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Krieg und sein hämmernder Befriedungsaktivismus

von Ralph Gambihler

Dresden, 26. Februar 2011. Lessing als Aufklärer ernst nehmen heißt für Simon Solberg, eine Welt der misslingenden Aufklärung, der taumelnden Vernunft zu beleuchten und in das Zentrum seiner Inszenierung zu rücken. Solberg sucht seine Rolle als Interpret des fast zweieinhalb Jahrhunderte alten Stückes, indem er es mit einem großen Ruck und radikal auf die Gegenwart bezieht. Das hat Folgen. Eine davon: Die Komödie zweier Liebender, die ihre Gefühle erst mühevoll um einen ebenso rigorosen wie antiquierten Ehrbegriff herum mogeln müssen, bis sie sich endlich kriegen, fällt flach. Nichts von "Soldatenglück" und "Lustspiel in fünf Aufzügen". Stattdessen: 100 grelle Minuten Weltbetrachtung zum Thema Krieg, Entertainment und misslingende Liebe. Denn so ist das hier: Die Liebe misslingt nicht weniger als die Aufklärung.

minna_matthiashornTellheim traumatisiert  © Matthias Horn

Das Bild eines entmythifizierten Offiziers

Ein kleiner Auftaktspaß vor dem Eisernen Vorhang, gespielt von Stefko Hanushevsky als Diener Just und Torsten Ranft als Wirt, täuscht das Lustspiel an und nimmt die Tragödie unmerklich vorweg. Dann öffnet sich eine Tür in der Mitte und es erscheint der Major von Tellheim im Rollstuhl sitzend. Der linke Arm steckt wie ehedem in der Binde, der Rollstuhl aber zerstört das Bild vom Lessingschen Kriegsheimkehrer.

Dieser noch junge Mann (markant: Sebastian Wendelin) ist nicht erst im Frieden abgestürzt, durch den ungerechten Rauswurf aus der Armee. Seine Tragödie ist der Krieg selbst. Wir sehen ihn als einen schwer gezeichneten Veteran, verkrüppelt an Körper und Seele, mit Spritzbesteck hantierend und sich in traurige Songs flüchtend, die er auf einem Keyboard spielt, wobei ihm das verschwitzte Haar strähnig an den Schläfen klebt. Bild eines entmythifizierten Offiziers. Mit Kreide zeichnet Tellheim ein Totenkreuz auf den Eisernen Vorhang. Vor der Rampe verteilt er Totenkreuze aus Pappe und liest eine Stelle aus der Bibel vor.

Das andere Geschlecht hat auch schon ein anderes Thema. Minna (eine heutige junge Frau: Picco von Groote) und ihre Kammerzofe Franziska (Cathleen Baumann) probieren Fachbegriffe der Psychotherapie: Verhaltenstherapie, Gesprächstherapie, posttraumatische Belastungsstörung. Auf einem Flipchart am rechten Bühnenrand steht die Litanei noch ausführlicher geschrieben. Therapeutisches Denken wallt wie Nebel in die Herzensergießung und die List zur Übertölpelung eines verbohrten Offiziers.

Querverweis zu den neuen Aufklärern

Auf die vordergründige Betroffenheitsarie zum Thema Krieg hat es der Abend kaum abgesehen. Solberg arbeitet sich vielmehr an einer komischen Kehrseite entlang. Er zeigt Krawall, Jux und Klamauk als Teile der Wirklichkeit. Die Szenen sind oft trashig. Sie zitieren die Popkultur, den Comic etwa oder die Comedy, und werden zur Farce überhöht, wobei die Sprache unvermittelt das Gestern und Heute überblendet. Nein! Hier geht es nicht mehr um Krieg und den Wertewandel im Frieden, der komisch auf das Geschlechterverhältnis durchschlägt. Hier geht es um Krieg und den hämmernden Befriedungsaktivismus der Spaßgesellschaft. Der Befund ist alt und trostlos. Es gibt im Grunde keinen Frieden bei Solberg, es gibt nur den groben Unfug und den tödlichen Schuss. Die Moderne scheitert.

Doch will Solberg die Aufklärung und mit ihr den Aufklärer Lessing nicht beerdigen. Der Fingerzeig dabei und zugleich der emotionalste Moment ist ein großer Querverweis zu einer neuen Generation der Aufklärer, die mit dem Internet arbeitet und deren Galionsfigur Solberg in Julien Assange erkennt. Zwar sehen wir den WikiLeaks-Gründer Assange in einer kurzen Szene als eher verpeilten Typ mit Warhol-Frisur. Der große Schmerz- und Kontrapunkt der Inszenierung zeigt die schmutzige, jäh aus dem Spaßbad hervorbrechende Realität des Krieges aber deutlich in aufklärerischem Licht.

Moralische Empörung ohne Happy End 

Solberg verwendet dazu das im vergangenen Jahr von WikiLeaks veröffentlichte, weltweit mit Entsetzen aufgenommene Video von einem Helikopter-Einsatz im Irakkrieg. Ein US-amerikanischer Kampfhubschrauber kreist elend langsam über Bagdad und schießt alsbald in eine kleine Menschenmenge, während im Sprechfunk die Kommunikation zwischen Einsatzleiter und Schütze zu hören ist. Zwei- oder dreimal werden Sequenzen aus dem Video gespenstisch auf die mit Versatzstücken des Militärischen möblierte Bühne von Simeon Meier projiziert, einmal unterlegt mit der rauschhaften Rockmusik, deren Sound schon die GIs in Vietnam durch die Hölle getragen hat.

Solbergs am Premierenabend mit Buhs und Bravos aufgenommene "Minna von Barnhelm" wagt die moralische Empörung. Der Abend verweist auf die Parallelität von Krieg und Spaßgesellschaft und sieht einen inneren Zusammenhang. Er verweigert das Happy End des Originals, die Liebe zwischen Minna und Tellheim endet mit dem Tod. Die Bilder und Szenen sind gut gemacht, und doch entsteht immer wieder der Eindruck, dass sich das Ensemble am Thema abarbeitet. Solbergs unterhaltsamer, krawalliger Regiestil, sein Gespür für die absurde und bizarre Überspitzung, verkleistert auch, übertüncht. Vieles ist weniger abgründig und weniger wirkungsvoll geraten, als es in der bloßen Beschreibung klingt. Gut möglich, dass sich die Regie zu viel vorgenommen hat.

Minna von Barnhelm
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Simon Solberg, Bühne: Simeon Meier, Kostüm: Katja Strohschneider, Musik und Video: Philipp Stangl, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Sebastian Wendelin, Picco von Groote, Cathleen Baumann, Stefko Hanushevsky, Torsten Ranft.

www.staatsschauspiel-dresden.de

Mehr zu Simon Solberg im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

"Solbergs Hirn ist eine Wunderkammer der Theaterideen", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.3.2011). In den eineinhalb Stunden "Minna" sind so viele winzige bis große, blöde bis hochintelligente Einfälle drin, die würden für fünf abendfüllende Aufführungen reichen. "Von Lessings Diskussion der Ehre und Ehe bleibt nichts mehr übrig" und mit Aufklärung habe Solbergs Inszenierung insofern zu tun, als er dieser absolut misstraut. Und doch habe er ein untrügliches Gespür für die Ambivalenz von Lachen und Leid. Gleichzeitig glaubt er ans Theater-Spielen, Spielen sei bei ihm ganz ernst gemeint.

Solbergs Tellheim sei ein "traumatisierter Kriegsheimkehrer, der die Schrecken des Mordens nicht verdrängen kann", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (28.2.2011). "Aus dieser Konstellation hätte ein großer, aufregender Abend werden können." Doch Solberg traue seinem eigenen Konzept nicht: "Wieder einmal muss ein Videoeinspiel mit Bildern her", anstatt die "Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen" zu lassen. Solberg setze "den stillen, ernsthaften Momenten des Stückes eine Mixtur von clownesken Szenen, Comedy und Farce entgegen". Immerhin spiele Sebastian Wendelin Tellheims "Zwiespalt in glaubhafter Zerrissenheit. Überzeugend seine Mahnung: 'Die Dienste der Großen sind gefährlich. Ich ward Soldat aus Parteilichkeit, ich weiß selbst nicht für welche politischen Grundsätze.' Schade, dass diese Botschaft, die konsequente Antikriegshaltung, von allzu vielen Äußerlichkeiten und Mätzchen oft verdeckt wird."

Simon Solberg provoziere "in den Mitteln und Sichtweisen", schlage "nicht selten Kobolz" und verliere "häufig den roten Faden, um ihn dann in abstrusen Aktionen erneut fassen zu können", schreibt Gabriele Gorgas in den Dresdner Neuesten Nachrichten (28.2.2011) "So, als wollte er geradewegs den Irrwitz dieser Welt auf die Bühne bringen. Und ist damit Lessing in gewisser Weise auch nahe." Aber jener sei "ebenso ein klarer, scharfzüngiger Denker" gewesen, "der seiner Zeit weit voraus dachte" – und das sei "in der Inszenierung kaum mehr zu spüren. Da braucht es von Beginn an viel Überwindung, um die Überzeichnungen halbwegs hinnehmen zu können. Zumal die Aufführung auf Effekte setzt, wo doch jeder erfahrene Theaterbesucher weiß, dass die 'Minna' einfach nur gute Schauspielkunst verlangt." Es folgt aber das große Dennoch, auch wenn ja jeder darüber anders denken könne: "dieser junge Theaterwilde ist nicht rein äußerlich orientiert. Er kennt durchaus das Maß, wo angehäufte Banalitäten umschlagen können in Qualitäten." Und so berge die Erzählweise der "Minna" eben auch eine "gewitzte Mischung aus stilistischen Wechseln".

Bei Solberg werde "Lessings Typenkomödie mit derb-komischen Trashnummern in unsere Spaßgesellschaft überführt", berichtet Hartmut Krug in der Sendung "Kultur Heute" auf Deutschlandfunk (27.2.2011). Dabei überblende der Regisseur "in seiner radikalen Aktualisierung die Schrecken des Krieges und die Schwierigkeiten des Aufklärungsbegriffes", was den Kritiker zwar intellektuell, nicht aber ästhetisch überzeugt: "Die Inszenierung, die mit dem Krieg und der Unterhaltung zwei Seiten unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit miteinander überblendet, überzeugt konzeptionell, zerfällt aber in viele Einzelteile."

Manchmal, schreibt Anne Peter in der taz (2.3.2011), öffne "das Erlebnis des Schocks" eine Tür. Gegenwart dringe dann an einen Ort, der bis dahin "in der Literaturgeschichte verankert war". Simon Solberg eliminiere, was aus dem 18. Jahrhundert schwer herüberzutransportieren sei. Etwa die "angekratzte Ehre als Hauptproblem von Tellheim". Der hat jetzt nämlich eine "posttraumatische Belastungsstörung", weil er zu viele Selbstmordattentate und zu viele tote Kameraden erlebt hat im Krieg. Dass zwischen ihnen nicht "einfach alles so sein kann wie früher" könne Minna partout nicht verstehen. "Dass Tellheim sich selbst gegenüber Fremdheit, ja Ekel verspürt und sich der Welt lieber ersparen würde", spiele Sebastian Wendelin "überaus eindrücklich". Solberg gelinge so "zwischen all dem Jux", den er sich mit dem Lustspiel erlaube, das "berührende Porträt eines traumatisierten Kriegsheimkehrers, das durchaus auch Soldatenwirklichkeit von heute" treffe.

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