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Und noch einmal von vorn

von Heiko Ostendorf

Osnabrück, 3. April 2011. 18 Jahre lang schöpfte niemand Verdacht. Niemand merkte, dass Jean-Claude Romands halbes Leben eine Lüge war, dass er weder Arzt noch bei der Weltgesundheitsbehörde WHO arbeitete und dass er nicht wirklich krebskrank war. Anstatt zur Arbeit nach Genf zu gehen, vertrieb er sich die Zeit mit ziellosen Autofahrten. Sein Leben finanzierte er sich mit von Freunden und Verwandten veruntreutem Geld. Bis hierhin hat diese wahre Geschichte etwas Absurdes und geradezu Komödiencharakter.

© Uwe Lewandowski
Dietmar Nieder und Clemens Dönicke in "Amok"
© Uwe Lewandowski

Regisseur Jan-Christoph Gockel nutzt genau das bei der Uraufführung des von ihm und Dramaturgin Patricia Nickel-Dönicke für das Theater Osnabrück bearbeiteten Romans "Amok" von Emmanuel Carrère. Gockel spielt dermaßen geschickt mit der Theaterrealität, dass man beim Zuschauen schwindlig zu werden meint. Die beiden Darsteller Clemens Dönicke und Dietmar Nieder spielen alle Figuren: den Autor Carrère, Romands Kumpel Luc, die Geliebte und natürlich Romand selbst.

Jean-Claude Jekyll und Romand Hyde

Dabei lösen sie sich immer wieder aus ihren Rollen, unterbrechen sich gegenseitig und entscheiden sich nach einer knappen Viertelstunde, dass das Stück so nicht funktioniert und beginnen einfach von vorne. Die Entscheidung, wann Dönicke und Nieder ihre Figuren verkörpern und wann sie einfach nur zwei Schauspieler sind, die versuchen, ein Stück auf die Bühne zu bringen, verwischen zunehmend. Damit wird das Theater zum Spiegel der Geschichte, zum Verwirrspiel über Realität und Illusion.

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Das ist komisch anzusehen, weil beide Darsteller mit dieser Aufgabe spielfreudig umgehen und in improvisierten Momenten perfekt zusammenarbeiten. Romand verkörpern beide zugleich und stellen so die Verletzlichkeit und Feigheit dieses seltsamen Mannes sowie sein cleveres, selbstsicher erbautes Lügenkonstrukt wie zwei Seiten einer Medaille nebeneinander. Dönicke nölt ängstlich. Nieder hält souverän die Lügen aufrecht. Dafür werden einzelne Szenen auch gerne zweimal in unterschiedlichen Versionen gespielt.

Das Lügengebäude kippt

Doch am Ende zerfällt Romands mühsam aufgebaute Welt, und das von Ausstatterin Julia Kurzweg gestaltete, fast über die gesamte Bühnenbreite reichende Regal mit allen Ordnern, Akten und Beweisen kippt mit einem lauten Knall um. Romand bringt seine Frau, die beiden Kinder, seine Eltern und den Hund um. Seine Geliebte kann sich wehren und entgeht dem Tod. Der halbherzige Selbstmordversuch des Täters scheitert. Er überlebt, kommt vor Gericht und wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

Gockels Inszenierung lebt von der Balance zwischen Ernst und Komik, die nie unangebracht erscheint, da er schließlich nur die Absurdität der Wirklichkeit freilegt. Und das ist virtuose Theaterkunst, die durchaus mehr als nur sehenswert ist.


Amok
von Emmanuel Carrère
Bühnenfassung von Patricia Nickel-Dönicke und Jan-Christoph Gockel
Uraufführung
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne und Kostüme: Julia Kurzweg, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke, Video: Florian Rzepkowski.
Mit: Clemens Dönicke, Dietmar Nieder.

www.theater-osnabrueck.de

 

Kritikenrundschau

In der Osnabrücker Bühnenversion des Buchs von Emmanuel Carrère werde "ein schauriges Verbrechen nicht einfach im Emma-Theater 'nachgebetet', sondern couragiert kommentiert", schreibt Christine Adam in der Onlineausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung (4.4.2011). Das Verbrechen erscheine als "das, was es ist in allen seinen Mischungsverhältnissen: tragisch, erbärmlich, lächerlich – und sagenhaft monströs." Das Duo Dönicke/Nieder präsentiere sich dabei in "bester Spiellaune und meist weit entfernt von grauer Tragik". Auch setze die Regie von Jan-Christoph Gockel "der Schmierenkomödie hier und da gekonnt die Krone auf, indem sie filmisch Romands Stunden vor seinem halbherzigen Selbstmordversuch mit Szenen aus dem Zeichentrickfilm 'Drei kleine Schweinchen' von 1933 parallel schneidet. Mitreißende französische Chansons erklingen, sobald es dramatischer wird. Sie konterkarieren energisch jene tragische Größe, die sich der im Gefängnis frömmelnde Amokläufer selbst zuschrieb." Leise Einwände erhebt die Kritikerin erst gegen Ende ihrer Rezension: "So viel Bühnenpräsenz und Improvisation verhindert nicht ganz Längen im zweiten Teil des zweistündigen Abends. Kein großer Einwand bei der so vorbildlichen Botschaft aus dem Theater: Kunst und Medien sollten menschliche Erbärmlichkeit nicht einfach wiederholen, sondern deutlich benennen und darstellen."



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