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"... man muss auch ab und zu den Pförtner grüßen!"

von Anne Peter

Berlin, 13. April 2011. Berlin ist eine Stadt voller Verrückter. Das sieht jeder, der einmal wachen Auges durch diese Stadt gelaufen ist. Im Grunde reichte es, sich selbst genau zu beobachten. Irgendeine, zwei, drei Neurosen werden sich da sicher finden.

Constanza Macras, diese genau hinschauende Sammlerin von Alltagsskurrilitäten, jedenfalls hat zahlreiche von ihnen aufgespürt. In ihrer neuesten Arbeit "Berlin Elsewhere" für die Berliner Schaubühne hat sie sie auf vergleichsweise puristischer, von drei großen Schaumstoffhochhäusern dominierter Bühne zu einer Collage von Verrücktheits-Szenen ineinander gepuzzelt.

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© Thomas Aurin

Hochhausstürze mit Knieschonern

Macras interessiert sich vor allem für die Grenzverwischung, also für die Marotten der vermeintlichen Normalos und überstressten Großstadtmenschen: Einer outet sich als "Health Freak", der ebenso streng die eigene Schlafstundenanzahl wie den morgendlichen Stuhlgang kontrolliert; eine andere erklärt, wie man als Bulimikerin korrekt kotzen sollte. Luftig Suizidales probieren die Tänzer, wenn sie von den Hochhausblöcken auf ein riesiges Luftkissen springen. Später wird dieses zum Schauplatz einer verspielt-zupackenden Massenorgie, die aufs schönste erotische Asymmetrien parodiert ("Can you stop fucking me like a rabbit?").

Insgesamt ist das eine typisch Macras’sche Mischung aus jenen wilden Choreographien voller Knieschützer-Stürzen, ruppig geschleuderten Gliedern, philosophischen Texten (vornehmlich Foucault), Assoziations-Brainstorming und autobiographisch geschöpften Anekdoten, inklusive zitierfähiger Bonmots: "Man kann nicht immer nur Yoga machen, man muss auch ab und zu den Pförtner grüßen."

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Die Macras-Choreographien, die früher noch stärker von synchronen Gruppen-Choreographien in überdrehtem MTV-Style geprägt waren, werden zunehmend komplexer und ausdifferenzierter. Sie treffen hier nicht nur energetisch den Wahnsinns-Nerv, wenn das gesamte Dorkypark-Ensemble plötzlich kollektiv über die Bühne wirbelt, sondern wandeln die gesetzten Themen auch wiedererkennbar in Bewegungsmaterial um.

Im Anderswo von Wahnsinn und Ausgrenzung

Mit der Realität von Großstädten hat sich Constanza Macras schon des Öfteren befasst, seien es die grandiosen Kiez-Projekte "Scratch Neukölln" und "Hell on Earth", "Big in Bombay", "Paraíso sem Consolação" über die brasilianische Riesenstadt São Paulo oder Megalopolis, die Mega-City schlechthin. Für "Berlin Elsewhere" erklärt sie hingegen gleich zu Anfang in bester Magritte-Manier mit einem groß über die Szene projizierten Schriftzug: "Dies ist kein Stück über Berlin."

Elsewhere – anderswo, das soll es auf den Punkt bringen. Das Anderswo als eben jener Ort, an dem man sich fremd fühlt, wie aus der Bahn geworfen, an dem man Außenseiter ist. Die Chiffre Berlin funktioniert da eher metaphorisch – als das Bild einer durch die Mauer ein- bzw. ausgeschlossenen Stadt. Und im Grunde ist diese Analogie auch einigermaßen weit hergeholt. Es geht hier nicht um die geteilte, dann wiedervereinte Stadt. Nein, dies ist kein Stück über Berlin. Neben den Spielarten des Wahnsinns wird das Ausgegrenztsein als zweites Motiv etabliert.

Ronni Maciel erzählt, wie er in einer Favela bei Rio de Janeiro aufwuchs und als Kind immer im Badewasser seines Vaters baden musste – das sollte der vermuteten Homosexualität entgegenwirken und seine Männlichkeit auffrischen. Später wurde ihm, als einzigem nicht-weißen Tänzer in der Ballettkompanie von Rio, verboten, an den Strand zu gehen, damit seine Haut nicht dunkler wurde. Gegen Ende scheint dieser biographische Diskriminierungssplitter noch einmal auf, wenn Maciel in weißem Ballettbody eine klassische Schrittfolge vortanzt und dabei immer wieder brutal hinschlägt – quasi vom eigenen Körper aus der Reihe getanzt wird.

Neurosen unterhaltsam ins Gesicht gerieben

Die Allround-Performer des Macras-Ensembles können nicht nur tanzen, sondern auch singen und bühnenwirksam sprechen – oft sogar beeindruckend gleichzeitig. Formidable Multitasker sind sie alle und werden dafür am Ende zurecht bejubelt, inklusive der beiden Musikerinnen Kristina Lösche-Löwensen und Almut Lustig, die dem Abend an Schlagzeug, Geige, E-Gitarre, Computer und anderen Instrumenten seinen Sound verpassen, zwischen Jazz und Nirvana.

In den 110 Minuten reihen sie lauter gelungene, manchmal hinreißende Einzelteile aneinander. Da verzeiht man leicht, dass diese sich nicht immer so recht verbinden mögen und sich der Zusammenhang von Wahnsinn und Ausgrenzung szenisch kaum erschließt. Auch darüber, dass Macras den assoziativen Rahmen insgesamt denkbar weit aufspannt und dabei haarscharf an der Grenze zur Beliebigkeit entlangschrammt, sieht man gern hinweg. Schließlich hat uns lange keiner mehr so unverblümt und unterhaltsam zugleich unser aller Neurosen unter die Nase gerieben.

 

Berlin Elsewhere (UA)
von Constanza Macras
Regie und Choreographie: Constanza Macras, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Bühnenbild (Idee): Steffi Bruhn, Bühnenbild (Realisierung): Juliette Collas, Kostüme: Gilvan Coelho de Oliveira, Ausstattung: Steffi Bruhn, Musik: Kristina Lösche-Löwensen, Almut Lustig, Fotos: Manuel Osterholt, Constanza Macras, Licht: Sergio de Carvalho Pessanha, Ton: Stephan Wöhrmann.
Mit: Hilde Elbers, Fernanda Farah, Anouk Froidevaux, Hyoung-Min Kim, Denis Kuhnert, Johanna Lemke, Ronni Maciel, Ana Mondini, Elik Niv, Miki Shoji; Musiker: Kristina Lösche-Löwensen, Almut Lustig.

www.schaubuehne.de

 


Kritikenrundschau

"'Berlin Elsewhere' lebt vom Überkandidelten und vom Slapstick, vom schnellen Tempo und harten Einsatz der Körper, und von den Geschichten und Persönlichkeiten der Tänzer", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (15.4.2011). "Dieses Feuerwerk an Witz und Verzweiflung entfaltet im Nachhinein weiter seine Wirkung." Was erst beliebig scheint, setzt sich doch noch zu einer Zustandsbeschreibung der Gegenwart zusammen. Das liege vor allem an der gemeinsamen Grundierung all der vielen Szenen von "Fetischismus, Einsamkeit und den obsessiven Versuchen, die absolute Kontrolle über alle Funktionen des Körpers zu erlangen". All das habe es auch schon in früheren Stücken von Macras eine Rolle gespielt. "Manche waren überraschender und punktgenauer im Bezug auf den Diskurs der Gegenwart, andere verloren sich noch mehr in Splittern. Bei 'Berlin Elsewhere' fühlt man sich wieder gut unterhalten mit den Bildern der Verzweiflung, nicht zuletzt dank der gut durchkomponierten Dramaturgie zwischen Einzelaktionen und Ensembleszenen."

"An Tollheit grenzt die Tanzwut nicht, man sieht keine heilige Raserei der Körper. Keine Borderline-Performance. Sondern die Kollisionen und Crashtests, wie sie mittlerweile zum Repertoire des zeitgenössischen Tanzes gehören", so Sandra Luzina im Tagesspiegel (15.4.2011). Am großen Thema Wahnsinn mogle sich Abend vorbei, "dafür gelingt es Macras, den ganz alltäglichen Irrsinn aufzuspießen. All die Großstadtneurotiker, Fresssüchtigen, Paar-Paranoiker und notorischen Quasselstrippen demonstrieren in ihren überdrehten Monologen, zu welchen Deformationen der westliche Lifestyle führt."

Die eingestreuten Foucault-Zitate behaupten eine harte Gesellschaftskritik, "die so auf der Bühne nicht stattfindet - nicht stattfinden soll", findet Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (15.4.2011.). Denn Macras erzähle diesmal vom eigenen Stand der Dinge, nicht von Ausgrenzung und Wahnsinn, sondern "verspielt und poetisch erzählt sie eher vom Gegenteil. Von leicht verrückten Figuren, die jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und es sich gemütlich in ihrer Kritik eingerichtet haben." Viel Tanz gebe es zu sehen, "anders, dichter, besser" choreographiert, als man es von Constanza Macras sonst kennt, "vor allem in der großartigen Eröffnungsszene, in der die Figuren traumverloren in ihre eigenen Tänze versinken." Dennoch insgesamt gemischt Gefühle, denn der Abend führe am Ende leider nur ins Nirgendwo der Beliebigkeit.

"Verarmung, Verrohung und Vereinzelung" liefere den Stoff für diesen Abend, schreibt Dorion Weickmann (Süddeutsche Zeitung, 19.4.2011). Macras betreibe "keine Kreuzberger Nabelschau" betreibt, sie bilde "die urbane Unbehaustheit der Gegenwart" ab. "Statt darüber zu lamentieren, zeigt Macras die Reservate, in denen Entwurzelte aller Schichten sich dauerhaft eingerichtet haben: Sex, Gewalt und eben Konsum." Entstanden sei ein "grellkomischen Leporello der Lüste, in dessen Falzkanten die Sehnsucht nach Zugehörigkeit siedelt". Weil die Regisseurin ihre Materialien allerdings einmal mehr "eher grob" behaue als "feinsinnig" ausfeile, versinke manches Bild "in oberflächlichem Larifari und lebloser Hampelei". Die Inszenierung balanciere auf "der Grenze zwischen Ein- und Ausschließung, Mehrheit und Minderheit, Gesund und Krank, Reich und Arm, um sie am Ende auszulöschen: Sex, Gewalt und Konsum sind der Klebstoff, der die Gesellschaft insgesamt zusammenhält".

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