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Die Doppeldeutigkeit einer Torte

von Kai Krösche

Wien, 5. März 2011. Zugegeben, sie ist nicht neu, die Idee des zynischen TV-Formats, das den Tabubruch bis ans Äußerste führt und den Tod eines Menschen im Mittelpunkt einer quotengeilen Unterhaltungsshow an Millionen von Menschen an den Bildschirmen sendet – live und ungeschönt. Sie ist, und das mag zunächst erschrecken, nicht einmal besonders überzogen: Dies nicht aufgrund von Formaten wie "Big Brother", die vielleicht vor elf Jahren einst den Untergang des Abendlandes bedeuteten und heutzutage auf niedrigem Niveau langweilen. Auch nicht etwa wegen der – im Programmheft zum neuen Stück von Jan Lauwers und seiner Needcompany "Die Kunst der Unterhaltung" – herangeführten Anschläge des 11. Septembers 2001 und der damit verbundenen Berichterstattung, die aus einem Massenmord und seinen Folgen eine medialisierte Performance der widerwärtigsten Sorte machten: Schockierend, aber, so zynisch es klingt, als Inszenierung konsumierbar.

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©Anna Stoecher
Der Tod und das Wahrnehmungsgeflecht

Es ist vielmehr (nicht nur, aber vor allem) die Tatsache, dass das Fernsehen zunehmend seine mediale Hauptrolle zugunsten des neueren Mediums Internet abtreten muss. Dass dieses – neben der schier unermesslichen Menge an segenreichen Innovationen – bereits seine ganz eigenen, schattenseitigen Formate produziert hat, vom Reality-Gewaltporno hin zu exklusiven Mord- und Totschlag-Videoportalen oder diversen Imageboards, deren Benutzer dann und wann gemeinsam und hinter der voyeuristischen Maske der Anonymität der Unterhaltung wegen anderen Leuten das Leben zur Hölle machen.

Möchte man also die scheinbar unvereinbare Verflechtung von zur "Unterhaltung" medialisierter Realität untersuchen, so ist man vielleicht im Ungenierten und Ungeschönten des Internets besser aufgehoben als im zumindest restregulierten und daher in den meisten Fällen doch in der letzten Konsequenz harmlosen Fernsehen.

Unerwartete Verweigerung

Die Wahl des zynischen Fernsehformats, in diesem Fall "die einzige echte Selbstmordshow auf diesem Planeten", ist also, wenn auch sonst eher bekannt aus dem Bereich des Kinos, nicht mehr so prophetisch wie einst. Was es letztendlich umso spannender macht, dass "Die Kunst der Unterhaltung" trotzdem funktioniert – und uns, ganz ohne direkte Bezüge auf unser Hier und Jetzt, etwas über, nun ja, unser Hier und Jetzt erzählt.

Denn wenn auch alle nach bitterbösem Zynismus schreienden Zutaten (ein Live-Selbstmord im Fernsehen, der Missbrauch bewegender Musik – hier Pergolesis "Stabat Mater" – und eine bis auf die Spitze getriebene Henkersmahlzeit als Akt des Kannibalismus) wirken, als ergäben sie dasselbe alte Rezept, so ist wiederum die Inszenierung selbst eine Art von Verweigerung, die so naheliegend wie unerwartet ist – und damit, anstatt selbst in den Zynismus zu kippen, vielmehr solchen ausstellt: Als ultimative Konsequenz einer Gesellschaft, in der nurmehr das Spiel bleibt, weil selbst die Fundamente – und damit die Grenzen – aller Ordnung zwischen dem Realen und dem Inszenierten aufgehoben und damit verwischt wurden.

Michael König und die Verwischung von Realität und Inszenierung

Schon der Untertitel gibt hier einen ersten Hinweis – er lautet "Needcompany spielt den Tod von Michael König" - und meint damit den Burgschauspieler Michael König, der wiederum den Hauptcharakter, den alternden Schauspieler Saul J. Waner spielt. Bereits hier also: Die Verwischung von Realität und Inszenierung, zeitgleich ein kleiner, aber wichtiger Hinweis durch das Wort "spielt" – im Titel schon wird so das Spiel in den Mittelpunkt gestellt, wodurch die Mechanismen der Unterhaltung zeitgleich heraufbeschwört wie unterwandert als auch die Erwartungshaltungen des Betrachters torpediert werden.

Schon zu Beginn stolpern und stürzen die Darsteller in bis zum Slapstick überzogenen Nummern auf die Bühne, versauen sich somit jedweden glamourösen Auftritt – die Gespräche wirken müde, uninteressiert, als seien sie nicht einmal mehr die übliche Heuchelei wert: Überhaupt scheint diese ganze Show wie eine große Probe, die direkt in einer diffusen Hölle stattzufinden scheint, voll mit Leerlauf und allgemeinem Desinteresse.

Ausgeklügeltes Nebeneinander

Dass das nicht langweilig wird, liegt an der geschickt aufgebauten Spannung, die sich natürlich auf den einen großen Punkt konzentriert, den Selbstmord Saul J. Waners, nur um, wie auch alle anderen zunächst dem Schein nach dem Prinzip einer Unterhaltungsindustrie folgenden Elemente an diesem Abend, von der Reunion mit der großen Geliebten hin zum Spiel-im-Spiel, das plötzlich Ernst wird, um sich dann wieder doch als Spiel-im-Spiel-im-Spiel zu entpuppen, in der Ungreifbarkeit von Lauwers' Inszenierung des leisen Nebeneinanders (Tanz- und Videoelemente bestimmen ebenso das Stück wie Schauspiel), des bewusst gesetzten Nicht-Funktionierens und Unspektakulären zu zerfließen.

Natürlich ist das unbefriedigend. Gerade deshalb aber zwingt es zur Reflexion der eigenen Sensationsgier. Denn gerade dieses Nicht-Erfüllen der Erwartungen, diese Weigerung, leichtfertig konsumierbar zu sein, ist, was das Stück davor bewahrt, zu dem zu werden, was es kritisch hinterfragt. Wenn vor dem Hintergrund des zuvor Gesehenen diese Auflösung dann augenzwinkernd für einen kurzen Augenblick die unsichtbare vierte Wand niederreisst mittels einer bedrohlich in die Richtung Michael Königs getragenen Torte und den schelmischen Worten von Viviane De Muynck "Deshalb wollte ich immer Schauspielerin werden", dann gelingt Lauwers hier für einen kurzen Moment und mit ganz einfachen Mitteln eine wirklich spannende Reflexion über ein Ineinander von Inszenierung und Wirklichkeit.

Böser Witz, etwas zu harmlos

Wie es aber eben schon der Untertitel sagt: Es bleibt beim Spiel an diesem Abend. Zumal auch nicht der Tod Michael Königs, sondern eben doch nur eine klar als solche definierte, von Michael König verkörperte Rolle gespielt wird – so löst der anschließende, allzu begeisterte Applaus nach dem konventionell pointierten Black die ganze Verwirrung im Nu auf.

Hier hätte es dann vielleicht doch ein wenig mehr der notwendigen Bereitschaft gebraucht, den Betrachter vor den Kopf zu stoßen: So – und das ist wirklich schade, denn das Potential wäre dagewesen – bleibt der Abend bei allen bösen Witzen eine geringe Spur zu harmlos.

 

Die Kunst der Unterhaltung
Regie, Text, Bühne: Jan Lauwers, Kostüme: Lot Lemm, Musik: Jan Lauwers, Giovanni Battista Pergolesi, Maarten Seghers, Miles Davis, Dramaturgie: Elke Janssens.
Mit: Michael König, Grace Ellen Barkey, Viviane De Muynck, Misha Downey, Julien Faure, Yumiko Funaya, Benoît Gob, Sylvie Rohrer, Eléonore Valère.

www.needcompany.org
www.burgtheater.at

 

Alles über Jan Lauwers und die Needcompany auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

Der Abend von Lauwers und der Needcompany stecke voller Witze, sei dabei in letzter Instanz aber selbst einer, befindet Margarete Affenzeller im Standard (7.3.2011). Zwar gäbe es manch perfekt geplanten "Witz-Totalschaden" und ein Moment führe die "Kamera als Insignie des postdramatischen Theaters" ad absurdum, "indem er die dazugehörigen Monitore lachhaft klein ausfallen lässt." Doch cui bono? Man habe "keine Mühe, die Antidramaturgien der Unterhaltung zu erkennen. Leider mit der Folge, dass es dabei auch weitgehend langweilig bleibt. Das Amalgam aus halbherzigen Fernsehballetteinlagen und durchaus nett ausfransenden Szenen hat nicht dazu gereicht, den Theatertod als möglichen Treppenwitz der Kunstgeschichte in Szene zu setzen (und um nichts weniger als eine gesamtkunstgeschichtliche Aussage geht es Jan Lauwers hier)."

"Das Publikum, offenbar fest entschlossen, Lauwers zu lieben, lachte anfangs viel, verstummte dann mehr und mehr, lachte am Ende wieder – spendete aber eher kurzen Applaus." So zeichnet Barbara Petsch in Die Presse (7.03.2011) den Spannungsbogen dieses Abends nach. Lauwers breche die "Perfektion des Formats Show mit Pleiten, Pech und Pannen“ auf. Ihm sei "auch diesmal eine Menge und durchaus Welthältiges eingefallen. Aber in den eindreiviertel Stunden vergeht leider auch viel Zeit mit abgedroschenem Slapstick. Der Gipfel ist ein unappetitlicher Witz ohne Pointe über Hitler und den belgischen König Leopold, den Kongo-Schänder." Enspringer Michael König – "ein toller Schauspieler und ein Profi, der für diesen Einsatz nicht genug gepriesen werden kann" – wirke dabei leider "wie im falschen Film", sagt die Kritikerin über die Besetzungsmalaise. "Eine tiefe Kluft tut sich zwischen den körperbetonten Künstlern der Company und dem Sprechtheater-Spezialisten König auf. Ein federnder Repräsentant des leibhaftigen Bühnenwahnsinns wie Martin Wuttke hätte den Graben überspringen können, vielleicht auch ein monumentaler Blaubart wie Paulus Manker – und Otto Sander, der gleichfalls für die Rolle vorgesehen war, aber erkrankte, hätte wenigstens die nötige Dekadenz verbreitet."

Von offensichtlichen Botschaften à la "Für Geld tun die alles" oder "Alle Schauspieler lügen, sagt der Schauspieler" sei dieser Abend voll, berichtet Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.3.2011). "Bewundern kann man zweifellos, wenn man das Dargebotene doch wohl zu recht für banal, beliebig und entbehrlich hält, die Darbietung an sich." Denn im Performativen greife ein "Kontrollwahn hart durch", um das Ergebnis dann "improvisiert und unbeabsichtigt" aussehen zu lassen. So sei die Show höchst irritierend und geeignet, "um von der hanebüchenen Handlung abzulenken, und für manche offenbar auch höchst unterhaltsam, wie das Gelächter rings im Saal andeutet. Chaos durch Präzision könnte der Wahlspruch des flämischen Impresarios Lauwers denn auch sein."

Jan Lauwers habe wieder einmal einen "seiner typischen Bastarde kreiert, ein Stück, das zwar im Theater gespielt wird, aber auch auf jeder Tanztheaterbühne reüssieren könnte und als Kunstperformance durchgehen würde", merkt Stephan Hilpold an (Frankfurter Rundschau, 8.3.2011). "Nur als pure Unterhaltung hätte es der Abend schwer. Dabei geht es in erster Linie genau darum: Sterben wird als Unterhaltung inszeniert." Den Abend als eine grundsätzliche Kritik an der Unterhaltungsindustrie zu interpretieren, "hieße ihn allerdings deutlich misszuverstehen". Er speise sich "zur Gänze aus den ausgestellten Kunstgriffen der Unterhaltung". Gleichzeitig sei aber auch ein Abgesang auf "die großen Themen des Lebens, die nacheinander alle angerissen werden – und sofort wieder verebben".

"An diesem Abend ist die Avantgarde von gestern vielleicht ihrer eigentlichen Bestimmung gefolgt, weg von der Destruktion ab in die Konfusion", befindet Helmut Schödel (Süddeutsche Zeitung, 8.3.2011). Es sei "nie ganz klar, ob man nicht doch nach Literalität sucht oder ob sie nur am Pranger steht". Die Texte wirkten "allesamt irgendwie halbgar, schrecklich medium". Zu derart "pseudomodernen Projekten" gehöre "der sogenannte Bruch. Dafür stehen an diesem Abend Slapstick-Szenen, auch in Slow Motion". Aber was zu groß behauptet werde, "ist nicht selten der Schnee von gestern". Mit dem Engagement der Needcompany wolle sich Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann weltoffen und international geben. "Ich glaube aber", schreibt Schödel, "das habe ich schon vor 30 Jahren in Paris gesehen. Damals war es auch nicht besser, aber wenigstens neu."

"Die Kunst der Unterhaltung" im Akademietheater lehre einiges darüber, was im Theater heute so falsch läuft, meint Uwe Mattheiss in der tageszeitung (10.3.2011). Gegeben werde "der Freitod eines Schauspielers, mit opulenter Henkersmahlzeit, Giftspritzen und Millionen von Zuschauern", doch das Lob der individuellen "Freiheit", "sich jenseits der 55 selbst vom Markt zu nehmen, ist dabei nicht allzu ernst gemeint". Worüber man nicht sprechen könne, darüber könne man Faxen machen: "Schließlich keimt die Ahnung auf von einem ganz großen Missverständnis. Jan Lauwers und sein Ensemble recyceln lustvoll den verschrotteten Hausrat überlebter Theatertraditionen und erzeugen einen Distinktionsgewinn, auf den die Hüter dieser Traditionen gerade scharf sind. Das institutionskritische Moment, das einmal am Beginn von Karrieren wie der von Lauwers stand, ist zwar von gestern, aber noch immer wirkungsvoll. Ohne die Reflexion darüber, dass sich das einmal gegen den eigenen Betrieb gerichtet hat, bleibt alles nur gekauft."

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