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99.9% Stupid (aus der Zukunft betrachtet)

von Georg Petermichl

Wien, 25. März 2011. Bisher wurde "Nachhaltigkeit" im Theater z.B. mit der Anzahl der Festivaleinladungen beziffert. Oder: mit dem Potential für Wiederaufnahmen, Zeilen in der Presse-Berichterstattung. Die Wiener Off-Theatergruppe toxic dreams hat nun allerdings den "ökologischen Fußabdruck" für ihre neueste Performance-Produktion adaptiert. – Unsere Bedürfnisse verbrauchen ungemein viel Energie, und dieser Wert wird in Hektar Land pro Person ausgedrückt: Das Land, das benötigt wird, um zu pflanzen, zu züchten, zu produzieren, zu leben und um freigesetztes Kohlendioxid wieder zu binden. Pro Person sind das in etwa fünf Hektar im deutschsprachigen Raum: Wir leben ganz schön über unseren Verhältnissen.

Theatrical Imprint on Planet Earth

Yosi Wanunu, Autor/Regisseur von toxic dreams, ist sich sicher, dass seine neue Produktion (in englischer Sprache) fünf Hektar verschleißt. Er verweist auf die grafische Aufschlüsselung, die toxic dreams gemeinsam mit der Universität Klagenfurt dafür erstellt hat (siehe: www.toxicdreams.at). Zu diesem Zeitpunkt steht er im Foyer der Wiener Koproduktionsbühne brut. Wanunu erklärt dabei die wohl neueste Form der Publikums-Beteiligung: Strenggenommen müsse zwar ein Österreicher für die Produktion verschwinden, um sie nachhaltig zu machen, meint er. Als Lösung hält er aber gemeinsame Sparmaßnahmen parat: Zehn Mal Gemüse statt Fleisch. Oder ebenso oft die Öffis verwenden, statt dem eigenen Auto. – Zwei Möglichkeiten von insgesamt zehn – damit hätte man seinen Beitrag geleistet.

Diese Einführung zur "100% Environmentally Friendly Show" ist genial. Seit der Moderne ist klar, dass Kultur- und Kunstprojekte im Einzelfall immer fragwürdig bleiben – l'art pour l'art. Kunst ist eben Kunst, um der Kunst willen: Im Gegensatz zur Theaterproduktion beantwortet die wirtschaftliche Produktion ständig Legitimierungsanforderungen. – Mit seiner Einführungslecture stellt Wanunu das Theater mit den anderen Genussgütern gleich und fordert exemplarisch das Verantwortungsgefühl seines Publikums ein.

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©Tim Tom
Kann die Menschheit die Folgen der Atomkraft tragen?

Im Hauptraum des brut zeugen die esoterisch vor sich hinklimpernden Synthesizerklänge davon, dass unsere Antwort dem großen Naturgefüge letztlich egal ist: Die Zuschauer sind wie in einem Anatomietheater auf die Galerie verwiesen. Im ehemaligen Bühnen-/Tribünenraum prangt eine Weltkarte – die Kontinente sind mit Leuchtgirlanden genau umrissen, Zimmerpflanzen markieren die Vegetation darauf, in den Meeren tummeln sich die Projektionen aussterbender Tierarten, wie dem Hammerhai. Die Besucher befinden sich in einer Zukunft, in der die Menschheit verschwunden ist. Netterweise haben die Erdbewohner eine Untergangsbotschaft – ein Schuldbekenntnis – hinterlassen. Beides wird in den nächsten 90 Minuten aufgearbeitet.

Die Performer Irene Coticchio, Agnieszka Dmochowska, Laia Fabre und Anna Mendelssohn machen aus dem Untergang der Menschheit eine Nummernrevue mit schmeichelweich gesprochenem Textteppich, mit Performance- und Songelementen, die sich unerwartbar aktuell gestalten: Knut, der Eisbär, tanzt verloren durch dieses Weltbild. – Die Menschheit ließ zwar den Lebensraum der Eisbären schrumpfen, aber dem Einzeltier in Gefangenschaft ungeteilte Liebe zukommen. In der Folge geht es auch um die Ernährung der Menschheit, den Umgang mit der Ozon-Schicht, dem Individualitätsgebot – alles geschieht nach dem Prinzip unkontrollierter Ressourcenverschwendung.

Alles gefühlsleer

Manchmal schafft es die Produktion aus dem atmosphärischen und professionell betriebenen Infotainment heraus: Anna Mendelssohn erhebt sich einmal auf einem Hubkarren über die Galerie hinaus, um dem Theaternebel zu entfliehen, der sich gerade über der Weltkarte ausbreitet. Ganz poetisch berichtet sie oberhalb dieser Nebel-Atmosphäre über das Konzept des "aerial oceans", das die Menschen nicht verstehen wollten: "They continued to throw stones at the glass ceiling," haucht Fabre. Derweilen hat der Nebel die Theatergäste husten lassen: Irgendwann sind wir diesem Ökosystem wohl zuviel geworden.

Die Produktion wartet mit wunderschönen, unerwartet atmosphärischen Theaterbildern auf. Ihr fehlt allerdings die Präsentation von persönlichem Bekenntnis – unter diesen Vorraussetzungen fehlen auch lebendige Charaktere: Niemand leidet hier. Alles ist steril: Die Theatergruppe hat ihr Umweltstatement sphärisch bzw. informativ gelassen. Ihre Fiktion fußt auf dem Moment, da alles zu spät ist: Insofern ist dieser Abend brachial und stimmt zwangsläufig nachdenklich.

Eigentlich ist das unendlich schade: Die Produktion prangert das Fehlen von persönlichen Bekenntnissen an, schrammt aber an ihrer Darstellung vorbei.

 

The 100% Environmentally Friendly Show
von toxic dreams
Text und Regie: Yosi Wanunu, Set: Yosi Vanunu, Mayasari Feradina Zoesmar, Video und Sound: Michael Strohmann, Wissenschaftliche Begleitung: Raffael Hickisch und Karlheinz Erb, Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt.
Mit: Irene Coticchio, Anna Mendelssohn, Laia Fabre, Agnieszka Dmochowska, Yosi Wanunu.

www.brut-wien.at
http://toxicdreams.at


Die Wiener Formation toxic dreams wurde 1997 von Kornelia Kilga und Yosi Wanunu gegründet. Darüber hinaus gehören der Gruppe Irene Coticchio, Anna Mendelssohn und Michael Strohmann an.

 

Kritikenrundschau

"Für gewöhnlich ist es der Blick von unten nach oben, von der Erde zu den Sternen, der den Menschen mit dem mulmigen Gefühl der Nichtigkeit erfüllt. Dass der umgekehrte Blick nicht weniger, vielleicht noch viel mehr irritiert, beweist das Performance-Kollektiv toxic dreams", so Kai Krösche in der Wiener Zeitung (29.3.2011). Das geschehe mit all jener handwerklichen Perfektion, die eine solche Show fordert – von perfekt choreographierten Licht-, Ton-, Tanz- und Musikeinsätzen hin zu silbengenau betonten Erzählerstimmen. "Zugleich jedoch mit einer irritierenden Distanz des Besserwissenden, des Außenstehenden. So bekommt der Show-Charakter dann etwas Bestürzendes."

In elf Kapiteln schildert das Ensemble verschiedene Etappen der ökologischen Krise und verbindet Gesellschaftskritik mit Mythologien, das ganze "zwischen unkonventionellen, detailreichen Bühnenideen und einer ironischen Aufarbeitung unserer Umweltsünden", so Sebastian Gilli im Standard (30.3.2011). Sein Fazit: eine kluge Performance, die es versteht, "ohne Sentimentalität und mit verspielter Didaktik eine neue Herangehensweise an das Dauerthema Ökologie zu finden und Bewusstseinsbildung zu fördern".


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