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Fleischpfand der Geschichte

von Annette Hoffmann

Freiburg, 19. März 2011. René Pollesch sagt, Tocotronic sagt, in Freiburg müsse man sich immer verbrüdern. Ein Tag nachdem dieser Satz in René Polleschs Freiburger Uraufführung seines neuen Stücks "Was du auch machst, mach es nicht selbst" gefallen ist, steht im Großen Haus des Theaters eine derartige Verbrüderung an: Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig", inszeniert von Avishai Milstein, gespielt von einem internationalen Ensemble.

Von dem israelischen Regisseur war in Freiburg als Gastspiel bereits "Die Banalität der Liebe" zu sehen, eine Produktion des Tel Aviver Teatron Beit Lessin. Milstein arbeitet am Teatron Beit Lessin als Chefdramaturg. Avishai Milstein, der in München Theaterwissenschaft studiert hat, fühlt sich, wie er sagt, auf einer Brücke zwischen den Kulturen. Mit Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" haben Regisseur und Theaterleitung nun die größte denkbare Herausforderung gesucht. Es soll bei früheren Inszenierungen schon passiert sein, dass Zuschauern vor dem Theaterbesuch Flugblätter in die Hand gedrückt wurden, die auf den antisemitischen Gehalt der Komödie hinwiesen. Das ist nicht nötig, man merkt es auch so.

Fremdheit und Sprache

Die Stimmung ist aufgekratzt an der Börse von Venedig. Die Kaufleute tragen zu grauen Anzügen Aktenkoffer, Eberköpfe unterm Arm und ein fröhliches "Morgen!" auf den Lippen. Von oben rieseln Banknoten auf die Männer herab, die sie auffangen als seien ihre Koffer Schmetterlingsnetze. Ansonsten ist nicht viel los, Salerio (André Benndorff) steckt Antonio (Mathias Lodd) ein Theatermesser in die Rippen und malt ihm noch eine Wunde dazu, rot wie Blut. Shylock (Doron Tavory) nimmt sich unter diesen gelangweilten Venezianern fremd aus, er ist eindeutig zu kosmopolitisch. Wenn Bassanio (Martin Weigel) ihn um die 3.000 Dukaten bittet – "will you pleasure me" – wirkt es als sei dieser nie aus seinem Dorf herausgekommen.

Der fatale Einfall mit dem Pfund Lebendfleisch Antonios als Pfand ist nichts anderes als ein geistreicher Witz Shylocks, aus dem Moment heraus entstanden. Fremdheit, und um dies geht es der Inszenierung ganz wesentlich, wird über Sprache kommuniziert. Man redet nicht allein Deutsch auf der Bühne, Shylock spricht die internationale Geschäftssprache Englisch, manchmal Hebräisch und auch Jiddisch.

Die Wertesysteme Liebe und Geldwirtschaft

Ein derart internationales und multireligiöses Ensemble hat an deutschen Stadttheatern Seltenheitswert, auch im interkulturell so engagierten Theater Freiburg muss man auf Gäste zurückgreifen. Wenn Lanzelot (Orhan Müstak) seine Sprachkenntnisse Deutsch, Englisch, Kurdisch, Türkisch anpreist, um den nächstbesseren Job zu ergattern, klingt es, als ob der Schauspieler sich um einen Ensembleplatz an einem Stadttheater bewirbt. Fremdheit wird allenfalls in der Liebe überwunden und auch dies nicht immer zuverlässig.

Denn eine 180 Grad-Drehung der Bühne und der coole weiße Architektureinbau steht für die Intimität von Portias Gemächern. Franziska Jakobsen hat für die Frauen knöchellange Wickelmäntel und Schleier aus glänzendem Satin entworfen. Dazu tragen sie – nein, keine Turnschuhe, Highheels. Noch herrscht Portia (Rebecca Klingenberg) dort alleine, an der Seite ihre Kammerfrau (Marie Bonnet), doch die Freier stehen Schlange, das Kästchenrätsel zu lösen und damit ihre Hand zu gewinnen. Auch Bassanio wird sich in sie einreihen.

Wäre da nicht Shylock, es ließe sich über die Wertsysteme der Liebe und der Geldwirtschaft nachdenken. Doch da ist Shylock, der am Ende in einem Gewaltakt getauft wird und so ganz ungeschoren will Milstein den Zuschauer in diesem Drama der Kulturen nicht nach Haus gehen lassen. Da werden geschmacklose Muslimwitze erzählt und als Shylock von Antonios Verlust seiner Schiffe erfährt, sieht man schemenhaft eine dunkel gekleidete, gebeugte Schar vorbeiziehen mit Koffern in der Hand – eine Vorwegnahme dessen, wohin die Grausamkeiten gegenüber Shylock noch führen werden.

Symbolische Überfrachtung

Doch dies vergisst man während der gesamten Inszenierung ohnehin nicht einen Moment. Geschichte ist in dieser Konstellation auch so etwas wie ein Pfand. Zu symbolisch wirkt sich deshalb auch die Tatsache aus, dass ein israelischer Regisseur an einem deutschen Stadttheater mit einem derart stadttheateruntypischen Ensemble ausgerechnet Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" inszeniert. Das überfrachtet das Geschehen auf der Bühne von Anfang an, und überdeckt alle weiteren Deutungsmöglichkeiten, die Milsteins eher konventionelle Lesart bieten könnte.

Bestenfalls ließe sich sagen, die Inszenierung spiegle jeweils die eigenen plakativen Klischees, die man sich vom Fremden gemacht hat. Der gut gemeinte kulturpolitische Wille wiegt an diesem Abend im Theater Freiburg jedoch schwerer als alles andere.

 

Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare
Regie: Avishai Milstein, Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Franziska Jacobsen, Musik: Sven Hofmann, Dramaturgie: Josef Mackert.
Mit: André Benndorff, Gabriel von Berlepsch, Marie Bonnet, Monica Gillette, Rebecca Klingenberg, Mathias Lodd, Orhan Müstak, Andreas Helgi Schmid, Doron Tavory, Martin Weigel.

www.theater.freiburg.de

 

Der Regisseur Avishai Milstein schrieb 2010 einen Theaterbrief zur Lage der israelischen Theaternation.

 

Kritikenrundschau

Avishai Milsteins Inszenierung des "Kaufmann von Venedig" spiele "sehr angemessen in der luftigen globalen Finanzwelt der Wall Street", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (21.3.2011). Allerdings scheine der Regisseur "vor allem im ersten Teil des gut zweieinhalbstündigen Abends (…) den Kern des Dramas – die Rache des Fremden an der sich vor ihm verschließenden Gesellschaft – aus dem Blick zu verlieren." Das sei "nicht zuletzt der vom Freiburger Team erfundenen Figur eines Moslems geschuldet, (…) die kabarettreifen Einlagen – ein alberner "Muslimtest" mit Sprenggürtel muss wohl sein – drohen sich zu verselbstständigen und die Inszenierung auseinanderfallen zu lassen". Nach der Pause indes verdichte "sich das Geschehen – und Shakespeares Sprache in der bewundernswert flüssigen und sprechtauglichen Übersetzung von Elisabeth Plessen wird zum Hauptakteur in der alles entscheidenden Gerichtsverhandlung um das Recht des Juden auf ein Pfund Christenfleisch." Dem israelischen Schauspieler Doron Tavory gelinge es dabei bravourös, "sich von jedem wohlfeilen Opferklischee fernzuhalten".

Dass Avishai Milstein, der in Freiburg den antisemitischen Gehalt des "Kaufmanns" neu ausloten sollte, "die politisch korrekte Pflicht einfach verweigert, muss man ihm hoch anrechnen", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.3.2011). Aber "dass er eine harmlose Komödie als Kür anbietet, wird Shakespeares tragischer Komödie auch nicht gerecht." In dieser vielsprachigen und nationalitätenreichen Version werde Shakespeare "eher eine bonbonfarbene Multikulti-Komödie als eine politische Groteske". Einmal "schlurfen ein paar Deportierte mit Koffern durchs Bild; Shylocks Zwangstaufe sieht eher nach Waterboarding in Guantánamo als nach gelungener Integration aus. Aber damit ist für Milstein der Antisemitismus-Diskussion auch Genüge getan. Der Rest ist venezianischer Karneval mit Hitler- und Islamistenwitzen."

Den "Kaufmann von Venedig" hält Ulrich Herrmann in der Frankfurter Rundschau (24.3.2011) für eines der schwächeren Dramen von Shakespeare. Aber Avishai Milstein finde einen Schlüssel zum Verständnis: "indem er Shakespeares Trash nicht veredelt, sondern ausstellt. Die Besetzung ist multikulturell, das Spiel alles andere als beliebig. Es moralisiert nicht, es zeigt nur, wie es ist, ein naiver Moslem, ein kompromissloser Jude, ein arroganter Christ zu sein." Der Schauspieler Doron Tavori verwandele zudem den Shylock in Shylock von Shakespeare, indem er keine Ausflüchte kenne, keine Sekunde Angst habe vor antisemitischen Missverständnissen.

"Politisch korrekter geht's nicht", fasst Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (24.3.2011) "diese seltsam träge Inszenierung" zusammen. "Merkwürdig an diesem 'Kaufmann' ist, dass Milstein wie ein Buddha der Regie Szene für Szene abarbeitet, dabei aber derart witzig sein will, dass man in einer Mainzer Prunksitzung gelandet zu sein meint." So eintönig Milstein inszeniere, so aufgeregt spicke er seinen Kaufmannsbraten: "Jessica etwa wird von der Tänzerin Monica Gillette gespielt und musste wohl den Text beiseite legen, damit sie wie Mary Poppins trällern und tanzen kann. Oder Orhan Müstak, der als Diener des Shylock eine entschieden arabische Komponente ins Spiel bringt und irgendwann mit einem Venezianer den Muslim-Test durchführt. Es versteht sich, dass der Getestete durchfällt. Da ist ja dieser Sprengstoffgürtel."

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