Einige Nachrichten an das All - Annette Pullen stellt den Dramatiker Wolfram Lotz vor
Im Herzen haust das Pathos
von Dirk Pilz
Weimar, 24. Februar 2011. Die Nachrichten an das All werden in ein eckiges Silberrohr hineingerufen. Die Discokugel dreht sich, aus dem Rohr strahlt warmes Licht. Dazu wird wimmernde Musik gegeben. Die Nachrichten lauten "Mama", "Bums" und "Unterhaltung". Es sind dies Auskünfte an das All, "damit man dort erfährt, was uns Menschen bewegt". "Mama" ist die Botschaft des Forschers Constantine Samuel Rafinesque, ein vielseitiger Mann des 19. Jahrhunderts, den es wirklich gegeben hat. "Bums" hat Ronald Pofalla mitzuteilen, ein Politiker, der tatsächlich existiert. Und "Unterhaltung" ist das, was der "Leiter des Fortgangs" (LdF) zu hinterlassen hat.
Gedankengehemmt ohne Regenüberwurf
Der LdF ist eine Figur, die in Szene III "mit einem roten Regenüberwurf begleitet" auftritt. Die Szene heißt "Eine Astronomie des Entsetzens". Dankenswerterweise verzichtet dieser Siebzigminutenabend darauf, den LdF (Xenia Noetzelmann) in einem roten Regenüberwurf auftreten zu lassen; er ist hier eine schlanke Dame mit Schnauzbart im blauen Kostüm. In die Realismusfalle tappt der Abend jedenfalls nicht. Dem Theatergott sei Dank. Rechts fläzt auf einem Hochhocker die Conférencieuse (Ulrike Knobloch), sie verkündet die Regieanweisungen, die von den Schauspielern nicht ausgeführt werden.
Dennoch ist dieser Abend keine Uraufführung, allenfalls eine Urlesung.
"Einige Nachrichten an das All" ist ein Stück Theater, das sich gegen ein Theater stemmt, das seine Aufgabe in der Umsetzung von Stücken sieht. Man kann dieses Drama nicht einfachhin auf die Bühne bringen, weil die Bühne mit ihm genötigt wird, gleichsam sich selbst neu zu erfinden. Das hat in Weimar nicht stattgefunden. Zu erleben waren Schauspieler, die brav und bieder Texte aufgesagt, Situationen, Figuren, Zustände angedeutet haben. Man sah, wie das Stückumseetzungstheater baden ging. Man sah also kleinmütiges, engherziges, fantasieloses, gedankengehemmtes Textverwursten.
Vermisste Dimensionen vier bis sechs
Die Regie, Annette Pullen, hat offenbar der Vorlage nicht getraut. Um gut die Hälfte wurde der Text zusammengestrichen, irritierenderweise mit Einwilligung des Autors, wie zu hören war. Gekürzt wurde beinahe alles, was dem Stück von Wolfram Lotz seine vierte, fünfte oder sechste Dimension verleiht. Die Fußnoten etwa: allesamt weg, komplett verguttenbergt.
Viel geht damit verloren. "Das Laub wirbelt über die vergebliche Straße" ist, zum Beispiel, die Fußnote zu dem Satz "Sie wissen, Sie sind hier, um Ihr Anliegen vorzubringen!" Ohne Fußnote ist das ein banaler, blöder, langweiliger Satz. Und anders als bei Lotz wird mehrfach wiederholt: "Nur keine Leere aufkommen lassen!". Auch langweilig, weil aufdringlich zeitgeistkritisch und damit genau das, was Lotz' Stück nicht sein will: blöde, langweilige Zeitgeistkritik.
Ob sich Fußnoten im Theater überhaupt spielen lassen, ist eine ungeklärte Frage. Wahrscheinlich nur, wenn man formal, räumlich und schauspielerisch experimentiert. Ein Theater jenseits der Stückumsetzerei verhindert jedoch schon die Enge des Foyer III am Nationaltheater zu Weimar. Alles wirkt geduckt, eng, eingekästelt. Eine inszenatorische, also bildnerische, gedanken- und gefühlserweiternde Struktur hat der Abend sowieso nur im Behauptungsmodus. Und das Publikum sitzt auf Sesseln, Sofas, verschiedenen Stühlen – als ginge es nur um Scherz, Satire und Ironie.
Verwandter von Jarry und Borges
Wolfram Lotz ist ein 1981 geborener, mit dem diesjährigen Kleist-Förderpreis beehrter Lyriker, Erzähler und Dramatiker, der in ferner Verwandtschaft zu Alfred Jarry und Jorge Luis Borges steht. Er liebt es, sich an den Rändern der Logik zu tummeln, jenseits des Wirklichkeitssinns, diesseits des bloß Spinnerten. "Der große Marsch", sein erstes, noch nicht aufgeführtes Stück, mit dem er letztes Jahr zum Stückemarkt des Theatertreffens geladen wurde, wo es den Publikums- und Werkauftragspreis gewann, ist auch schon so. Aus diesem Auftrag ist "Einige Nachrichten an das All" entstanden, und Pullen durfte die erste Lotz-Uraufführung der Theatergeschichte bewerkstelligen.
Man weiß viel von diesem Stück, wenn man das Motto kennt. Es lautet: "Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker." Am letzten Wort braucht man sich nicht zu stören, entscheidend ist der Präsens: Lotz schreibt Sätze, Szenen und Verse, die aus dem Inneren einer Explosion kommen. Es ist eine Explosion der Wirklichkeit in Fiktion. Immer wenn man glaubt, etwas in den sieben Szenen verstanden zu haben, schlägt der Text eine unvermutete Sinn- und Richtungsänderung ein. Die Effekte sind so komisch wie todtraurig.
Der Tod ist überhaupt Lotz' Dauerthema. Der Tod, das Vergehen, das Sein. Im Grunde ist er Philosoph. Und wie alle ernstzunehmenden Philosophen ist er größenwahnsinnig: Er will die Welt als Ganzes erfassen. Im Herzen dieses Stückes haust also das Pathos, kein verbrämtes, hochtönendes Pathos, sondern das Pathos jener Größenwahnsinnigen, die gegen den Lauf der Welt anrennen.
Damit weiß diese Inszenierung nichts anzufangen. Sie denkt handwerkerisch, in Szenen und psychologisierten Figuren, wo Lotz es mit Daseins- und Weltumstülpungsdimensionen zu schaffen hat. Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist heißt eine seiner prismatischen Figuren. Sie sitzt bei Simon Zagermann als Trauertropf auf einem Plastikstuhl. Herrje.
P.S.: Vor der Uraufführung ist es im Intendantenzimmer von Stephan Märki zu einer interessanten Lesung gekommen. Wolfram Lotz trug einige seiner "kleinen Erzählungen" vor. Es sind Kostbarkeiten einer Ein- oder Zweiwortprosa. Eine trägt den Titel "Wissenschaften". Hier ihre ungekürzte Fassung: "Die Indianer probierten, ob die Spanier unsterblich sind, indem sie einen von ihnen im Meer ersäuften."
Im kurzen Gespräch mit Märki und den Zuhörern stotterte Lotz übrigens. Er stotterte aber nicht, wenn er seine Texte vorlas. Bei Einar Schleef war das einst auch so.
Einige Nachrichten an das All (UA)
von Wolfram Lotz
Regie: Annette Pullen, Bühne und Kostüme: Iris Kraft, Dramaturgie: Hans-Peter Frings, Elisa Liepsch.
Mit: Ulrike Knobloch, Elke Wieditz, Martin Andreas Greif, Markus Fennert, Simon Zagermann, Xenia Noetzelmann.
www.nationaltheater-weimar.de
"Ein tragikomisch absurder Leckerbissen, ein Einstundendrama über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens und den Zweifel an allem," schreibt Frauke Adrians in der Thüringer Allgemeinen (26. Februar 2011). Annette Pullens gestraffte Spielfassung überzeugt die Kritikerin ebenso wie das Spiel der sechs Akteure. Lotz' Nachrichten an das All hätten wir alle schon vernommen, so Frauke Adrians, und zwar in der Medienkritik, auf dem Theater, in Büchern der Philosophen. "Aber so unterhaltsam wie in dieser Inszenierung klingen sie selten."
Weniger überzeugt klingt Hartmut Krug im der Sendung Kultur Heute beim Deutschlandfunk (25.2.2011), und zwar weder vom Stück selbst als auch von Annette Pullens "mächtig durchhängender" Inszenierung. Der Jungdramatiker habe zwar viel gelesen, entwickele aber kaum einen eigenen Ton. Während das Stück das Zusammenhanglose aller Erscheinung thematisiere, versuche die Regisseurin, dem Text als Medienparodie einen zeitkritischen Sinn zu geben. Doch auf der Bühne erkennt der Kritiker keine Figuren, sondern lediglich Textdemonstationen.
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P.S.: Ich als Gottes Sohn bedanke mich bei Schauspielern und Regie, für den Versuch diesen Quatsch von neuerer Dramatik ernst zu nehmen und den Text um die Hälfte gekürzt zu haben. Danke für die gut gespielten unterhaltsamen 70 Minuten. Danke an Dirk Pilz für die Bestätigung das Theaterkritik nichts mit Theater zu tun haben. Virtuose Inhaltslosigkeit - Danke Herr Lotz, Herr Pilz.
P.S.: P.S.: Einar Schleef ist tot, bitte nicht auf sein Grab spucken.
ich bin erstaunt wie voreingenommen sie über diesen abend schreiben. es ist doch nicht die aufgabe des kritikers, seine persönliche sicht in den vordergrund zu stellen. wenn sie sich danach sehnen herr pilz, dann müssen sie selbst produzieren. werden sie regiesseur, werden sie schauspieler!
ich bin von berlin nach weimar gefahren, da ich den großen marsch von lotz am stückemarkt gesehen hatte und sehr angetan war. auf die nachrichten aus dem all trifft dies nicht zu. und zwar weder im original noch in der gezeigten kurzform. die inszenierung hat nun versucht, diesen text in das theater zu zwingen, was ein weg ist, sich wolfram lotz und seinem "unmöglichen theater" zu nähern. er fordert ja diesen kampf mit seinen texten und der bauweise seiner stücke quasi heraus. gelungen ist dieser annäherungsversuch nur bedingt, da stimme ich ihnen ja zu, herr pilz. ABER: ihre art darüber zu berichten ist so persönlich betroffen im ton und so parteilich, daß man fast meinen könnte, es wäre ihr stück was an diesem abend zur urauführung kam. dem ist aber nicht. sie beschreiben lediglich etwas, das andere produziert haben. und dies tun sie, wie ich finde auf völlig respektlose weise und das, der grundsätzliche verlust des respekts vor den produzierenden, ist der tod des kritikers. wie sie sicher wissen. nichts gegen einen pointierten und gut geschriebenen verriss. herrlich! aber doch bitte nicht solch plumpe enttäuschungsmetaphorik. herr pilz! ein wort noch zu den schauspielern, sie waren einfach gut herr pilz. es waren einige sehr gute schauspieler auf dieser bühne zu sehen. und gerade "der trauertropf kleist". beachten sie doch bitte daß die arbeit des schauspielers seperat von der des regiesseurs zu betrachten ist. er agiert immer innerhalb einer inszenierung, er kann naturgemäß nicht aus dieser haut hinaus. lesen sie doch dazu bei alfred kerr nach. für die nächste kritik. und, herr pilz, nochmal die bitte, werden sie regisseur, werden sie schauspieler! ich freue mich auf ihre erfahrungsberichte.
vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Ich werde ihn beherzigen, allerdings plane ich derzeit nicht, Regisseur oder Schauspieler zu werden.
Erlauben Sie mir zwei kleine Randbemerkungen.
So verschieden sind unsere Ansichten offenbar nicht: Sie halten "Einige Nachrichten an das All" für nicht so gelungen, ich halte es für einen lesens- und inszenierenswerten Text; Sie haben unabhängig von der Inszenierung eine Meinung zu diesem Text, ich ebenso. Insofern: voreingenommen.
Erlauben Sie mir zudem noch diesen kurzen Hinweis: ich sehe nicht recht, wodurch ich bestritten haben sollte, dass die Schauspieler innerhalb einer Inszenierung agieren. Ich schrieb, die Regie habe offenbar dem Text nicht getraut; ich schrieb nicht, die Schauspieler haben nicht dem Text getraut. Ich bitte, diesen Unterschied zu beachten. Ansonsten meine ich nach wie vor, dass ein Urteil wie "einfach gut" in jedem Kontext streitbar ist.
Mit herzlichen Grüßen!
Ihr
Für einen kurzen Wink der Marke "Schade, daß so vieles so anders ist wie im "Originaltext von x"" auf nachtkritik de. (mitsamt einer Darstellung der Verlustahnung qua Streichung)" dürfte es selten zu spät sein: ein weiteres Argument für die Anonymität in diesem Forum im übrigen.
Jedenfalls gefällt mir die Kritik außerordentlich gut, der persönliche Ärger (bzw. die Enttäuschung) über eine schlechte Inszenierung ist doch ein Zeichen dafür, daß hier noch wirklich nachgedacht und etwas vom Theater erwartet, gewollt wird - und nicht lediglich phrasendreschend nach Schema F abgeklopft und dann abgeurteilt wird. Das finde ich um ein Vielfaches spannender als irgendwelche eitlen Kapriolen eines manchen sprachverliebten Feuilletonisten. Ergo: Weiter so!
Last but not least: Nicht alles, was sich mit der Absurdität und Ausweglosigkeit des menschlichen Daseins beschäftigt, ist automatisch ein Beckett-Abklatsch; ich finde es gerade schön, daß sich hier ein junger Autor so leidenschaftlich an den ganz großen, ganz schweren Themen versucht und zwar mit der so seltenen Bereitschaft, notgedrungen zu scheitern (wobei hier Scheitern als ungemein produktiver Prozeß verstanden wird). Aber das braucht natürlich auch einen Regisseur, der dieselbe, selten Bereitschaft besitzt.
Sie scheinen ja durch das Stück fast persönlich verletzt zu sein - das Stück beginnt mich zu interessieren, werde es lesen und mir wenn möglich auch die Inszenierung anschauen.
Allerdings habe ich in Ihrem Fall die Befürchtung, dass Sie sich nur so aufregen, weil Sie möglicherweise einer etwas engen Sichtweise auf das Theater zuneigen: Jedenfalls kann ich in Ihren Kommentaren als Theaterentwurf nur das Wort "Figur" und "ernsthaft" als Beschreibungen herauslesen. Das ist natürlich zu wenig, und ich gehe auch davon aus, dass Sie da noch eine etwas dezidiertere Meinung haben: Schreiben Sie doch, was für Sie Theater sein sollte und was dieses Stück von Herrn Lotz also nicht ist! Dann könnte man Ihre Aufregung vielleicht besser verstehen!
Wer sollte er sonst sein und weshalb? Das macht alles gar keinen Sinn und ist mir eigentlich auch völlig egal.
Liebe deutsche Theaterkritik, es ist eigentlich schon sehr unverfroren einen deutschen "Jungautor" mit Jorge Luis Borges zu vergleichen. Kommen Sie doch bitte mal runter aus dem All oder machen einfach mal Urlaub in Feuerland. Die frische Luft hier unten wird Ihnen gut tun. Schöne Grüße
(Lieber rudi, wir werden erst von der Saarbrücker Premiere am 26. Mai 2011 berichten. Viele Grüsse von der Redaktion)
Lg.