Viele Stimmen, eine Kritik?

Wien, 12. März 2011.

alt Die Idee ist ja nicht schlecht: Man lädt am Morgen nach der Premiere das Publikum von gestern Abend ein, um gemeinsam eine Theaterkritik zu schreiben – mittels Mikrofon und Protokoll. Die österreichische Tageszeitung "Die Presse" probiert nun diese Form der öffentlichen Kritik anlässlich der gestrigen Premiere des neuen Botho-Strauß-Stücks Das blinde Geschehen und veröffentlicht das Kollektivurteil in ihrer morgigen Sonntagsausgabe – die anlässlich des Zeitungsjubiläums, wie genau wird noch zu sehen sein, von Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann "inszeniert" wird.

Die Idee also ist nicht schlecht und bricht im Prinzip auf erfrischende Weise mit dem veralteten Mythos Kritiker, der vom hohen Ross des Besserwissens hinab sein unumstößliches Urteil fällt: Stattdessen also wird hier auf die den spannendsten wie eindimensionalsten Theaterabenden gleichermaßen angemessene Vielstimmigkeit gesetzt – so weit, so gut.

Notgedrungene Hierachie

Nun lässt sich aber soviel kritische Unvereinbarkeit nur schwerlich in einen einheitlichen Text verpacken, ohne am Ende den Anschein des Werks einer zwiegespaltenen Persönlichkeit zu vermitteln; auch gleicht das ins Mikrofon gesprochene Wort sprachlich und damit auch inhaltlich selten der geschriebenen Kritik und bedarf also notgedrungen einer Übersetzung in die geschriebene Sprache und somit eines Mittelsmanns. Nicht zuletzt stellt sich vor allem die große Frage, inwieweit ein Regisseur selbst auf das Endergebnis einer solchen Kritik einwirken sollte.

Genau diese Probleme sind es, die sich hier an diesem Morgen im Burgtheater stellen. Bereits durch die notgedrungen hierarchische Situation – Regisseur, Dramaturg und Journalist sitzen im Scheinwerferlicht auf der erhöhten Bühne, da hilft auch Regisseur Matthias Hartmanns sympathischer Versuch, das Gespräch mehr auf Augenhöhe zu holen, indem er die Anwesenden in die vorderen Reihen bittet, wenig – wird das Gefühl eines klassischen Publikumsgesprächs beschworen. So muss auch immer wieder vom Moderator angemahnt werden, auf Fragen zugunsten klarer Statements zu verzichten. Das ist dann zwar vielleicht gut für die Konsistenz der schlussendlichen Kritik, macht aber wiederum die Anwesenheit des zu so früher Stunde ohnehin noch augenscheinlich von der Premierenparty gebeutelten Regisseurs im Prinzip überflüssig.

Das alte Demutsvokabular

Dieser nämlich muss sich immer wieder selbst zügeln, zu viele seiner Beweggründe zu offenbaren und sich für Entscheidungen zu rechtfertigen (obgleich er dabei einige schöne allgemeine Sätze über das Theater verliert, die nicht oft genug gesagt werden können – z.B. über die Frage der Notwendigkeit eines "Verstehens" in der Kunst oder den allgemeinen Illusionscharakter des Theaters). Die anwesenden Zuschauer-Kritiker hingegen verfallen dann auch zu Beginn zum Teil in das alte Demutsvokabular à la "Vielen Dank für ..." und "Ich bewundere ..." – allmählich jedoch werden die Kritikpunkte analytischer und argumentativ tiefreichender formuliert: Hier zeigt sich dann auf erfrischende Weise, dass verschiedene, interessante Meinungen mit oft gleich gut argumentierten Begründungen koexistieren.

Dennoch stellt sich bis zuletzt die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Ganzen fernab des gutgemeinten PR-Gags: Denn am Ende, wie so oft, beschränkt sich der kritische Dialog dann doch wieder nur auf einige wenige Protagonisten, zeitgleich bekommt jeder nur die Möglichkeit, einen oder einige wenige Aspekt(e) zu äußern, was in Hinsicht auf das Endergebnis eines einzigen, großen Textes zu einer doch recht schief zusammengezimmerten Gesamtkritik verkommen muss – die zwar vorgibt, die "kollektive Kritik" zu sein, tatsächlich aber so wirklich die Meinung von niemandem wiedergibt. Die große Antwort auf all die schwierigen Fragen rund um Theater- und überhaupt Kunstkritik wird also an diesem Morgen nicht gefunden – und so bleibt eher der Eindruck eines Hybrids aus Kritikrunde und Publikumsgespräch: Eigentlich so wie immer, höchstens ein bisschen verkrampfter, weil in der Loge der Protokollant mitschreibt.

(Kai Krösche)