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Alles schwankt

von Dirk Pilz

Berlin, 14. April 2011. Oh ja, albern geht's zu. Aber nicht nur. Dazu später.

Zunächst wollen wir uns einem Gürtel widmen. Der Gürtel gehört zu einer strammen Nazi-Uniform. In der Uniform steckt Ronald Kukulies. Er spielt den Gruppenführer Erhardt, Gestapo-Mann, Konzentrationslager-Erhardt gerufen bei den Feinden, drüben in London. Das freut Erhardt, eigentlich. Denn Erhardt ist nicht Erhardt, nicht der echte jedenfalls. Erhardt ist Josef Tura, Schauspieler in Warschau, eitler Gatte der noch eitleren Maria Tura, die, mit ihrem Mann, in Warschau das Stück "Gestapo" probt, im August 1939, bis die Nazis einmarschieren in Polen, weshalb sie statt "Gestapo" den "Hamlet" spielen, mit Tura als Hamlet.

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Er spielt das gern, eigentlich. Denn mitten in "Sein oder Nichtsein", dem größten aller großen Hamlet-Monologe, schleicht sich plötzlich ein Zuschauermann hinaus. Das ist Sobinsky, polnischer Fliegeroffizier und Verehrer der Maria Tura, was ihn, Josef Tura, in schlimmste Eifersuchtsattacken treibt. Das aber ist nicht so wichtig, eigentlich, denn auch der "Hamlet" soll nicht mehr gespielt werden dürfen, weil der Nazi-Spion Silewski die ganze Theatertruppe auffliegen lassen will und sie, die Schauspieler, um ihrer Rettung willen, im echten Leben falsche Nazis spielen. Deshalb Tura als Erhardt als Naziuniformträger.

Die Kunst der Übertreibung

Jetzt zum Gürtel. Erhardt, also Tura, empfängt Silewski. Silewski hat Informationen gesammelt über die Tura-Truppe. Er weiß auch von Sobinsky, Maria Tura und all dem, was diese beiden verbindet womöglich. Tura hört's mit Grausen und klammert sich an seinen Erhardt-Gürtel. Er reißt ihn nach oben, zerrt und zieht, als sei der Gürtel die Heim- und Wahnstatt aller Eifersucht auf Erden. Sein Gesicht gerät aus den Fugen, die Augen glühen, die Hände toben. Letzter Halt: der Gürtel. Silewski schaut, die Augenbrauen leicht gehoben. Dieser Mann weiß Bescheid.

Und wir wissen: Das ist ein Ronald Kukulies in Höchstform. Ein Komödienseiltänzer. Ein Emotionsüberschäumer. Ein Übertreibungskünstler.

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© Thomas Aurin

Jede Übertreibung wird zur Kunst, wenn sie das Gesagte und Gezeigte nicht einfach dick und doppelt unterstreicht, sondern die Worte und Gesten auf krumme, abschüssige, unberechenbare Figurenlinien setzt. Die Doppeltunterstreicher im Theater sind speckseitige Schenkelklopfer, die Krummlinienbeschreiber sind Clowns, heimlich traurig wie jeder wirkliche Clown.

So einer ist Kukulies an diesem Abend. Aber nicht nur, und nicht nur er. Sabine Waibel als Maria Tura, Hans Löw als Sobinsky, Holger Stockhaus als (echter) Erhardt – sie alle sind aus diesem krummen Komödienholz geschnitzt.

Die Kunst der Überspielens

Milan Peschel, der Schauspieler und bislang vor allem begnadete Kindertheaterregisseur, hat Nick Whitbys Stück nach Ernst Lubitschs Film "Sein oder Nichtsein" inszeniert. Der Film ist 1942 entstanden, und Peschel tut nicht so, als sei zwischen 1942 und 2011 nichts gewesen, anders als Rafael Sanchez in seinem missglückten Inszenierungsversuch vor anderthalb Jahren am Deutschen Theater. Damals sah man mit Gags und Gespreiztheiten ausgestopfte Figuren, diesmal sieht man welt- und geschichtsbewusstes Theatertheater. Peschel inszeniert die historische Distanz mit. Den Abgleich mit dem Film kann man sich also sparen: Man kommt mit Schulmeisterei nie weit, an diesem Abend schon gar nicht.

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Denn zu ihm gehört auch, dass er Ende März im koproduzierenden Narodowy Stary Teatr in Krakau schon einmal Premiere hatte, mit polnischen Schauspielern. Die Berliner Premiere ist eine Übermalung, ist Übersetzung mit Umbesetzung. Übermalen ist das generelle Prinzip dieses Dreieinhalbstundenabends, und übermalen heißt, auch schrille Farben, auch grelle Töne ins Bild zu setzen, ohne die Vorlage auszulöschen, ohne sie ersetzen zu wollen. Peschels Figuren sind keine Kopisten, sie sind Weiterdenker, Fort- und Überspieler. Eine solche Erhardt-Tura-Gürtel-Szene gibt es bei Lubitsch nicht, zum Beispiel, kann es nicht geben, weil ihr der Rahmen fehlt.

Die Kunst des Schwankens

Der Rahmen, das sind bei Peschel die Ernsthaftigkeitseinsprengsel. Einmal steht Kukulies als Hamlet links am Bühnenrand und spricht den Sein- oder-Nichtsein-Monolog, in der Übersetzung von Heiner Müller. Sehr konzentriert, ohne jede Klamaukzwischentöne. Einmal hockt der einstige, reife Volksbühnenspieler Horst Westphal auf einem Stühlchen und spricht: "Ich will keine blöde Komödie über Nazis. Das habe ich alles schon erlebt." Es spricht hier die Lebens- und Schauspielererfahrung eines 82-Jährigen.

Diese Inseln aus Ernst, diese Würde gehört auch zu diesem Abend. Vielleicht ist dies das Erstaunlichste des Abends: Er hat nicht nur Sinn für das Horizontale, für Anspielungen (an Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" etwa) und Albernheiten, er kennt auch die Vertikale, die Erfahrungstiefe, das Transzendente. Wilhelm Eilers als Silewski, Johann Jürgens, Sabine Waibel haben genauso diese leisen, wackligen Momente.

Wackeln ist ohnehin der Grundmodus: Alles schwankt. Die Bühnenwände fallen um, das Hitler-Bild stürzt ab. Holger Stockhaus lässt seinen Erhardt tanzen, Hans Löw seinen Sobinsky zittern. Und am Ende hockt die Tura-Truppe ratlos beisammen: "Was tun?" Bei Lubitsch entkommen sie den Nazis und spielen in London "Hamlet". Bei Peschel bleibt alles in der Schwebe, offen, unerlöst.

Das ist nicht albern, das ist die Erfindung der krummen, gegenwartssatten, schwankenden Komödie.

Sein oder Nichtsein
von Nick Whitby nach Ernst Lubitsch
Regie: Milan Peschel, Bühne: Magdalena Musial, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Ronald Kukulies, Sabine Waibel, Hans Löw, Anka Graczyk, Johann Jürgens, Horst Westphal, Wilhelm Eilers, Holger Stockhaus, Martin Otting, Frank Israel, Daniel Regenberg.

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Kritikenrundschau

"Auf der obersten Ebene ist dieser Abend ein opulentes Schauspielerfressen", schreibt Ulrich Seidler (Berliner Zeitung, 16.4.2011). Eine ganze Batterie herrlichster Schauspieler-Notlagen werde aufgeboten, "und wenn Schauspieler Schauspieler spielen, die ihre Eitelkeiten ausfechten, dann ist die Bühne frei. Welche Fülle an Möglichkeiten allein schon des Schreitens es gibt! Kukulies als Josef Tura als Hamlet führt sie alle vor." Und "Kukulies dosiert genau richtig, indem er es mit der Schauspielerei absolut hoffnungslos übertreibt und nur so auf die Kacke haut." Das gelte für das ganze Ensemble. "Und man lacht. Was ist los mit diesem Lachen? Es will einfach nicht - wie es sich doch gehören würde - im Halse stecken. Wohin mit dieser Heiterkeit, die völlig unangemessene Glücksgefühle freisetzt?" Geradezu schamlos nutze diese Inszenierung die moralischen Freiheiten aus, die ihr durch die Umstände ihres Zustandekommens vergönnt seien, indem es sich um "ein polnisch-deutsches Koproduktionsexperiment" handle.

Es ist ein "hochamüsantes Slapstick-Feuerwerk", das Milan Peschel hier abbrennt, meint auch Andreas Schäfer (Der Tagesspiegel, 16.4.2011): "Da werden die Nazistiefel zusammengeschlagen, was das gewichste Leder hergibt, da werden Arme gereckt und natürlich reichlich Späße mit dem 'Hitlergruß' getrieben." Und weil das Drehbuch so schöne "Screwball-Comedy-Dialoge vor allem für das Schauspielerehepaar Tura bereithält, wiederholen Sabine Waibel und Ronald Kukulies sie einfach drei oder vier Mal". Ronald Kukulies sei das "Übertreibungskraftwerk des Spektakels". Warum es aber der Abend "mit der Übertreibung nicht übertreibt und die Witze trotz ihrer Penetranz nicht schal werden, ist das Rätsel der Inszenierung und nicht leicht zu erklären". Er wirke nicht "runtergeschnurrt, sondern an einigen Stellen sympathisch hinimprovisiert". Es könne aber auch an den "ernsten Stellen" liegen, "durch die hin und wieder ein ganz anderer Wind hereinweht".

"Hymne an den Widerstand" heißt ein Beitrag auf Arte (14.4.2011), hier das Video.

Peschel konzentriere sich ganz auf das, was er kennt, "das Spielen nämlich", sagt Tobi Müller (Deutschlandradio Kultur, 14.4.2011). Es sei "herrlich, Roland Kukulies beim hemmungslosen Chargieren (...) zuzusehen. Derart mimisch herausgefordert haben wir den Mann noch nie gesehen." Am andern Ende der darstellerischen Temperaturskala bewege sich Horst Westphal. Dazu tunke Peschel "die ganze Szenerie in einen Tarantino-inspirierten Soundtrack des Spaghetti-Westerns, die zwar abgenudeldste Trash-Referenz, die man im Theater noch machen kann, aber sie fällt zum Glück auch nicht weiter ins Gewicht". Gegen Ende wolle der Abend "immer deutlicher sagen, was er längst vorgeführt hat. Und damit sind wir bei der falschen Frage nach dem echten Leben, wenn auch lustig gestellt". Schön und zunehmend verwirrend führe der Abend vor, "wie alle die Theatralität der Situation in jedem Moment durchschauen, und doch die gemeinsame Einbildung von Wirklichkeit aufrecht erhalten".

Ein jeder rase "möglichst schnittig zwischen Theater und Kintopp, zwischen Zitaten und Zitatzitat herum", behauptet dagegen Christian Rakow (taz, 16.4.2011). Ronald Kukulies lasse "seinen Komödiantenbizeps an der Rampe glänzen", Sabine Waibel lenke "die Gefallsucht ihrer Staraktrice Maria Tura ins Quengelig-Pathetische". Und auch Hans Löw überzuckere, "dass es einem den Magen umdreht". Gelegentlich ziehe Peschel "die Notbremse auf seiner Rundenjagd durch den Boulevard". Im Ganzen sei der Abend aber "wie eine Jungferntour nach bestandener Führerscheinprüfung: mit Vollgas auf hundert, dann Vollbremsung, dann wieder Vollgas". Nach der Pause kriege er allerdings "doch noch die Kurve". Die gesamte Mannschaft nähere sich "dem offenen Schluss dieses Schwanks". Das sei "eine intelligente Komödienverdüsterung, die allerdings an den Song von Eric Burdon vom Anfang denken lässt: "I think of all the good time that I've wasted having good times." Warum so viel gute Zeit mit so viel guter Laune vergeuden?"

Milan Peschel imitiere Lubitschs Film nicht bloß, "sondern setzt in bester Volksbühnenmanier auf die Übertreibungs- und Verfremdungsmittel des Theaters", sagt Anne Peter (Berliner Morgenpost, 16.4.2011). Und er setze "auf grandiose Schauspieler, die (...) zur Höchstform auflaufen". Immer wieder öffneten zudem Anspielungen "den abgründig-komischen Dreieinhalb-Stunden-Abend zur Wirklichkeit, nicht zuletzt weil er vor allem auch von Schauspielern und deren Liebes- wie Ruhmesbedürfnis erzählt". Peschel gebe sich nicht mit dem Film-Sieg über die paar Nazis um Ehrhardt und Silewski zufrieden, "sondern lässt in einem offenen Schluss die ganz große Aktion à la Tarantino zumindest als Möglichkeit aufscheinen". Für fabelhaftes Schauspiel brauche es übrigens keinen Brad Pitt, "und für einen fabelhaften Abend nicht unbedingt einen Tarantino. Ein Peschel tut es auch".

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