alt

Der kühle Hauch des Lebens

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 8. April 2011. Bis überhaupt das erste Wort an diesem fast zwei Stunden dauernden Abend gesprochen wird, vergeht eine geräumige Weile, in der das Trio auf der Bühne trinkt, raucht, rülpst, stiert, rührt und spachtelt. Drei Handwerker, die gekonnt den Rotz ihrer Nasen hochziehen und jeden Tag in der Kolonne auf die Baustelle fahren.

wenn_dann_birgit_hupfeld
Thomas Huber. © Birgit Hupfeld

Ricki (Viktor Tremmel) ist ein vorlauter Vorarbeiter-Prolo ("Was für eine Fickscheiße"), der ein paar Tage nach seiner Hochzeit die Frau seines Lebens kennen lernt und das als schwerwiegendes Problem empfindet. Uli, den Oliver Kraushaar als bahnbrechend dumm aus der Wäsche glotzenden großen Naiven spielt, ist der optimistische Weltverbesserer, und Rudi ist ihnen an Jahren und Erfahrung überlegen. Michael Abendroth gibt ihn als von heiterer Melancholie umwölkten schmallippigen Schwarzseher, der nicht an Erlösung glaubt und an auch sonst nichts mehr.

Von Feen und Königen

Zur Vollständigkeit fehlt den dreien Marek (Thomas Huber). Der ist zwar verschwunden, sitzt in Frankfurt aber in der ersten Reihe und gibt von Zeit zu Zeit Klopfsignale von sich, ehe er zum Schluss einen pimmel- und hodensackschwingenden Veitstanz aufführt und dem Abend damit den Rest gibt. Das schert Urzeitviech Marek wenig, genüsslich schmiert er sich mörtelartige Masse in die Körperritzen und reibt sich augenrollend den Blähbauch, um dann bar jeder Poesie von Feen und Königen zu schwafeln, bis die Fremdscham im Zuschauerraum schlechten Geruch verbreitet.

nachtkritik.de hat alles zum Theater. Damit das so bleibt, klicken Sie hier!

Auch wenn es sich jetzt nicht so anhören mag, das ein wenig dürftige Stück von Roland Schimmelpfennig, von dem wir nicht sicher sind, was es überhaupt verhandelt, hat auch reizvolle Seiten. Wie auch so manche Szene und so manch ein Moment der Uraufführungsinszenierung von Christoph Mehler. Wie so oft verhakt Schimmelpfennig auch diesmal das Fantastische mit der profanen Alltagswelt und eröffnet dem Zuschauer Parallelwelten, die dieser zwar schon immer befürchtete, aber nie besuchte.

Pause. Bier. Rauchen

Das Stück, ein Auftragswerk für das Schauspiel Frankfurt, bringt dabei den einen oder anderen tarantinoesken Dialog und den einen oder anderen schönen Theatersatz hervor. "Ich glaube an die Vereinten Nationen" oder "Die steht morgens auf und redet als erstes über Völkermord". Auch der erste Satz gehört zu den knappsten und verhängnisvollsten, mit denen ein Drama seinen Anfang nehmen kann: "Wir passen nicht zusammen." Und die Regieanweisung "Pause. Bier. Rauchen. Vielleicht Arbeit" taugt als inhaltlicher Wiegeschritt manch eines Lebens.

Doch auch diese Sätze und einige komische Augenblicke retten den lauen Abend nicht. So ist es kein bisschen verwunderlich, dass sich der mit Abstand herrlichste Moment rund um eine Leerstelle breit macht. Nachdem die drei Handwerker abwechselnd die rückwärtige Wand bearbeitet haben, gibt diese schließlich ein sagenhaft schwarzes Loch frei.

Das Versprechen der Schwärze

Aus diesem dringen womöglich sphärische Klänge, Autobahnrauschen, ein kühler Abendhauch, die Ungewissheit und die Zukunft. Und vielleicht ist es genau dieses schwarze Loch beziehungsweise, der Wunsch es zu durchwandern, weswegen man überhaupt ins Theater geht.

In Frankfurt erlischt in dem Moment, als das Loch an der Wand erscheint, das Licht im Zuschauerraum, der sich plötzlich in eine schwarze Masse verwandelt. Ein gespenstischer Moment, an dem alles möglich scheint. Wenn die Saallichter nach der Vorstellung wieder angehen, ist das schwarze Loch nicht mehr als ein leeres Versprechen. Mit Sh-Boom-Sh Boom-Lala-Musik verendet der Abend im belanglos gut gelaunten Nirgendwo. The easy way out.

 

Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum (UA)
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Christoph Mehler, Bühne: Nehle Balkhausen, Kostüme: Anne Hölzinger, Musik: Oliver Urbanski, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Michael Abendroth, Thomas Huber, Oliver Kraushaar und Viktor Tremmel.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Der Regisseur Christoph Mehler, 1974 in Berlin geboren, leitete 2005 bis 2009 die Spielstätte "Box & Bar" des Berliner Deutschen Theaters und ist nun freier Regisseur, u.a. in Dortmund, Konstanz und Nürnberg, wo er 2010 Shakespeares Richard III. inszenierte. Alles über Roland Schimmmelpfennig auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

Schimmelpfennigs neues Stück komme im Titel daher, "als könnte es Philosophen, Logikern und Frankfurter Theatertanten endlich die Welt erklären", schreibt Friederike Haupt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (10.4.2010). Tut es dann aber nicht. Es werfe stattdessen Rätsel auf, Rätsel der Preisklasse: "(W)ie schön bitte stellt sich das Theater das Handwerkerleben vor?" Und "Regisseur Christoph Mehler lässt die Schauspieler delirieren, bis sie über Eliten, Tod und Klimawandel alles durchhaben, aber das 'dann' zum 'wenn' ertrinkt im Augustiner. Antworten, kluge oder doofe, gibt es hier leider nicht, nur altbekannte Fragen."

"Muffenstück und Bauarbeiterbier, Mörtelspiel und immer weitgeschweiftere Rede" – was das alles solle, bleibe in Schimmelpfennigs neuem Stück unklar, schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (11.4.2011). "Ist es ein Kammerspiel? Ist es eine Komödie? Eine Kellerkomödie? Vielleicht, aber wenn dann allenfalls eine unterdrückte. Manchmal blubbern wirklich komische Momente hoch, wie Schimmelpfennig das eigentlich so köstlich kann. (…) Aber das vergeht so schnell wie die Patina bei der Altbausanierung." Regisseur Christoph Mehler, "eigentlich talentiert in Sachen Rhythmus, Situation und Psychologie", nehme alles "sehr wörtlich und will möglichst viel Sinn da herausarbeiten, wo keiner ist. Er nimmt dieses Stück und seinen Mörtelrealismus richtig bierernst, wie wenn diese vier Arbeiter bei Tennessee Williams und Samuel Beckett zugleich aufträten." Das Ganze sei aber "nicht mal eine Petitesse. Man hätte dem Autor einen Gefallen getan, wenn man diesen Schimmelpfennig einfach auf sich beruhen lassen würde."

"Die Wand – anfangs im Zustand des Wiederzugemauertseins, dann in einer grandiosen Szene minutenlanger Hammerschläge zurückzertrümmert – ist der vierte Akteur des Stücks", meint Jan Küveler in der Welt (11.4.2011). Es sei, "als habe der Autor Shakespeares Sommernachtstraum gelesen: 'O böse Wand, befalle dich der Schimmel: / Fluch diesem Stein, er lügt mir ins Gesicht.' Der Schimmelpfennig, der seine eigene böse Wand befällt, will ihr indes nicht fluchen, sondern setzt auf die steinerweichende Kraft poetischen Durchbruchs." Küveler verweist auf "den doppelten Boden des Stücks – ohne den Schimmelpfennig es kaum je macht", und findet "alles ganz stimmig", um abschließend dem Abend einen durchgängigen "Zwiespalt aus Heiter- und Ratlosigkeit" zueigen sein zu lassen.

Gerhard Stadelmaier greift in der Frankfurter Allgemeinen zu der von ihm meisterhaft gehandhabten Form des Kurzverrisses: "Wir gingen mit diesem Autor bisher durch dick und dünn (bitte, mehr durch dünn). Denn immer war in seinen Stücken was Märchenhaftes. Jetzt aber hat er einfach ein Loch in eine Wand gemacht, drei Bauarbeiter davor gesetzt und sie über die böse kapitalistische Welt (von Aids bis zur Finanzkrise und Billigarbeiter aus dem Osten) kakeln lassen: im Stil von Hochhuth." Ergo: "Das Märchen weicht. Der Leitartikel kommt." Dann werde der Leitartikel aber noch "zur Schmiere" und zuletzt "zum Quatsch. Unterirdisch. Das Theater aber nullt im Loch. Bodenlos."

Der Titel klinge "nach philosophischer Abhandlung", meint Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (11.4.2011). "Und tatsächlich zielt der Text, der sich zur Tarnung den Blaumann übergezogen hat, in diese Richtung – auch wenn das Philosophische hier natürlich ganz schimmelpfennigfuchserisch daherkommt, etwa als frühmorgendlicher Gedanke im Bauarbeiterbus oder als systemtheoretische Oben-Unten-Betrachtung eines Zimmermanns, der auf den reichen Bauherrn schimpft." Allerdings bediene sich Schimmelpfennig hier "weniger versiert als routiniert seiner eigenen Versatzstücke", und der Inszenierung misslinge es, "aus dem szenischen und sprachlichen Minimalismus ein Maximum herauszuholen". Das Ganze bröckele so dahin, "erzeugt hier mal Lacher, dort Langeweile, aber nie jenen höheren Sinn, den der Text permanent behauptet." Letztlich müsse man "bezüglich des Titelversprechens konstatieren: Entweder ist das Themaverfehlung oder Etikettenschwindel."

"Vielleicht geht’s in dem Stück ja um mehr als dröge Maloche, vielleicht steckt hinter der fatalen Agonie was Mysteriöses. Durchbruch! Ausbruch! Freiheit!", möchte Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (11.4.2011) gerne vermuten. Doch da "springt – aufgepasst! – Marek (Thomas Huber) aus dem Publikum, so ein Sommernachts-Puck vom Bau, reißt sich die Kleider vom Leib, veitstanzt schlammbeschmiert mit Schwabbelbauch und dionysisch schwingendem Gemächt über die Bühne und fabelt von Königen und Kolibris, von Feen, Asseln und Elstern. Da hat die Regie das maue Stück endgültig vermurkst. Das Ensemble werkelt im Schweiße trüben Angesichts. Es bleiben nur Pfusch am Bau und bewusstseinsraubende Langeweile. Geschwafel und Geschwiemel – fast zwei Stunden lang. Flasche leer. Feierabend."

Schimmelpfennigs Stück, so meint Cornelie Ueding auf Deutschlandfunk (10.4.2011), gebe nicht nur keine Antworten, "sondern – und darin liegt das Problem: stellt auch keine Fragen. Den bloßen Gestus, 'irgendwas', und sei's die allgemeine Ratlosigkeit, möglichst plastisch und ein bisschen sehr regredierend zum Ausdruck bringen zu wollen, sollte man jedenfalls nicht, wie es höchst ambitioniert im Programmheft geschieht, mit einem aufklärerischen Anspruch verwechseln." Möglicherweise aber habe Regisseur Christoph Mehler die Geschichte zu ernst, nämlich wörtlich genommen und, durchsetzt mit ungelenken Ausflügen in rein illustrative Spielsituationen, etwas sehr eindimensional 'vom Blatt' spielen lassen". Doch auch wenn Schimmelpfennig "dem landauf, landab proklamierten Ende der Spaßkultur und dem Beginn einer neuen Ernsthaftigkeit, einer naiven Repolitisierung den Spiegel vorhalten wollte", wäre das Werk "immer noch kein gelungenes Stück – man müsste es nur ganz anders inszenieren".

Kommentare  
Wenn, dann.., Ffm: schöner Schauspielerabend
Wer mal wieder Lust hat nicht neben porschefahrenden satten Frankfurter Schnarchpublikum zu sitzen und weichgespülten Kram anzuschauen, der ist hier genau richtig.
Ein schöner Schauspielerabend mit einem überraschenden Ende der einen mit Fragen zurück lässt. Gott sei Dank!
Wenn, dann..., Ffm: befremdend, bewegend, besonders
dem kommentar von stadelmann möchte ich zustimmen. und was die von frau sojitrawalla beschriebene fremdscham betrifft: ich habe sie nicht verspürt. thomas huber macht das so ungebrochen und tierisch menschlich dass sich jede schämt erübrigt und ich nur staunen konnte. ein sehr besonderer, selsam befremdender und bewegender abend.
Wenn, dann...,: Ffm: lauer Abend
hmm,ja, ich habe neben porschefahrenden satten frankfurter schnarchern gesessen...doch diesmal haben sie zurecht geschnarcht...ein lauer abend...leider etwas belanglos...und thomas huber spielt die rolle besser angezogen
Wenn, dann…, Ffm: ohne Leichtigkeit und Ironie
das problem des abends war doch vor allem eine überambitionierte regieblase: ohne jeglichen ansatz von leichtigkeit, spiel, ironie! sehr schad und fad.
Wenn, dann…, Ffm: Gretchenfrage
Die Gretchenfrage ist: wieso zeigt man so ein Stück wenn es offenbar so schlecht ist? Schimmelpfennig hat mehere schwache Stücke geschrieben, und alle werden trotzdem aufgeführt. Selbst die noch schwächere Stücke von seiner Frau, die unterirdisch (...) sind, werden gespielt. Es ist an der Zeit dass die Dramaturgen/Intendantenkumpeln ein bißchen kritischer mit ihm umgehen.
Wenn, dann…, Ffm: Stadelmaier hätte einen Preis verdient
@ Redaktion
Bei Stadelmaierchens Kurzabkanzelung von Schimmelpfennigs „Theaterloch“ habt ihr aber noch den „kannibalistisch-kolonialistischen Insekten-Verkehr“ und ein „baumelndes Pimmelreich“ unterschlagen, allein dafür hätte er wieder mal einen Preis verdient.

(Lieber Kaltbader, aus urheberrechtlichen Gründen konnte ich die Stadelmaier'sche Kritik nicht einfach zur Gänze abschreiben; was manchmal schade, aber nicht zu ändern ist. Danke fürs Nachtragen. wb)
Wenn, dann..., FfM: einer der wohl schönsten Theatersätze
„Pause. Bier. Rauchen. Vielleicht Arbeit“, einer der wohl schönsten Theatersätze, die ich je gelesen habe, gehört leider noch nicht. Aber vielleicht geht Schimmelpfennig ja mit dem Stück auf Brandenburgtournee, obwohl er dabei wohl einen großen Bogen um Cottbus machen sollte und unbedingt anderes Bier einpacken muss. Diesen schönen hochphilosophischen Satz kann man eigentlich erst so richtig verstehen, wenn man wie ich selbst schon einmal im realsozialistischen Mörtel gerührt und sinnlose Löcher in Wände gehauen hat. Es ist ja nicht das erste Stück in dem Bauarbeiter bei Schimmelpfennig auftreten. Jürgen Gosch hat ja mal in der Inszenierung von Schimmelpfennigs „Auf der Greifswalder Straße“ eine Karre Steine aus der Rangloge auf die frisch renovierte Bühne des Deutschen Theaters in Berlin schütten lassen, was sicher einigen Verantwortlichen kurz das Herz stocken ließ, mir aber irrsinnige Freude bereitete, da darin schon die Sinnlosigkeit allen aufklärerischen Strebens zum Ausdruck kommt. Da kippt ein Prolet dem Bildungsbürger in seinem frisch geputzten Tempel eine Karre Schutt auf die Bretter, die die Welt bedeuten und unter denen sich wohl jetzt auch noch ein ganzes kannibalistisch-kolonialistischen Insekten-Reich befindet. Da lob ich mir doch die philosophischen Runden in unserem Bauwagen damals in der Baulücke Cottbuser Straße bei einem oder mehreren Cottbuser Hell, je nachdem ob die Steinen und/oder der Zement noch vor oder erst nach dem Mittag kamen. Meist kamen sie ja gar nicht, also viel Zeit zum Philosophieren. Und wir waren alle große Bierphilosophen, vom Brigadier (so hieß der Polier) bis zum Handlanger, der leider noch vor der Wende einer Leberzirrhose zum Opfer gefallen ist. Philosophie kills und Adorno hatte Recht, Aufklärung ist totalitär und manche Philosophie erledigt sich sozusagen von selbst. Dabei ging es gar nicht so sehr um ein Wenn, dann... oder ein Wie und Warum, sondern eher um ein Wann und Wo wird ein neuer Kasten Bier geholt bzw. Wer holt den und kommt heute noch Arbeit oder nicht. Da kann man schon mal in eine echte existentielle Schaffenskrise geraten. Aber immerhin haben wir die große Anarchie versucht, zumindest in der kleinen Welt unseres Bauwagens und trotzdem noch hin und wieder eine gerade Ecke gemauert. Philosophieren auf der Baustelle ist doch heute im durchorganisierten Kapitalismus gar nicht mehr möglich, nicht mal in Cottbus. Darum braucht es solche Autoren wie Schimmelpfennig, die noch eine echte Utopie haben. Ob nun der Sozialismus an zu wenig Zement (was ich bezweifele, Betonköpfe gab es ja genug) oder daran gescheitert ist, das wir nur gesoffen haben, habe ich leider vergessen, keine Ahnung. Ich weiß nur: Kapitalismus und ich „Wir passen nicht zusammen“, Delirium for ever! Jetzt gehe ich mir erst mal ein Augustiner aufmachen und denke etwas über die „Cottbuser Muffe“ nach und vielleicht überschreibe ich danach auch einen Shakesbier.

An die Freunde (eines guten Tropfens)

Sehn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll still an uns vorübergehn.
Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!

Friedrich Schiller
Wenn, dann, Frankfurt: der Schnaps, die Ossis, die Würde
NACHTRAG:

Nun ist es sogar amtlich. Die Genossen der DDR waren Schnapsweltmeister. Spiegel-online titelte am Sonntag: „Jungs, macht die Kehle frei!", Morgenpost-online zog gestern nach. Der Ethnologe Thomas Kochan, ehemaliger Cottbuser, hat die Spezies des trinkenden Ossis für seine Doktorarbeit „Blauer Würger - Drinkgewohnheiten der DDR" untersucht, die nicht etwa von der Spirituosen-Lobby, sondern von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gesponsert wurde. „Hipp Hopp, rin in Kopp“, aber welch eine Enttäuschung, kein Saufen für den Widerstand, nicht einmal für den Weltfrieden, ruhig gestellt wurde der gemeine DDR-Bürger. Alkohol gab es immer und in reichlichen Mengen steht da. Sehr beliebt war die „Wodka-Bockwurst-Diät", eine todsichere Methode zum Abnehmen. Selbst 13-jährige Mädchen wurden von ihren Freunden mit gefälschter Vollmacht zum Schnapskaufen in den Konsum geschickt. Lieblingsgetränke der Kinder waren Eierlikör und Kiwi (Kirsch-Whisky). Auch bei uns zu Hause stand immer ein Rumtopf, angesetzt mit Grufu (Grubenfusel), einem Depotat-Schnaps für Werktätige in der Braunkohle. Was Kochan aber nicht herausgefunden hat, sogar bei der NVA, wo Alkohol eigentlich verboten war, gab es einen eindeutigen Beschaffungs-Code: Brauche dringend 14 50 für 0 7 zwecks 3 8. Was soviel bedeutete wie Goldbrand (kostete 14,50 Mark) im 07er Glasmantelgeschoss zwecks 3,8 pro Mille im Turm.
Die DDR-Opposition habe sich übrigens laut Kochan „neben Meinungs- und Reisefreiheit auch gegen Umweltverschmutzung und Alkoholabhängigkeit engagiert“. Na ja, es sah ja auch wirklich nicht schön aus, wenn die ganzen Alkoholleichen im Urlaub am Balaton immer gleich neben ihren Trabis herumlagen. Anschauungsmaterial haben die Artikler von der Morgenpost freundlicher Weise gleich mit beigefügt. Das Trinkverhalten der Ossis war aber trotzdem nicht alkoholfixiert sondern zentriert, also ganz klar von oben organisiert. Welch große nachträgliche Ernüchterung und spirituelle Erleuchtung zugleich. Der angehende Dr. spirituosus Thomas Kochan hat nun auch seine gesammelten Erfahrungen genutzt und einen Schnapsladen im Prenzlauer Berg eröffnet, gleich neben der Gethsemanekirche, einem Hort der DDR-Opposition, welch ein Frevel. Aber kein Blauer Würger oder gar Pfeffi für den guten Atem sind dort etwa im Angebot. Nein, im Kapitalismus betrinkt man sich mit Niveau und geistig hochwertigen „europäischen Destilaten“ wie dem Kräuterbalsam der Dominikanerinnen des Klosters Heilig Kreuz. Na dann Gott zum Wohl, meine Oma hätte sich mit so etwas wahrscheinlich die Füße einbalsamiert. Da hole ich mir doch lieber einen Eckes-Edelkirsch vom Aldi um die Ecke. Prost.
Nun ist der Ossi also wieder um ein weiters Stück Vergangenheit ärmer, betrogen durch den Kontrollwahn der SED-Diktatur, die selbst die sicher geglaubte Flucht des frustrierten DDR-Bürgers in den Suff organisierte hat. Herr Schimmelpfennig, empören Sie sich mit uns und schreiben Sie ein neues Stück. Geben Sie dem Ossi seine Würde zurück, aber bitte nicht mit Augustiner Hell.
Kommentar schreiben