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Der Mensch als Klecks

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 19. März 2011. "Die Luft hat's in sich, die Luft holt's her, die Luft gibt's heraus". Es ist der Lieblingsspruch des blauen Boll, der so heißt, weil er den Alkohol liebt, bisweilen ultramarin anläuft, überhaupt sich am Leben krankgesoffen hat und nun am Schlagfluss leidet – wie auch an sich selbst. Boll, der reiche Gutsbesitzer, raunt diesen nichtssagenden wie hellsichtigen Satz immer wieder den Menschen seines norddeutschen Kaffs ins Gesicht, den Philistern und Heuchlern, dem Bügermeister, Schuster Holtfreter, Uhrmacher Virgin genauso wie seiner Ehefrau Martha, die allesamt jede Änderung scheuen.

Boll aber spürt diese Unruhe in seinem Inneren, die Leere seines Lebens. Also steht er auf, will "werden" statt immer nur zu sein und pinselt, nur in Unterhosen bekleidet, mit blauen Lettern "Der Andere" an die unschuldig weiße Wand. Boll mag den alten Boll nicht mehr und erschafft sich neu, streift sein altes Ich ab wie eine alte Haut, und spricht fortan in dritter Person von sich. "Boll bringt Boll um", sagt er.

Von blau bis bunt

Ja, diese Luft hat es in sich. Sie riecht ölig nach Renovierungsdunst und egomanischem Action Painting. Man ahnt also Böses als Florian von Manteuffel und die anderen zu Beginn des "Blauen Boll" von Ernst Barlach ihre Hände und Beine in die Eimer in der Bühnenmitte tauchen, ihre fast nackten Körper mit leuchtenden Farben beschmieren, sich Schuhe auf die Füße malen. Rosa Haut, feist glänzende Schnurbärte, galliggelbes Haar.

Ute Hannigs Martha, die Bolls Frau spielt, hat einen Schwamm unter der schwarz getünchten Achsel und trägt ihn wie eine Handtasche von Gucci. Benjamin Grüters tippelndem Schweinehirt hängen die Arme affig bis zu den Ellbogen rot herab, als habe er sie gerade in frischer Blutwurst gebadet.

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 Jonas Fürstenau, Pauline Knof, Ute Hannig im "Blauen Boll". Foto: Sonja Rothweiler

Und Manteuffels Boll? Ist blau bis zum Hals. Aber nicht mehr lang. Es glitscht und gluckst und spritzt. Boll treibt es bunt, trifft auf die lebensmüde Grete, rettet sie vor ihrem kontrollwütigen Mann, dem Schweinehirten, und will ihr beim Vergiften ihrer drei Kinder assistieren. Boll überwirft sich mit allen, demütigt seine Martha, spricht wirr, denkt an Selbstmord, knutscht mit Grete, verhandelt mit dem Herrgott, greift sich in den Schritt. Boll kann halt nicht anders und fragt: "Boll muss? Muss? Also soll ich."

Sein oder Werden, das ist die Frage

Die Pharisäerprovinz, diese von Robert Schweer herrlich hingeworfene Tollbühne, die aus nichts als einer riesigen ausgelegten und sich allmählich von hinten aufrollender Leinwand und einem guten Dutzend Farbeimern besteht, ist dann eine einzige Sudelei. Ein abstrakt expressionistisches Ekelgemälde, das den inneren Kampf Bolls gegen Boll und damit Barlachs Drama in chaotische Linien und schlierige Kleckse überträgt, auf frappierende Weise ins Bild setzt. Weil es ein Bild ist für etwas, das keiner je verstehen wird, ein irres Gleichnis für den schmerzhafte Wandel des zynischen Boll zum zweifelnden, "anderen" Menschen.

Vor beinahe 85 Jahren fand die Uraufführung des "Blauen Boll" am damaligen Landestheater in Stuttgart statt. Es war kein Erfolg, nach nur drei Aufführungen war Schluss. Stephan Rottkamps "Boll" hingegen wird in Erinnerung bleiben, ganz sicher.

Indem der Regisseur seine Figuren nicht in Kleider, sondern in Farben hüllt, nimmt er dem Publikum jegliche Identifikationsmöglichkeit. Fettleibigkeit, Midlife Crisis, sexuelle Neurosen und Ehefrust interessieren Rottkamp nicht wirklich. Er lässt seine Schauspieler so sprechen, als sei jeder dieser scharfkantig geschnitzten Sätze des Bildhauer-Dichters Barlach der allerletzte in ihrem Bühnenleben. Jeder ist in diesen Momenten Boll, Jonas Fürstenaus Uhrmacher wie auch Benjamin Grüters Schweinehirt. Sein oder Werden, das ist hier die Frage.

Abgründe und Abstürze

Was Stephan Rottkamp an Barlachs Stück faszininiert, ist das Menschenmögliche: die scheiternde Suche nach dem Weg zu sich selbst. Da lauern Abgründe, drohen Abstürze: in Pathos und Kitsch – der Regisseur riskiert wirklich was. Doch weil er fragt und keine Antworten gibt, folgt er einem Text aus lauter Spuren, ist Barlach treu, diesem Seismografen der Seele und dessen expressionistischen Furor, ohne sich dem Mystischen und Dunkelraunenden zu ergeben.

Rottkamp vertraut seinem wunderbaren Ensemble, das aus dem Gastauftritt von Ute Hannig und ihrer Rolle als geerdeter Martha einigende Kraft zieht. Gerade sie, die das schmallippige Spießerweib gibt, welche in ihrer Ordnungsliebe die Boll'sche Ich-Revolte zu zersetzen versucht, entlockt ihrer eigentlich flachen Figur eine ungeahnte Tiefe. Nie weiß man, ob sie sich noch einmal gegen den Wahnsinn stemmen, um den Mann und die kleinbürgerliche Heimeligkeit kämpfen wird.

Gegen Ende küsst sie ihre Rivalin Grete (Pauline Knof), Boll hat es ihr befohlen. Ein Kuss, zärtlich, gewiss, aber von oben herab, wie Grete in rot und schwarz getaucht. Man weiß: Die gibt nie auf. Eine Hassliebende. Boll weiß es aber auch, er atmet tief ein, blickt in die Ferne, wo nichts ist, außer dieser Leere, diese "Luft, die es in sich hat". Dann dauert es nicht mehr lang und Boll gibt auf. Die Farbe trocknet schon, die Menschwerdung hat ein Ende. Einfach groß.

Der blaue Boll
von Ernst Barlach
Regie: Stephan Rottkamp, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Kirsten Dephoff, Dramaturgie: Christoph Lepschy.
Mit: Florian von Manteuffel, Ute Hannig, Pauline Knof, Benjamin Grüter, Sebastian Schwab, Jonas Fürsten.

www.staatstheater.stuttgart.de

Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt. Das exzessive Bemalen der Körper war übrigens auch ein eindrucksvolles Struktur- und Inszenierungselement in Jürgen Goschs Version von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere, 2007 am Deutschen Theater in Berlin.

Kritikenrundschau

"Bei der späten Wiederbegegnung mit einem eher selten gespielten Stück dräute eine Malschlacht, aber es wurde nichts weniger als das", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten: "Stephan Rottkamp gelingt die überzeugendste Inszenierung der Saison." Indem "durch Malkostüme und nackte Bühne die surrealen, expressionistischen Explosionen von aller zeitlich einengenden Verortung befreit" seien, könne "man sich aufs gedanklich Wesentliche konzentrieren: die Frage, wie man zu dem wird, der man ist, und ob Veränderung möglich ist." Rottkamps Timing sei "bravourös, er zeigt Gespür für Situationskomik, für Pausen, für Stille und Tumult, er nutzt den Raum, und die Schauspieler beeindrucken mit Teamplay und nuancenreichstem Spiel."

Barlachs "Der blaue Boll" sei "in seiner Mischung aus Mecklenburger Volkstheater, parabelhaftem Mysterienspiel und erdenschwerem Ewigkeitsdiskurs (…) eher Arte-Nachtprogramm", befindet Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (21.3.2011). Der erste Schritt einer Neuinszenierung müsste laut Schleider "wohl sein, Barlachs Figuren aus ihrer Jenseitigkeit irgendwie ins Justin-Bieber-Hier-und-Heute zu transferieren und für das Publikum mit Geschichte und Glaubwürdigkeit auszustatten." Schleider bezweifelt, "ob es dafür reicht, die Protagonisten des Abends am Anfang mehr oder weniger nackt auf die Bühne zu stellen und sich dann bunt bemalen, bespritzen und überkübeln zu lassen". Allerdings "spielen sie wirklich gut: Das Ensemble ist das große Kapital des Abends." Das Ganze habe "ein bisschen was von coolem Happening, das meinen wir jetzt ganz unironisch." Aber: "Eine Geschichte, deren Figuren nicht erklärt werden, zum Schluss mit einer Moral zu versehen, die aber offenbar niemand ernst nimmt – das macht die Frage unausweichlich, wozu der ganze Aufwand eigentlich nötig war."

Adrienne Braun schreibt in der Süddeutschen Zeitung (23.3.2011) über die "kühne Farbschlacht" zu der sich Stephan Rottkamp inspirieren ließ: "Es ist ein spektakulärer, aber auch schöner Effekt, zu dem Rottkamp gegriffen hat, um Barlachs eigenwilliges Mysterienspiel zu erden". Selten werde der "Boll" gespielt, dabei verpacke Barlach "seinen Erlösungsdrang, seine Vision vom 'ewigen Werden' in eine freche Spießerposse mit karikaturistisch verzerrter Dorfgemeinschaft". Er statte seine Figuren mit "einer klangvollen, artifiziell gedrechselten Sprache" aus. Und mitten im "hehren Ringen" platze Bolls Gattin platt hinein: 'Ich muss aber jetzt wirklich ganz schnell zum Essen gehen ... Ich bin ganz steif vor Hunger' – "und Ute Hannig kippt sich in einer herrlichen Slapsticknummer einen Eimer Farbe wie aus einem Bierhumpen übers Gesicht. Arme Schauspieler."

Das "Actionpainting auf fast nackten Körpern, als Happening auf einer sich selbst aufrollenden Leinwand" kenne auch abgestuftere Nuancen, findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.3.2011): "Gretes Höllenfahrt etwa ist ein Albtraum aus Nacht und Licht. Ute Hannigs Martha stolziert, von Bolls Metamorphosen überfordert, hinreißend auf Zehenspitzen durch Schlick und Sumpf". Barlachs schwerblütige Komik aber komme zu kurz, "und das Werden und Vergehen wird mehr und mehr zum eurythmischen Ausdruckstanz. Rottkamp wollte Barlachs Figuren bis auf den Kern entblößen, aber er trägt die neuen Farben ein wenig zu dick auf. Wenn die Leinwand am Ende wieder ausgerollt wird, ist das Leiden und Kämpfen, 'Verunsaubern und Beschmutzigen' zu einem Bild mit interessanten Farbtupfern und schön verschmierten Schicksalslinien geronnen. Aber aufhängen möchte man das Geklecksel lieber nicht."

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