschrieben, dass Trost zur Strafe gehört. Trost gebührt den Opfern", brüllt er und wird immer noch lauter: "Kein Mensch hat mich irgendwann getröstet. Ich bin irre vor Schmerz. Und vor Wut." Und dann herrscht plötzlich Stille, lange Stille, jene vieldeutige Horvath'sche "Stille", die tief trifft. Da ist das Theater endlich ganz bei sich, und der Roman darin aufgehoben.

 

Die dunkle Unermesslichkeit des Todes (UA)
nach dem Roman von Massimo Carlotto in einer Bearbeitung von Catja Baumann und Beate Seidel
Regie: Catja Baumann, Bühne und Kostüme: Mari-Liis Tigasson, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Katharina Ortmayr, Boris Burgstaller, Jens Winterstein, Bijan Zamani.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr über die Arbeiten von Catja Baumann im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Die Verwicklungen, die ein Kriminalroman über Hunderte von Seiten ausbreitet, sind das eigentliche Problem der Adaption", so Hannelore Schlaffer, die für die Stuttgarter Zeitung (18.2.2011) in der Premiere war. Um die Motive dieser Mordverdächtigen einsehbar zu machen, müssen viele Ereignisse erzählt werden, und das erzwinge lange Monologe. Dann aber entwickle sich ein Psychodrama, bei dem sich die Enge der Spielfläche als großer Vorteil erweist. "Die Figuren prallen hart im Raum aufeinander, sie brauchen wenig Bewegung, um sich immer aufs Neue durch ihre Kontrahenten herausgefordert zu sehen. Während die Schauspielkunst heutzutage nur allzu oft auf weiten Bühnenböden hinweggeturnt wird und die Schauspieler ihr mimisches Können vor lauter Gymnastik nicht zeigen können, verweist sie der kleine Raum auf nichts als auf die Kunst, für die sie zum Theater kamen."

Die Dialoge sind sehr personenbezogen, es genügen die Blickkontakte. Im Zentrum des Romans wird gezeigt, wie ein Opfer zum Täter werde, so Armin Friedel in den Stuttgarter Nachrichten (18.2.2011). Die Darsteller spielen sehr gelassen, "umso unberechenbarer sind dadurch die Wendungen der Handlung".


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