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Also ist Hoffnung

von Hartmut Krug

Dresden, 8. April 2011. In einer Reihe stehen die Insulaner und erzählen sich ihre Geschichte ihrer einst unwirtlichen und einsamen Insel. Wie diese entdeckt, wieder vergessen, dann vom Matrosen Kobelitz, schiffbrüchig mit der Genesis, neu gefunden und mit Regeln einer Gesellschaft versorgt wurde. Wie zu dieser andere Menschen hinzu kamen und alle nach freien und gleichberechtigten Regeln lebten. Alle waren gleich, alles gehörte allen, keiner hatte mehr Macht als der andere, jeder half jedem und Entscheidungen wurden demokratisch gefällt. Ackerbau und Handel mit vorbeifahrenden Schiffen schufen die Grundlage für diese gelebte Utopie.

Anders als in Thomas Freyers früheren Stücken, die Menschen mit ihren ostdeutschen Umbruchserfahrungen bei der Identitäts- und Utopiesuche zeigen, werden in "Das halbe Meer" keine konkreten Lebenswirklichkeiten beschrieben, sondern das existentialistische Modell, die grundsätzliche Idee und deren Halt- und Lebbarkeit untersucht. Ein Thema, das wieder Konjunktur hat (so auch bei Wolfram Lotz und Nis-Momme Stockmann, deren eher hohle Wichtigtuerei Freyer aber glücklicherweise völlig fehlt).

Unbeschriebenes Blatt kriegt Lebensspuren

Leer ist die Bühne, wenn der chorische Rückblick erstmals erklingt, und  Cembalo-Spiel klingt wie ein Harmonisierungssignal aus fremder Zeit. In den immer wieder die Handlung unterbrechenden Erinnerungen werden eine längst gefährdete Bestätigung und Sicherheit gesucht. Denn die sind bedroht von ökonomischen Schwierigkeiten, von unterschiedlichen Haltungen und Erfahrungen verschiedener Generationen, und von Regeln, die erstarrt sind. Durch einen auf die Insel gespülten jungen Mann, schweigsam und unangepasst an die herrschenden Regeln, brechen die längst schwelenden Konflikte offen aus.

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"Das halbe Meer"                    © Matthias Horn

Regisseur Tilman Köhler zeigt dies, indem er immer wieder einzelne, zuerst die Jungen einer neuen Generation, herausbrechen lässt aus der harmonisch scheinenden Arm-in-Arm-Gruppe. Seine disziplinierte und körpersprachlich bestimmte Inszenierung setzt auf die rhythmisch strukturierte, auch mit dem Vers arbeitende, kraftvolle Sprache Freyers und verdeutlicht dabei Haltungen und Handlungen in klaren Arrangements. Karoly Risz hat eine gleichermaßen ästhetisch, metaphorisch und bühnenpraktisch überzeugende Lösung gefunden: Er lässt die Schauspieler auf die leere Bühne eine leuchtend weiße Papierbahn ziehen. Auf diesem unbeschriebenen Blatt hinterlassen die Menschen ihre Lebensspuren.

Ehrgeiz, Alk und brechtische Lieder

Es wird viel mit Farben gemalt, auf dem Blatt und auf den Körpern. Die Papierbahn kann für Schattenspiele und wechselnde Raumsituationen genutzt werden, bis sie am bösen Ende zerstört und weggeräumt wird, vielleicht Platz macht für etwas Neues. Denn der alte Kobelitz (allzu statisch und zurückhaltend gespielt von Albrecht Goette) wirkt handlungsunfähig, beharrt auf alten Regeln und vermag sich auf die Schwierigkeiten der neuen Situation nicht einzustellen. Während Frau Schlicht, die einst aus Ekel vor dem Geld auf der Insel blieb, nun mit Geld heftig nach Macht strebt. Antje Trautmann spielt den Ehrgeiz dieser Figur, deren intrigantes, böses Spiel sowohl von erotischem Begehren bestimmt ist wie dieses als Mittel einsetzt, aus einer zart-gefährlich lächelnden Ruhe heraus.

Wie ohnehin die Liebessehnsüchte in diesem gesellschaftlichen Experiment so wie im Leben eine große Rolle spielen. Die Alten trauern verstorbenen Partnern nach, die Jungen haben ungenaue Sehnsüchte. Hannelore Koch singt mit rauer Stimme als "Die alte Herbert" brechtische Lieder, ertränkt ihre Trauer im Alkohol, und spielt eine ehrliche, lebenswahre Sprüche beisteuernde Volkstheaterfigur, so überzeugend wie konstruiert.

Blutiger Kampf gegens Rattenheer

Wie ohnehin Freyers Figuren oft allzu ausrechenbar wirken, wenn sie durch die Schauspieler des homogenen Ensembles eigenes Leben jenseits ihrer funktionalen Zuschreibungen bekommen. So zeichnet Ines Marie Westernströer die junge Janne, die bisher nur mit Pete (Christian Clauß zeigt dessen Verklemmungen mit fast artistisch ausbrechender Expressivität) knuddelig spielte, nun aber vom fremden Mille (angemessen zurückhaltend: Sascha Göpel) angezogen wird, als eine so offen wie fröhlich ernsthaft Suchende.

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Natürlich geht die Geschichte schlimm aus. Der Fremde wird als Mittel im Machtkampf missbraucht, misshandelt, die Vatergeneration enttäuscht und durch Nichthandeln oder falsches Handeln gleichermaßen schuldig, und die Gesellschaft löst sich mit ihrem emanzipatorischem Anspruch in Gewalt auf. Am Schluss wird das ein wenig zu lang und zu dick vom Autor aufgetragen. Selbst der blutige Kampf gegen das die Insel übernehmende Rattenheer fehlt nicht. Übrig bleiben zwei Junge, Mille und Janne, die sich im leeren Raum, ohne Religion, Gemeinschaft, Regeln, Utopie und Hoffnung fragen: "Was tun wir jetzt? Nichts." Also ist Hoffnung.

Stück und Inszenierung (der wohl fünften eines Stückes von Freyer durch Köhler) überzeugen mit ihrer Ernsthaftigkeit, auch wenn beide zuweilen etwas brav wirken in ihrer, ja, soll man sagen, pädagogisch-poetischen Volkstheaterhaftigkeit. Und manchmal wünschte man sich, das Stück wäre nicht so gut, so eindeutig gebaut, sondern hätte etwas Provokations- oder wenigstens Erregungspotential. Denn man schaut zu, ohne wirklich gebannt, berührt oder zerrissen, oder einfach nur betroffen zu sein. Da sitzt man nun vor einer bekannten Geschichte, gut formuliert und sinnlich inszeniert, und empfindet nur: Ja, so ist es. Irgendwie.

 

Das halbe Meer (UA)
von Thomas Freyer
Regie: Tilman Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Luise Mundhenke.
Mit: Albrecht Goette, Antje Trautmann, Fabian Gerhardt, Ines Marie Westernstroer, Philipp Lux, Christian Clauß, Hannelore Koch, Sascha Göpel, Sonnhild Fiebach (Cembalo).

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr zum Regisseur Tilmann Köhler im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Freyers Figuren sprechen "im anachronistischen Wortbau miteinander, manchmal in Versen", beschreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (11.4.2011), wie "einer fernen Zeit entnommen". Gleichzeitig könnte diese Insel auch "überall sein, in einem afrikanischen Dorf oder der sächsischen Kleinstadt". Chorische Passagen erzählten "die Genesis der Gemeinschaft" – "Einen so elegant und melodisch inszenierten Chor hat man in Dresden selten gesehen". Der Generationenkonflikt in Freyers Stück könne ohne Mühe auf die Situation im Osten übertragen werden. Zwei Schauspielstudenten brächten dabei "die Jüngsten, die 'Generation Alternativlos', glaubhaft rüber". Und wie Christian Claus "die Machtlosigkeit in seinen rebellierenden Körper überträgt, ist großes, modernes Theater". Ansonsten ergebe sich "das konzentrierte Ensemble über weite Strecken der Sprachwucht", die ersten anderthalb Stunden seien einigermaßen schwer. Doch nach der Pause gebe es noch "einen der schönsten Theatermomente der Spielzeit": wenn auf dem weißen Blatt auf der Bühne eine "Farbschlacht" beginnt und das Paradies zum "farbenprächtigen Albtraum" wird.

Mit diesem Blatt, dem einzigen Requisit, assoziiert Michael Bartsch von den Dresdner Neuesten Nachrichten (11.4.2011) "Segel der hier gestrandeten Schiffe, Inselboden, Behausung, Schattenwand, Meeresoberfläche, Wand und Totentuch" sowie "Symbol einer idealen Enklave der Gerechtigkeit (...), einer Utopie". Freyer maße sich "als einer der wenigen starken Gegenwartsautoren nach wie vor die Auseinandersetzung mit Utopien an". In diesem Stück überprüfe er nun deren Tragfähigkeit, mit "fatalem Ergebnis": "Der Mensch wird durch die Versetzung an einen unberührten Ort du in einem vermeintlichen Urzustand kein anderer." Ein "Gleichnis vom Scheitern des Kollektivs, das sich zu bewähren hätte, wenn die Wohlstandsklammer auseinanderbricht". Angesichts der Freyer'schen "Hochsprache" reibt sich der Rezensent schon bei der Lektüre "verwundert die Augen, dass einer aus der Generation 2.0 noch so schreiben kann". Dazu biete Tilmann Köhler ein "schlüssiges Regiekonzept, ein einziges Crescendo hin zum schier unerträglichen Finale der wahnhaften Selbstzerstörung". Fazit: "eine große kollektive Leistung, Autor, Akteure, Regieteam im Dienst an einer noch größeren kollektiven Thematik".

Die sei "das nächste sonderliche Stück über sonderliche Menschen von Thomas Freyer", schreibt Till Briegleb (Süddeutsche Zeitung, 12.4.2011). Freyer habe "immer wieder Enklaven extremen Verhaltens zum Thema seiner Stücke gewählt "und jetzt eben ein Häuflein Systemverweigerer, die auf einer vergessenen Insel im stürmischen Ozean den Urkommunismus proben: Alles gehört allen, jeder ist jedem gleich." Er erzähle vom "Selbstmord des Ideals mit einer Behäbigkeit, die vielleicht zum Tempo der Landwirtschaft, nicht aber zur Nervosität des mediengeschulten Rezipienten passt. Aber genau das verleiht dem Stück seinen besonderen Ton, seine Eigenart des verknoteten, trotzigen Denkens (...) Nur hätte von dieser skurrilen Atmosphäre irgend etwas auch in der Inszenierung ankommen sollen." Stattdessen erzähle Regisseur Tilmann Köhler "vom Ende einiger Sturköppe mit den beliebig gewordenen Mitteln des modernen Frontaltheaters". In dieser Form werde aus dem Stück "nichts anderes als eine ordinäre Belehrung".


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