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Überfülle der Wahrnehmung

von Regine Müller

Köln, 18. Februar 2011. Ein wiederkehrendes Ritual durchzieht den Abend: Die Bühne ist dunkel, auf der großen Videoleinwand ist ein rauer, menschenleerer Strand zu sehen, die Brandung rauscht. Ein Feuerzeug leuchtet auf, jemand zündet sich eine Zigarette an, dann wird ein altmodisches Tischlämpchen angeknipst. Eine Frau in Schwarz sitzt neben der Lampe an einem langen Tisch und verliest einen Text. Eine andere Frau schreibt auf eine Schultafel eine Jahreszahl, einen Ortsnamen oder "15 Jahre später", während eine Videokamera ihr Tun auf die Leinwand wirft und synchron zum Bild an jenem langen Tisch die quietschenden Kreidegeräusche erzeugt werden.

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"Die Wellen" in Köln © Stephen Cummiskey

Dann beginnt jeweils eine neue Episode aus Virginia Woolfs experimentellem Roman "Die Wellen" von 1931, der in der Technik des inneren Monologs den Lebensweg von sechs Menschen weniger erzählt, als in fragmentarischen Ausschnitten andeutet. Bereits 2006 hat die britische Theatermacherin Katie Mitchell Woolfs sperrigen, fürs herkömmliche Theater gänzlich untauglichen Stoff am Londoner National Theatre für die Bühne eingerichtet und an dieser Arbeit ihre hoch artifizielle Live-Video-Theater-Ästhetik entwickelt, die seitdem ihr Markenzeichen ist. Nun ist Mitchell mit einer auf Deutsch neu einstudierten Version ans Kölner Schauspielhaus zurückgekehrt, wo sie 2009 erstmals zu Gast war. Damals sorgte sie mit ihrer Inszenierung Franz Xaver Kroetz' Wunschkonzert für Furore und wurde damit prompt zum Theatertreffen eingeladen.

Gut geölte Zahnradmechanik

Mitchells Kino-Theater ist umstritten, denn die Frage, ob das, was da in Atem beraubender technischer Präzision auf der Bühne abläuft, überhaupt noch Theater ist, stellt sich immer wieder aufs Neue. Mitchell zeigt auf offener Bühne, wie (Kino)-Bilder entstehen, sie legt den ganzen Fuhrpark der Illusionsfabrik offen. Zu beiden Seiten stehen Regale mit Requisiten und flache Kisten, in denen Schrittgeräusche simuliert oder Rasenausschnitte in den Kamerafokus genommen werden. Es wimmelt von Mikros; drei Videokameras sind ständig im Einsatz, ermöglichen Parallelschnitte und Überblendungen.

Neben Technikern sind auch die Schauspieler geräuschlos wuselnd als Geräuscherzeuger, Requisiteure und Aufbauhelfer unterwegs, wenn sie sich nicht gerade selbst für das nächste Close-up präparieren und Kleider oder Schuhe überstreifen. Das alles geschieht in Windeseile, kein Handgriff scheint dem Zufall überlassen, wie in einer gut geölten Zahnradmechanik greifen technische Abläufe mit dem eigentlichen Spiel ineinander.

Bilder im Kopf des Zuschauers

Die erzeugten Bilder dagegen sind überwiegend statisch, oft sind es Close-ups der Gesichter oder man blickt von oben auf einen gedeckten Tisch, auf Arrangements, die an edle Stilleben erinnern, man sieht dem Spiel der Hände bei einfachsten Alltagsverrichtungen zu, beim Rühren in einer Teetasse oder beim Öffnen eines schicksalhaften Telegramms. In den auf die Leinwand übertragenen Szenen sind die Gesichter der Schauspieler häufig allein in Nahaufnahme zu sehen, während die Verrichtungen ihrer Hände synchron von Doubles ausgeführt werden.

Wenn die Kamera dann übergroß die Hände im Detail zeigt, wirkt das auf der Leinwand, als gehörten die Hände zu dem eben gezeigten Close-up, während man parallel zum Film-Bild auf der Bühne das Double-Verfahren beobachtet. Man sieht die Schauspieler sprechen, aber die gehörten Texte kommen aus dem Off von einem anderen Schauspieler. Die Bilder und die in Katie Mitchells Theater meist vermiedenen Totalen entstehen also im Kopf des Zuschauers.

Neue Seh-Grammatik

Man könnte vermuten, dass die permanente Verfremdung durch das Offenlegen des Making-of, dass der kühle Blick in die Illusionswerkstatt Distanz zum erzählten Geschehen schafft. Tatsächlich ist am Ende das Gegenteil der Fall. Gibt es im ersten Teil des Abends noch vereinzelte Lacher, wenn bestimmte Effekte auf besonders skurrile oder verblüffende Weise erzeugt werden, legt sich das Amüsement über die Emsigkeit nach einer Weile, als habe man sich an eine Art neuer Seh-Grammatik gewöhnt.

Nach und nach entwickelt Mitchells Woolf-Adaption einen eigentümlichen, zutiefst melancholischen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Woolfs Roman behandelt die Überfülle der Wahrnehmung, zweifelt an der Linearität von Erfahrung und Identität überhaupt. Katie Mitchells artifizielles Theater kommt dem Chaos der Wahrnehmung gerade durch seine Detailversessenheit überraschend nahe.

 

Die Wellen
von Virginia Woolf
Übersetzung ins Deutsche von Maria Bosse-Sporleder, neu gelesen von Jan Hein
Regie: Katie Mitchell, Video und Fotografie: Leo Warner, Ausstattung: Vicki Mortimer, Musik: Paul Clark, Licht: Paule Constable, Ton: Gareth Fry, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Yorck Dippe, Ruth Marie Kröger, Sebastian Pircher, Renato Schuch, Maik Solbach, Laura Sundermann, Birgit Walter, Julia Wieninger.

www.schauspielkoeln.de

 

Alles zu Katie Mitchell auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Von einer komplexen Licht-Klang-Komposition, "die nicht nur die Mittel des Theaters virtuos in seine Einzelteile zerlegt, sondern auch die des Films, mit dessen Hilfe das Theater vorgestellt wird," schreibt Marion Ammicht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (20. 2. 2011). Katie Mitchells neues, simultanes Rätseltheater sei anstrengend, faszinierend und verwirrend zugleich für die Zuschauer, so die Kritikerin. Denn sie müssten selbst das, "was im Vordergrund zwischen zwei überdimensionalen Regalen in einer Art Geräusch- und Asservatenkammer bruchstückhaft angedeutet wird, zusammenfügen mit dem, was sich auf der Film-, Licht- und Klangebene in ganz neue Erinnerungs- und Vorstellungsräume verwandelt." Die britische Künstlerin übersetze in ihrer Kölner Inszenierung "die sich wortreich ineinanderschlingenden Bewusstseinsströme der sechs befreundeten Romanprotagonisten, die sich ihrer gemeinsamen Vergangenheit erinnern, passagenweise in Bild und Musik" und trifft damit aus Sicht der Kritikerin "genau Melodie und Rhythmus des Romans."

"Der Fluss der Assoziationen, die monologische Struktur, die Fülle der Eindrücke, Schnappschüsse, Augenblicke" gäben Virgina Woolfs Roman "Wellen" "eine vexierspielhafte Mehrdeutigkeit, die ihn dem Theater entzieht", meint Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (21.2.2011). Katie Mitchell aber habe sich "auf die aussichtslose Konkurrenz gar nicht erst eingelassen, sondern die Bauform des Romans in ihren kühlen, an Virginia Woolf geschulten Blick genommen und daraus ein szenisches Verfahren abgeleitet." Es seien "verblüffend einfache Mittel, die Katie Mitchell, Leo Warner, der mit Video und Fotografie arbeitet, und das vielseitige, fabelhaft trainierte Ensemble einsetzen. Doch sie sind kunstvoll und komplex organisiert: (...) in knappen, sprunghaften Sequenzen wird der 'Stream of consciousness' nicht illustriert, sondern in eine Bildsprache übersetzt: zu schnell, unruhig und kombinationsvirtuos, als dass ihre Szenen festgehalten und eindeutig werden könnten." Das Ergebnis erscheine "trotz der weitreichenden Striche, die nicht nur das Ende kappen, kongenial. Die Aufführung trifft den Roman auf Augenhöhe: ein Aufmerksamkeitsabenteuer, fordernd und faszinierend".

Mit penibler Präzision beschreibe Virginia Woolf die Szenen ihres Romans. "Das setzen die Schauspieler akribisch um, unternehmen gewaltige Anstrengungen, um jede Teetasse an den richtigen Ort zu bewegen. Das gerät manchmal an den Rand der Absurdität, vor allem vor der Pause hat der Abend Momente selbstironischer Leichtigkeit", schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (21.2.2011). Die Aufführung sei "eine enorme Konzentrationsleistung des Ensembles. In den wenigen Sekunden, die sie manchmal nur im Bild sind, schaffen die Schauspieler unglaublich intensive Momente." Man sehe "in jedem Augenblick, wie die Bilder, Töne und Stimmungen hergestellt werden. Trotzdem entsteht eine direkte, überwältigende Emotionalität. Es ist eine ganz eigene Kunstform, die Katie Mitchell und der Videokünstler Leo Warner entwickelt haben. Sie fragmentarisieren und faszinieren, aus der Dekonstruktion entsteht eine neue Theatertraummaschine."

Mitchells Verfahren folge "Virginia Woolfs literarischer Vorgabe, subjektiv bedeutsame Momente intensiven Erlebens aus der Vielfalt alltäglicher Wahrnehmungen entschieden herauszuheben", meint Ulrich Fischer auf Deutschlandradio (19.2.2011). "Die Fülle der gleichzeitigen Erscheinungen macht es dem Zuschauer schwer, sich zu orientieren. Vieles wirkt rätselhaft. Auch die Sprache bietet wenig Anhaltspunkte, der Klang der Worte scheint wichtiger als ihr Sinn, ihr Gehalt." Der Gesamteindruck der Inszenierung sei "zutiefst melancholisch, ganz anders als bei Virginia Woolf. Während im Roman der Tod keinen Schrecken bietet, weil ein neues, entgrenztes Leben entsteht, wenn wir unsere alte, individuelle sterbliche Hülle abschütteln, schildert Katie Mitchell den Tod als finale Katastrophe". Obwohl sich die Inszenierung "virtuos und sicher mit neuen, originellen, vor allem antiillusionistischen Mitteln Virginia Woolfs Roman" nähere, sei sie "doch anfechtbar", sie wirke nämlich "über weite Strecken esoterisch, elitär und weltenfern".

Cornelia Fiedler schreibt in der Süddeutschen Zeitung (2.3.2011): "Das Nachdenken nimmt einem dieser Theaterabend nicht ab." Doch das Prinzip der "Live-Filmdreharbeiten auf der Bühne, das die beiden 2006 in London für die ursprüngliche Version dieser Inszenierung entwickelten", erweise sich als "beeindruckend stimmiges zeitgenössisches Pendant" zu Woolfs literarischen Experiment. Zwar drohe der Text vorbeizurauschen, "während der Blick zwischen der Illusion im Close-up und der Desillusionierung auf der Bühne" hin- und herirre. Doch die Bilder, die "wie flüchtige Gedanken aus dem Dunkel aufblitzen", entwickelten eine Intensität, der man sich nicht entziehen könne. Mitchell löse "eingängige Symbole aus der Metaphernflut heraus" und verdichte sie zu zarten Filmmomenten. Die "Leinwandprojektion" erlaube ein "feines, naturalistisches Spiel". Große Gesten seien nicht nötig, "keine Emotionspantomime". Es dauere zwar, aber im zweiten Teil entfalte der Abend "seine volle eigenwillige und melancholische Poesie".

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