Presseschau vom 23.-25. Februar 2011 – Süddeutsche, Die Zeit und taz porträtieren das Ballhaus Naunynstraße und seine Leiterin Shermin Langhoff

Das Labor Ballhaus

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Das Labor Ballhaus

Berlin, 23./24. Februar 2011. Anlässlich des Kairos-Preises für Shermin Langhoff und der Einladung von Nurkan Erpulats Inszenierung Verrücktes Blut (in Ko-Produktion mit der Ruhrtriennale) zum diesjährigen Berliner Theatertreffen, porträtieren die Süddeutsche Zeitung und die Wochenzeitung Die Zeit das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg und seine Leiterin Shermin Langhoff:

 

Süddeutsche Zeitung, 23.2.2011

In der Süddeutschen Zeitung schreibt Peter Laudenbach über das Berliner Ballhaus Naunynstraße: "Hier inszenieren und spielen die etwas anderen Deutschen: Schauspieler, Regisseure und eine resolute Intendantin mit, um das politisch korrekte Schlagwort zu verwenden, Migrationshintergrund." Allerdings sei das Label "Migrationstheater" für die Arbeit des Hauses "viel zu ungenau", zitiert Laudenbach den Regisseur Nurkan Erpulat. "Wir haben uns unter anderem mit Armenien, mit Illegalisierten in Deutschland, mit dem Mauerfall beschäftigt. Es geht um die ästhetische Auseinandersetzung, um die inhaltlichen Angebote dieser Inszenierungen. Wenn ich eine Liebesgeschichte inszeniere, und die Figuren heißen zufällig Mehmet und Ayse, bleibt das eine Liebesgeschichte, und ist nicht Migrationstheater." Die "Wahrnehmung von Gesellschaft" sei "nicht automatisch eine ethnische", heißt es im O-Ton der Intendantin des Ballhauses Shermin Langhoff. "Wir machen Kunst, wir sind kein Migranten-Stadl. Uns interessieren Konfliktzonen."

Der enorme Erfolg Erpulats und des Ballhauses hat nach Einschätzung von Laudenbach "mindestens so sehr mit einem Versäumnis des Stadttheaterbetriebs wie mit der eigenen künstlerischen Leistung zu tun. Trotz vereinzelter Projekte, etwa Karin Beiers Versuch, am Schauspiel Köln ein multi-ethnisches Ensemble zu entwickeln oder den Inszenierungen des tunesischen Regisseurs Fadhel Jaibi am Schauspielhaus Bochum, war das deutsche Theater bis vor einigen Jahren eine ziemlich deutsche Veranstaltung – auch eine Form von Integrationsverweigerung durch die Mehrheitsgesellschaft."

Indem die Theater nunmehr vermehrt auch Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund anzögen, es aber "noch relativ wenig professionelle Theaterkünstler mit nichtdeutschen Eltern" gäbe, würden "diese wenigen gerne als Migrations-Spezialisten engagiert". Für die Mannschaft vom Ballhaus sei das allerdings erst der Anfang. "Eigentlich müsste sich jedes Stadttheater als postmigrantischer Raum verstehen", wird Langhoff weiter zitiert.

Zur möglichen Nachfolge von Shermin Langhoff im Team mit Ex-Schaubühnen-Dramaturg Jens Hillje in der HAU-Intendanz von Matthias Lilienthal (siehe dazu auch den Beitrag in der Berliner Zeitung vom 21.2.2011) bemerkt Laudenbach: "Angesichts des thematisch engen Spektrums am Ballhaus und Inszenierungen, die vor allem von der Kraft der Geschichten, kaum von einer wegweisenden Ästhetik leben, wirkt das allerdings recht abenteuerlich."

Wichtiger als der nächste Karriereschritt sei es demnach, das Labor Ballhaus weiterzuentwickeln. "Wie ist die Rezeption? Welche Grenzen können wir überwinden? Schaffen wir es, uns selbst nicht zu ethnifizieren, obwohl wir ein ganz klares Label als postmigrantisches Theater haben?", zitiert der Text Langhoffs Bestimmung der aktuellen Arbeitsaufgaben an ihrem Haus und schließt: "'Stadttheater reagiert im besten Fall auf die Vielfalt der Stadtgesellschaft. Etwas anderes macht das Ballhaus eigentlich nicht', lautet Langhoffs sympathisches Credo. Ihr Fazit: 'Wir sind ein Kreuzberger Stadttheater.'"

 

Die Zeit, 24.2.2011

Seit drei Jahren, schreibt Mely Kiyak in der Wochenzeitung Die Zeit, gibt es das Ballhaus Naunynstraße, wo Künstler der zweiten und dritten Einwanderergeneration Theater spielten und Tanz, Film, Literatur und Musik zeigten. "So ein Haus gibt es nirgends sonst in Deutschland, und so hat Shermin Langhoff die 75 000 Euro des Kairos-Preises, mit dem sie nun ausgezeichnet wird, mehr als verdient." Shermin Langhoff hat das Ballhaus Naunynstraße aufgebaut, und ihre Geschichte erzählt der Zeit-Artikel.

1969 in Bursa geboren, wächst das Kind bei den Großeltern in Edredit am Ägäischen Meer auf. Die Mutter muss arbeiten. Mit neun Jahren kommt Shermin Langhoff nach Nürnberg, ihre Mutter hat sich als "Gastarbeiterin" von der AEG anwerben lassen. Deutsch lernt das Kind schneller, als die fränkische Küche zu ertragen. Sie absolviert eine Lehre zur Verlagskauffrau und gründet die "Nürnberger deutschtürkischen Filmtage". Denn "eigentlich will Langhoff zum Film, als Produzentin. Das Organisieren liegt ihr." Einem Volontariat beim NDR folgt ein Engagement an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, wo sie auch ihren Mann Lukas Langhoff, den Sohn des Regisseurs Thomas Langhoff, kennenlernt.

Sie bekommt eine Tochter und Matthias Lilienthal, Intendant des Berliner Hebbel am Ufer, fragt sie: "Hast Du Lust Theater zu machen? Irgendwas mit Türken?" Vier Jahre arbeitet Langhoff als Kuratorin am HAU, "entdeckt Neco Çelik, Nurkan Erpulat, deutsch-türkische Künstler der zweiten Einwanderergeneration".

Damals, schreibt Mely Kiyak, habe Langhoff "jenes Publikum" gewonnen, "von dem es heißt, es existiere gar nicht: mehrheimische Zuschauer, die – wie die Künstler selbst – 'ihre' Geschichten sehen wollen." Langhoff habe dafür den Begriff "postmigrantisch" gewählt. Dafür wollte sie eine eigene Spielstätte, das Ballhaus Naunynstraße. Langhoff erkläre, schreibt Kiyak: "Wir werden manchmal Türkentheater genannt. Das ist falsch. Wir zeigen Theater aus unserer Perspektive und bestimmen unsere Konfliktzonen selbst."

 

die tageszeitung, 25.2.2011

Kairos, der Gott des rechten Augenblicks, vermutet Katrin Bettina Müller in der taz, muss ein besonders gutes Verhältnis zum Ballhaus Naunynstraße haben. Weil Shermin Langhoff den Kairos-Preis der Alfred Toepfer Stiftung erhält, außerdem die Ballhaus-Inszenierung "Verrücktes Blut" für das Theatertreffen ausgewählt wurde, und zugleich auch als "schnelle, lustige und kritische Antwort" auf die gleichzeitig publizierten Thesen des Thilo Sarrazin gelesen werden könne.

Langhoff, schreibt Müller, habe ihr Theater aber nicht gegründet, um "Rahmenprogramm einer politisch erhitzten Debatte zu sein, mit der die Medien Quote machen, sondern aus dem Bedürfnis nach anderen Geschichten heraus, die nicht im Klischee stecken bleiben". Und sehe sich jetzt einer "neuen Qualität von Rassismus und antidemokratischer Gesinnung" gegenüber, wie sie in der Debatte um Sarrazins Buch deutlich werde. So etwas gehe an keinem heute 17- oder 20-Jährigen, der in Deutschland geboren und anderer Herkunft ist, spurlos vorüber.

Mit den Stücken, die am Ballhaus inszeniert würden, schreibt Müller weiter, erhielte der Begriff der Postmigration eine "neue Anschaulichkeit". "Der postmigrantische Raum ist der eigentlich neue deutsche Raum, das ist der Raum, in dem wir alle leben", zitiert Müller Frau Langhoff. Und in diesem Raum gehe es um möglichst vielfältige Strategien der Partizipation.
Der Erfolg im Ballhaus Naunynstraße gebe ihr recht. Der Publikumszuspruch sei groß, sonst häufig getrennte Milieus mischten sich in den Vorstellungen.

 

Zu den Herausforderungen interkultureller Arbeit im Theater debattierte jüngst auch die Dramaturgische Gesellschaft in Freiburg, nachzulesen im ausführlichen Tagungsbericht von nachtkritik.de. Für den theoretischen Background der Debatte höre man hier Mark Terkessidis im O-Ton, der die Interkultur-Debatte wesentlich mit angestoßen hat.

 

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