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Die Schlafwandlerin in der Zypressenallee

von Wolfgang Behrens

Berlin, 12. April 2011. Nein, es muss nichts Falsches daran sein, wie Robert Wilson einen deutlich wiedererkennbaren Stil zu pflegen. Eine künstlerische Signatur zu haben. Eine Marke zu sein. Der einmal erarbeitete Stil – denn erarbeitet ist er, er wird niemandem geschenkt – stellt die Mittel bereit, mit denen sich ein Künstler seinen Stoff aufschließt. Der immer wieder aufs Neue erregende Vorgang ist dann, wie der Stil den gegebenen Stoff verändert oder wie der gegebene Stoff den Stil verändert. Aus der Reibung schlagen die Funken.

Heikel wird es nur, wenn der Stil sich am Stoff nicht mehr entzünden will und der Stoff nicht mehr am Stil. Wenn letzterer so sehr die Überhand gewinnt, dass er nicht mehr reagiert und auch nichts reagieren lässt. Dann droht das Lebendige, das einem jeden Stil innewohnen sollte, zur kalten Manier zu erstarren. Der Grat aber zwischen Stil und Manier ist ein verdammt schmaler – wer schon einige Robert Wilson-Abende erlebt hat, weiß das: Schon häufiger ist der Meister bedenklich in Richtung einer so bonbonfarben glitzernden wie nichtssagenden Design-Routine getaumelt.

Wider das Klischee des wilden Tiers

Und natürlich – alles Andere wäre eine Sensation gewesen – sind sie bei der Neuinszenierung der "Lulu" von Frank Wedekind am Berliner Ensemble alle wieder da, Wilsons gesammelte Manierismen: die wie ausgeschnitten im Gegenlicht stehenden Silhouettenkörper, die gleichsam in Einzelbilder zerlegten Gesten, die clownsweißen, aus dem Dunkel herausleuchtenden Gesichter, die leeren Bilderrahmen, die geometrisch sich formierenden Leuchtstoffröhren und die mickey-mousenden Geräusche: Tock-tock-tock (Schritte), Poch-poch (oha! es klopft!) und Pling (ein Zeigefinger sticht in die Luft). Man kann sich daran ärgern, da es oft so unendlich voraussehbar ist, oder man kann sich daran freuen, denn hübsch anzuschauen ist das ja. Und dann kann man nach knapp drei Stunden nach Hause gehen. Doch halt: Was ist nun mit dem Stoff? Was passiert mit "Lulu"?

Dass in Wilsons steriler, kaum eine Berührung zulassender Welt wenig Platz für schwüle Erotik und noch weniger für Sex ist, steht im Vorhinein fest. Insofern ist Wilsons grandios kalkulierte Fehlbesetzung der Lulu ein wirklicher Coup: Angela Winkler, die dem gängigen Altersschema der Lulu nun doch schon um einige Jährchen entrückt ist, will in so gar kein Klischee des "wilden, schönen Tiers" passen.

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Sie zirpt, girrt und kichert sich auf eine seltsam kindliche Weise durch das Geschehen – was um sie ist, scheint sie nicht wirklich zu erreichen. Entsprechend spielt sie die Rolle weniger aus sich heraus als in sich hinein. Als wäre draußen alles leer.

Lulus letzter Traum

Und vielleicht ist es das wirklich. Denn Wilson stellt Lulus Tod in einem stummen Vorspiel an den Anfang, womit sich alles Folgende als ein in einzelne Erinnerungssplitter zerstiebendes Flashback lesen ließe: Lulus letzter Traum. Ihre zahlreichen Männer sind in diesem Traum Popanze, die irgendwie an sie heranzukommen suchen, um letztlich an ihrer schützenden Hülle der Unberührbarkeit abzuprallen. Wilson inszeniert das im Teil vor der Pause mit einer zeitlupenhaft ins Elegische verzerrten Komödienmechanik: Das Hin und Her, das Treppauf, Treppab der sich in ruckartiger Künstlichkeit spreizenden Männer interessiert ihn mehr als jede Psychologie.

Die Typenparade reicht da vom herrlich verschmitzt grimassierenden und schneidend präsenten Jürgen Holtz (als Lulus "Vater" Schigolch) über den so raubeinig wie lässig die Wilson-Posen ironisierenden Alexander Lang (als Dr. Schöning) bis zum albern, aber gekonnt herumgockelnden Georgios Tsivanoglou (als Artist Rodrigo Quast).

Surreale Schönheit

Nach der Pause aber macht Wilson ernst – mit einem Bild, dessen surreale, an René Magritte angelehnte Schönheit einen in all der sonstigen, sattsam bekannten Bühnenmöblierung völlig unvermittelt trifft (und Szenenapplaus einheimst): eine in die Bühnentiefe führende, in bläulichem Dämmer schimmernde Zypressenallee, zwischen deren Wipfeln Kronleuchter hängen.

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Angela Winkler als Lulu © Lesley Leslie-Spinks

Hier lässt Wilson den sonst durch seine so verwirrenden äußeren Vorgänge überbordenden Paris-Akt im Schnelldurchlauf und ganz nach innen gewendet spielen. Angela Winkler tippelt somnambul auf der Allee entlang und scheint sich nun endgültig in sich zu verlieren – ein großer Moment.

Wenn im Schlussbild dann zwischen Lulu und ihrem Mörder Jack the Ripper (Sabin Tambrea als eine Art Fledermausmann) im leuchtenden Schwarz der Londoner Dachkammer plötzlich Augenblicke von Zärtlichkeit und wirklicher Zugewandtheit entstehen, dann rundet sich Wilsons Inszenierung tatsächlich zu so etwas wie einer Deutung: Lulu, die wie eine Monade durchs Leben ging, öffnet sich erst im Tode.

Und im Hintergrund wabern Lou Reed-Klänge

Wie so oft, hat Wilson übrigens auch für "Lulu" die Zusammenarbeit mit einem prominenten Musiker gesucht. Der heißt diesmal Lou Reed, doch das Ergebnis ist über weite Strecken enttäuschend. Mit Ausnahme des ranschmeißerischen Mitwippliedes "Brandenburg Gate" sind alle Songs alt und zudem dramaturgisch recht unmotiviert über das Stück verteilt. Immerhin hört und sieht man den älteren Darstellern gerne dabei zu, wie sie ihre stimmlichen Defizite mit Persönlichkeit und Charme füllen (während bei den jüngeren eher ein glatter und langweilender Musical-Ton durchschlägt). In der Hauptsache freilich schafft die Musik den atmosphärisch wabernden oder kreischenden Hintergrund für die traumartigen Gesichte Wilsons, was immerhin funktioniert – wobei hier der Verdacht naheliegt, dass der Anteil der stark aufspielenden Combo um Stefan Rager größer ist als der Lou Reeds. Als publikumsträchtige Maßnahme mag der Name Lou Reed jedoch allemal tauglich sein.

Und? Hat es nun bei der Reibung zwischen dem Wilson-Stil und Wedekinds "Lulu" gefunkt? Ja, doch, einzelne Funken gab es. Auf jeden Fall aber hat es überhaupt eine Reibung gegeben. Und das ist auch schon was. 


Lulu
von Frank Wedekind
Regie, Bühne, Lichtkonzept: Robert Wilson, Musik und Songs: Lou Reed, Kostüme: Jacques Reynaud, Mitarbeit Regie: Ann-Christin Rommen, Textfassung, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Mitarbeit Bühne: Serge von Arx, Mitarbeit Kostüme: Yashi Tabassomi, Musikalische Leitung: Stefan Rager.
Mit: Angela Winkler, Anke Engelsmann, Jürgen Holtz, Georgios Tsivanoglou, Ulrich Brandhoff, Alexander Lang, Markus Gertken, Marko Schmidt, Alexander Ebeert, Boris Jacoby, Jörg Thieme, Sabin Tambrea, Ruth Glöss. Musiker: Stefan Rager, Ulrich Maiß, Dominic Bouffard, Friedrich Paravicini, Andreas Walter, Joe Bauer.

www.berliner-ensemble.de

 

Mehr zu Robert Wilson: wir besprachen auch die Shakespeare Sonette, die er im April 2009 und die Dreigroschenoper, die er im September 2007 jeweils am Berliner Ensemble inszeniert hat.

 

Kritikenrundschau

Eine "weichgespülte, nach zähem Ende angemessen bejubelte Wedekind-Verharmlosung" hat Manuel Brug gesehen, wie er in der Welt (14.4.2011) schreibt. "Nichts lebt hier mehr, alles ist garantiert keimfreie Großkünstlichkeit. Aus dem Bahnhof Friedrichstraße ins Berliner Ensemble einfallende Touristen könnten dieses possierlich quietschende und knarzende Design-Singspiel mit seinen augenaufreißenden Schauspielpuppen auch für die Bühnendependance von Madame Tussaud's halten: Doktor Bobs Wachfigurenkabinett mit lauter Theatertoten ohne Begräbnis." Nicht Angela Winkler, sondern Sabin Tambreas "tödliche Cherub" reiße "alle mit seinem rotzigen Song 'The View' aus dem formalinblassen Kunstwollen. Da hat einer den echten, dreckigen Rock im Blut und in der Stimme - und für ein paar Momente zieht hier raues Leben ein ins verharzte Ästhetikmuseum."

"Irritierend, befremdlich, fragmentiert fängt dieser Abend an – und findet nach der Pause dann zu berückender Konzentration", schreibt hingegen Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (14.4.2011). "Die ganze Dramaturgie entspricht einem Traum mit mehreren Sequenzen, ohne durchgehende narrative Struktur und ohne Psychologie oder Logik." Winklers alters- und geschlechtsloser Lulu kann sie durchaus etwas abgewinnen: "Aus dem Leben gefallen, wird sie selbst zum vampirartigen Faszinosum der 'Monstretragödie'". Doch am besten sei das lackschwarze Schlussbild: "Hinten warten Männer, einer nach dem andern gelangt an Lulu, zuletzt Jack: Sabin Tambrea, Kapuzenjacke und Glitterjeans, fordert als Strichjunge auf zum letzten Tanz. Im Tod aber flackert das Leben auf: Die Inszenierung wächst, als Serie von Rückblicken, mit Crescendo diesem Moment entgegen."

Lulu sei hier "altes Kind und seelenlose Jungfrau, eher ein Geschöpf E.T.A. Hoffmanns als Frank Wedekinds", beobachtet Esther Slevogt in der tageszeitung (14.4.2011). Auch diesmal gebe es die üblichen Wilson-Posen und -Stimmungen, deren man gelegentlich etwas überdrüssig werde. "Aus der Unlust an dieser geballten Oberflächenvirtuosität wird man aber immer wieder herausgerissen." Durch einen Schauspieler wie Georgios Tsivanoglou beispielsweise, der als Rodrigo Quast eine atemberaubend selbstironische Performance des alten Velvet-Underground-Titels "I'm just a Gift to the Women of this World" abliefere. Oder durch Jürgen Holtz als Lulu-Vater Schigolch, "dem die Verwesung bereits ins Gesicht geschrieben ist, als er für ein letztes Schwelgen mit Lulu den quadratischen Quast formvollendet meuchelt."

"Das Wilson-Theater will ja ein zeigendes, kein deutendes Theater sein", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (14.4., in Kurzform auch in der Frankfurter Rundschau). "Es schüttet über die unterschiedlichsten Stoffe den immer selben Zeichenstaub aus. Manchmal wirkt es, als werde das Stück eingepudert, das war zuletzt mit 'Shakespeares Sonette' am BE so, das ist auch jetzt wieder so." Für seinen Totentanz und Todesschattenspiel habe Wilson eine Altmeisterbesetzung gefunden: "Lulu und die Ihren sind hier nicht mit Erotik und Gier aufgeladen, sondern mit Erinnerungen an die Erotik des Vergangenen, auch des Vergehens vielleicht. Das ist die überzeugendste Pointe des Abends, zumal diese Schauspieler der Wilsonschen Zeichenproduktionsmaschinerie Sand ins Getriebe streuen." So schnurre die Tragödie dahin, "immer gefahr-, weil reibungslos, dafür aber durchweg familienkompatibel. Aus 'Lulu', dem garstigen, sozialkritisch interessierten Niedergangsdrama, wird 'Lulu', ein an allen sozialkritischen Garstigkeiten vorbeiplätscherndes Kunst-Etwas. 'Lulu', eine Lala-Tragödie."

"Wie ein blitzblank poliertes, museales Artefakt" fühle sich diese "Lulu" an, findet Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (14.4.2011). Von der idealen Form, die Wilson in jeder seiner Produktionen anstrebe, sei er hier allerdings weit entfernt. "Nichts bewegt sich in der 'Lulu', die Bilder gefrieren. Zaubertricks verdampfen. Und wenn Angela Winkler dann doch das unschuldige Mädchen spielt, mit glockenheller Stimme und kokettem Augenaufschlag, ist es eben nur eine Groteske."

"Lulu" sei "ein besonders schönes Schmuckstück im Wilson-Stil", meint Peter Lauterbach in der Süddeutschen Zeitung (14.4.2011). "Wilson gelingen immer noch einige betörende Bilder, etwa wenn zu Beginn des zweiten Teils Angela Winkler wie eine Traumwandlerin in Slowmotion durch eine Zypressenallee geht, über der, warum auch nicht, Kronleuchter funkeln." Als problematisch hingegen empfindet Lauterbach die Musik, die sich über weite Strecken "in einer Mischung aus ziellosen Progrock-Gedudel und mit E-Gitarre aufgemotzter Zirkusmucke" verliere. Nicht nur Wilsons einst radikales Theater, auch Reeds Musik werde so "einer Restästhetik-Verwertung zugeführt, die die Grenzen zur unfreiwilligen Komik mehr als nur streift."

"Unter ihrer blankpolierten Oberfläche herrsche recht eigentlich höchstens apart gestaltete Leere", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.4.2011) über Wilsons Ästhetik im Allgemeinen, um dann im raunenden Imperfekt auf seine "Lulu" zu kommen: "Das tadellos einstudierte Ensemble spielt keine Figuren, sondern zappelt in einer so hübschen wie beliebigen Choreographie nonverbaler Chiffren. Diese Marionetten waren weiß geschminkt, trugen geschmackvolle Kostüme, hatten wenig Text und grinsten – deswegen oder trotzdem – häufig sehr breit." Immerhin la Winkler hat ihr gefallen: "Wie in einem leichten, wundersamen Traum schwebte Angela Winkler durch diese Inszenierung, der sie ein urwüchsiges, herb-süßes Zentrum gab. Mit über sechzig Jahren ist ihre Lulu für diese Rolle zwar beträchtlich älter als zu erwarten, doch im Zeichensystem des Robert Wilson eine schillernde, bestens eingefügte Größe." Um abschließend noch einmal zu bescheiden: "In diesem Designtheaterkosmos aber sind alle gleich, auch wenn niemand weiß, warum und wozu. Gegen derlei stets sauber und niedlich herausgeputzte l'art pour l'art haben freilich weder Frank Wedekind noch seine 'Lulu' eine Chance, wirklich wahrgenommen zu werden."

Kommentare  
Lulu, Berlin: Lou Reeds Songs
Man soll ja zu seinen Fehlern stehen, und vielleicht steht man am besten zu ihnen, wenn man sie benennt. Also: Es sind zwar tatsächlich nicht wenige der alten Knotten ("Sunday morning", "Rooftop garden", "A gift" etc.) von Lou Reed in die "Lulu"-Inszenierung eingegangen, und wirklich ist "Brandenburg Gate" ein neuer, sogar der neuste Song der Produktion, es sind aber noch etwa eine Handvoll anderer Lieder eigens von Lou Reed für den Abend komponiert worden. Das habe ich oben nicht missverständlich, sondern schlicht falsch dargestellt.
Lulu, Berlin: Perfect Day?
Und "Perfect day" - übersetzt: "Der perfekte Tag" - war nicht dabei?

(Nein, liebes Pony, war nicht dabei. wb)
Lulu, Berlin: Geisterspiel mit grandioser Dame
Lulu als Geisterspiel, voller Melancholie und albtraumhafter Verlorenheit. Eine grandiose von Angela Winkler gespielte Lulu als geträumte Träumerin. Ein Abend aber auch voll von Manierismus, mit viel Leerlauf und einer Menge schöner, aber leerer Hüllen. Zu selten erhebt sich der stringente Interpretationsansatz über das perfekte Wilsonsche Kunsthandwerk.

http://stage-and-screen.blogspot.com/
Lulu, Berliner Ensemble: Brot oder Brezeln?
selten so langweilig, und war erst nach der Pause drin, wilson ist alt aber auch die schauspieler mangelhaft in bewegung und sprache unwürdig, kunst geht nach brot oder brezeln???
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