Ausnahmezustand in Ruby Town

von Dorothea Marcus

Köln, 14. Oktober 2007. Ruby Town ist umzingelt von Militär. Wir müssen unseren Fingerabdruck abgeben, erhalten ein gelbes Visum und müssen den ruppigen Anweisungen der Uniformierten folgen, die uns in einer schäbigen Baracke einen Schulungsfilm vorführen: kein Alkohol, keine sexuellen Annährungen an die Bewohner! Die Einwohner der kleinen, zugigen Kunststadt in der Kölner Halle Kalk sind eine vom Militär geschützte Minderheit – das patrouilliert durch die engen Gassen, filmt, kontrolliert, reglementiert.

Eine Welt für sich, liebevoll gestaltet bis ins kleinste Detail: die strengen Kostüme und Ostblock-Hochsteckfrisuren der Aufseherinnen, die Wohnwagen mit Bretterverschlägen und sorgfältig abgeblätterten Blümchentapeten, in denen die Rubinstädter leben. In der Halle sprießen angesäte Grasbüschel aus dem Boden, es gibt Süßigkeitenshops und Schönheitssalons, Bars und Peepshows – und mitten drin eine Kapelle mit dem Orakel. Dort hat sich Martha Rubin materialisiert, nachdem sie jahrelang nur als Geist erschienen war. Die 1913 Verschwundene hat Ruby Town ihren Namen gegeben – und wird dort hitzig angebetet. Vor sechs Monaten ist sie krank und schwach wieder aufgetaucht, meistens liegt sie auf einem Bett und schläft mit offenen Augen. Die dreißig Schauspieler-Bewohner sind ihre Enkel und Urenkel.

Gesetze und Geschichten

Dreimal ist Ruby Town zum Neustart des Kölner Schauspiels geöffnet. Erst für 36 Stunden, dann für 60, dann für 84. Jeder Zuschauer kann in dieser Zeit so oft und so lange kommen, wie er will – solange es die Bewohner zulassen. Man kann mit ihnen essen, schlafen, sich massieren lassen, reden und muss selbst entscheiden, wie tief man sich auf Gesetze und Geschichten der Stadt einlässt.

Wo verlaufen die Grenzen von Kunst und Leben? Von Realität und Fiktion? Lüge und Wahrheit? Diese Fragen standen am Anfang von "Signa", einem Künstlerpaar, das aus der Dänin Signa Sørensen und dem Österreicher Arthur Köstler besteht. Selten dauern ihre abgründigen Installationen kürzer als 100 Stunden. Internationales Aufsehen erregten sie 2005 in Malmö mit ihrem Projekt "Black Rose Trick": ein Hotel, in dem sich Besucher real für zehn Tage einmieten konnten.

Sowie man Ruby Town in Köln betritt, wird man eingesogen von religiöser Inbrunst und nervöser, geheimnisgeladener Energie. Die Geschichten hören wir im Vorbeigehen, wir können sie auch erfragen oder in einem Wohnwagen dem tagenden Ältestenrat ablauschen – oder selbst erfahren, wenn wir mit einem Kind tagsüber zu Besuch kommen, vor dem sich die Bewohner ehrfürchtig auf den Boden werfen. Denn die Stadt ist verstrahlt, und die Einwohner können keine eigenen Kinder mehr bekommen. Wieso das so ist – darauf gibt es verschiedene Antworten.

Tief verstrickt ins Kunstlabyrinth

Niemand ist hier von vornherein böse oder gut. Raunend wird man angesprochen, ob man bei der Flucht helfen oder die Essensration aufstocken kann – hinter dem Haus wird ein Geheimversteck gezeigt. Drei Schritte um das Haus flirtet man auf einmal mit einem Soldaten, tanzt vor der Bühne, wird mit einer Lüge wieder stehengelassen – und küsst Martha Rubins Hand in der Kapelle. Welche Geschichten löst man selber aus? Immer tiefer verstricken wir uns ins Kunstlabyrinth.

Beim zweiten Besuch, spät in der Nacht, scheint sich Ruby Town völlig verselbständigt zu haben. Nach zwei Tagen und einer Nacht haben sich die Schauspieler in Trance gespielt. Man möchte überall gleichzeitig sein, setzt sich hier an einen Tisch und da an ein Bett, aber die Bewohner achten kaum noch auf uns. Nur in einer schummrigen Abseite ziehen sich zwei Frauen für uns aus – dafür muss man bezahlen.

Abschiedsschmerzen

Es ist kurz vor Ende der Installation, es ging herum wie ein Gerücht: ein Müllsack wird herangetragen, vielleicht ist ein Kind darin. Ein Kranz von Süßigkeiten wird drapiert, dumpfe Trauerlieder gesungen. Dann gibt es den Ausnahmezustand: das Militär misst die Strahlung, und da sie plötzlich hochgeschnellt ist, werden wir streng zum Ausgang gewiesen. Wie es weitergeht, erfahren wir nicht – nur auf den Überwachungsmonitoren sehen wir, wie eine Frau brutal auf die Krankenstation gestoßen wird. Die Menschen in der S-Bahn und die Sicherheitsleute auf dem Bahnsteig: sie wirken auf einmal irrealer als die Rubinstädter, zu denen man auf der Stelle wieder zurück möchte.

Es ist ein immenses Verdienst der neuen Intendantin Karin Beier, die sonst stark getrennten Sphären von Kunst und Theater mit diesem Experiment auf eine Weise zusammen zu bringen, die die Grenzen des Stadttheaters nachhaltig sprengt. Eigentlich war Rubinstadt noch für viel länger geplant. Die Kosten für die im Theater vorgeschriebenen – echten – Sicherheitsleute sprengten aber das Budget. Und so wird Ruby Town, in den Klauen der Militärbürokratie, aus echt theaterbürokratischen Gründen bald wieder abgerissen. Es wird uns bis in die Träume verfolgen.

 

Die Erscheinungen der Martha Rubin
von Signa
Idee, Konzeption, Regie: Signa Sørensen / Arthur Köstler, Bühne und Kostüme: Thomas Bo Nilsson, Dramaturgie: Sybille Meier. Mit: Bertoldi, Bätge, Aisin, Chughtai, Cürten-Noack, Fleischlin, Fraune, Gerner Nielsen, González, Groth Larsen, Hallberg, Hellenkemper, KlÆbel, Klingberg, Köstler, Kramer, Kukwa, Land-Boss, Montaldo, Morath, Nickel, Nilsson, Nokuda, Osterberg, Padel, Pross, Rejmus, Sigurd, Sørensen, Steenken, Svennevig, Temel, Thomé, Vatne, Wälz, Wirtz.

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Peter Michalzik (Frankfurter Rundschau, 17.10.2007) findet die "Langzeitperformance" von Signa schlicht "großartig". Man könne sich mit "den Bewohnern und den Bewachungssoldaten unterhalten und vergisst irgendwann, dass es sich ja gar nicht um echte Bewohner und echte Soldaten handeln kann." Und so lange man als Besucher auch "in diesem beklemmenden sozialen Geflecht" bohre, "die Antworten sind immer wasserfest (...) und wer recht hat, wer gut ist und wer böse, ist wie im wirklichen Leben nicht zu klären." Sicher ist nur, dass man sich in Ruby Town wie in einem echten Dorf und "verdammt unwohl fühlt". Das mache: "ein beklemmendes soziales Experiment, und wer einmal drin steckt, kommt so einfach nicht mehr raus."

Man werde von Ruby Town "angeherrscht", schreibt Alexander Haas (taz, 16.10.2007). Anfangs sei man von "Zweifel am Theaterstatus der betretenen Welt" befangen, habe man aber diese Welt einmal betreten, komme alles darauf an, wie lange man bleibt. Denn allein "im Modus der Langsamkeit, der dieser Produktion zutiefst eigen ist", erschließe sich das Geschehen. Es passiere "wenig Aufsehenerregendes. Doch um nichts weniger geht es als um ein Spektakel. Nur über Gespräche mit mehreren Personen aus den unterschiedlichen Familien gewinnt man einerseits Einblick in die Qualität der Beziehungen, verflüchtigt sich andererseits immer wieder das Bewusstsein, im Theater zu sein." Eine neue Realität verschaffe sich hier ihr Recht.

Ein "wunderbares, intensives Theatererlebnis" hat auch Christian Bos (Kölner Stadt-Anzeiger, 14.10.2007) erlebt. Wie in einem Computer-Rollenspiel könne man bei jedem Bewohner und Bewacher "Hinweise auf eine größere und streng geheime Geschichte erfragen. Doch an welches Ziel die Reise führt, ob es überhaupt eins gibt, bleibt unklar." Denn anders als bei einem Rollenspiel habe man es in Ruby Town ausschließlich mit "unglaubwürdigen Erzählern" zu tun.  "Nach einigen Stunden fällt immer schwerer, sich von dieser rätselhaften Welt zu lösen: "Die ungeheuer dicht komponierte Realität von Rubytown folgt dem Besucher bis in die Träume."

Kommentare  
zu Martha Rubin: Ja, genau so!
Eine Kritik, die mir aus der Seele spricht. Taucht man ein in die faszinierende Welt Rubintowns, ist man gefangen. Man fühlt sich willkommen und abgelehnt zugleich; wird Vertrauter ebenso schnell wie Voyeur. Geht man, möchte man bleiben; bleibt man aber, überlegt man, besser aufzubrechen. Die Verarbeitung des Erlebten gelingt erst in der Nacht des Folgetages. Immer wieder, für kurze Momente, verschwimmt Rubintown mit dem Alltag; sind die Menschen, denen man begegnet, Schauspieler; ist die Straße, durch die man läuft, die Bühne. Danke für den Einblick in eine andere, kleine, aber ebenso runde Welt; rund durch die Geschichte, die Charaktere, die Ausstattung; und rund sogar durch die Auflösung am Ende. Was fehlt, ist die Möglichkeit des gewohnten, herkömmlichen Beifalls, stattdessen nachgereicht durch diesen Kommentar.
Eindrücke aus Ruby Town
Beklemmung, ein innerer Druck breitete sich aus.
Dankbar war ich, dieses Erlebnis nicht allein durchleben zu müssen. Schließlich ist man ein Außenseiter in dieser Stadt, die nach ihren ganz eigenen Regeln funktioniert. Dennoch kommt man ins Gespräch und ist schnell mal auf einen Tee, einen Teller Kohlsuppe oder einen Wodka eingeladen.
Je länger wir blieben, desto mehr spitzte sich die Lage zu. Gingen zunächst noch alle ruhig ihrer Wege, gab es später immer mehr Aufruhre, Schreie die nicht zugeordnet werden konnten (wurde gerade eine Frau vom Militär vergewaltigt?), eine Bewohnerin muss sich übergeben und ein Mädchen spielt uns etwas auf ihrer Geige vor.
Da ist es nur eine Frage der Zeit, dass man sich auf den Weg zur Bar macht um erst mal einen Schnaps zu trinken. Die Zigaretten, die man mithineinbrachte sind der letzte Halt. Sie sind der einzige Moment, in dem man sich an etwas Bekanntes klammern kann.
So ist man immer gefangen zwischen Aufbruch (der Erlösung aus der Beklemmung) und dem Verweilen, da sich immer neue Handlungsstränge entwickeln und man Beziehungen zu den Bewohnern aufbaut. Je länger man bleibt, desto größer ist auch der Wunsch zu bleiben und die Sehnsucht, diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen.
Verstört kehrt man in sein eigenes Leben zurück und muss erstmal tief ein- und ausatmen.
Man möchte den anderen von diesem Ort erzählen, weiß aber auch, dass sie es nicht verstehen werden. Nicht solange sie nicht selbst in Ruby Town waren.
Ruby Town fasziniert
Ruby Town fasziniert auf mehreren Ebenen, wenn man bereit ist, die passive Zuschauer-Rolle zu verlassen. Neben dem aktuellen Geschehen - religiöse Hysterie, zunehmend hilflosere Soldaten, verstörende Untersuchungen -, das einen dazu treibt, immer mehr erfahren zu wollen, treten im Kopf immer wieder Fragen auf: wie würdest du dich in "unserer" Realität verhalten angesichts der Willkür des Generals, als Augenzeugin der schamverletzenden Untersuchung von Martha Rubin, angesichts der verquasten Religiosität und der politischen Unterdrückung?

In meinem Kopf laufen parallel zwei Wahrnehmungsstränge ab: ich bin mitten drin im Geschehen, auf das ich mich bewusst eingelassen habe, und denke doch immer wieder: was für eine Leistung der Schauspieler/innen, wie halten die das aus, wie gehen sie mit ihrer Identität um nach den ganzen Stunden als Soldatin, Captain oder Martha?

Wie ein gutes Rollenspiel übt auch Ruby Town einen hohen Suchtfaktor aus: ich werde mein Visum auf jeden Fall verlängern ...
Ruby Town: unbedingt empfehlenswert
Danke sehr für diese zutreffende Kritik. Beeindruckend und ins Mark treffend, dieses Ruby Town. Man kann eigentlich nur jedem unbedingt empfehlen, die Bewohner zu besuchen und sich auf die facettenreichsten Situationen einzulassen. Skurril und beklemmend, vielleicht sogar schaurig, dieser Personenkult, andererseits freundlich und offenherzig, die Bewohner in ihren kultfernen Momenten. Ihr merkt, die Worte fehlen. Hinlaufen !!!
Ruby Town: Wo bin ich?
Die zwei Stunden des Eintauchens.

Ich hatte nicht geringste Chance, mich auf das vorzubereiten, was auf mich zukam. Ich wusste nicht einmal, wie das heißt, was ich besuchen würde.
Dann die Formalitäten: Ausweis, Anweisungen, Lehrfilm ... und ... Eintauchen.
Von der realen Außenwelt kommend beginne ich sofort, alles mit mir bekanntem zu vergleichen. Ich möchte Parallelen ziehen. Aber immer, wenn es mir zu gelingen scheint, wirft mich irgend etwas wieder aus der Bahn. Zunächst fasziniert mich noch der Aufbau der "Bühne". Zum Glück kann ich Darsteller von Besuchern gut unterscheiden und mich letzteren anschließen um bloß nicht angsprochen zu werden. Was geschieht hier? Wo bin ich? WANN bin ich? Dann der erste Kontakt: Ein junger Mann spricht mich auf meine kurzen Hemdsärmel an und ob es so nicht zu kühl sei? War das ein Schauspieler, der sich um sein Publikum sorgt? Nein. Er hat mich, als Besucher Ruby-Towns, mit echtem Interesse angesprochen. Dann wird er zu einer Besprechung des, wie ich später erfahre, Ältestenrates gerufen. Ich traue mich noch nicht zuzuhören. Schließlich wurde ich gewarnt, mich nicht einzumischen. Dann beginnt eine kleine Theateraufführung vor dem Schrein. Zunächst denke ich noch: Lustig - Theater im Theater.... Dann die Erkenntnis. Diese Leute leben in dieser kleinen Welt. Ich bin ein Teil davon,- ein Zuschauer ihres Theaters, ein Besucher ihres Dorfes. Beim Besuch im Gasthauses erst bin ich mir über die Zweisprachigkeit in Ruby-Town sicher. Der Sohn des Wirtes wirkt recht zufrieden - wie kann man zufrieden sein, - an einem solchen Ort. Er setzt sich zu uns an den Tisch. Noch bevor ein richtiges Gespräch zustande kommt, hilft er bei der Bedienung der gerade erschienenen Gäste. Kurz darauf nimmt ein junger, gutaussehender Soldat an unserem Tisch platz. Haben wir zulange mit dem Wirtssohn geplaudert? Gibt es nun Ärger? Nein, - er scheint erleichtert darüber, dass wir nach seinem Befinden fragen, - danach, wielange er schon Ruby-Town stationiert ist. Aber auch dieses Gespräch endet abruppt, als eine junge Frau das gasthaus betritt. Anscheinend eine Bewohnerin des Dorfes. Die beiden tauschen einige Meter von uns entfernt wenige Worte und der Soldat verlässt die Baracke. Das Mädchen setzt sich traurig und mit leerem Blick an den Tisch neben uns. Nach wenigen Minuten bittet sie, sich zu uns setzen zu dürfen. Sie scheint sehr niedergeschlagen und froh darüber, Gesellschaft zu haben. Meine Frage: "Seid ihr beide ein Paar?" Ihre Antwort: "Seit heute wohl nicht mehr. Sie sagen, das sei nicht gut." Ich: "Wer sagt das? Deine Leute, oder seine?" Sie: "Alle sagen es...." Die Situation bedrückt mich. Als sie gerade begonnen hat, uns etwas näher zu erklären, wer im Dorf wer ist, - gerade als ich wähnte Licht in mein Verständnis-Dunkel zu bringen, geht auch sie, um beim Bedienen der nun sehr zahlreichen Gäste zu helfen.
Hätte ich nur geahnt, dass genau hier meine Aufgabe in Ruby-Town beginnt, - hätte ich gewusst, in welche Schicksale man hier eingreifen kann, --- ich wäre früher, - viel früher gekommen. Und ich hätte mir für den Rest meines Lebens erstmal nichts vorgenommen. Ich kann doch die beiden nicht so weiterleben lassen. Auf dem Weg zur Passkontrolle begegne ich dem Soldaten noch einmal. Er ist im Gespräch mit weiteren Durchreisenden. Wäre er allein gewesen, hätte ich ihn angesprochen,- hätte ich die Ereignisse des Tages nicht einfach ihrem Verlauf überlassen. Wäre er allein gewesen, hätten wohl alle meine Termine an dem Tag warten müssen. Ich wäre (bin) heute noch dort.

Auf der Heimfahrt bestelle ich mir eine Pizza zum mitnehmen und denke: Was für eine unreale, merkwürdige und geheimnislose Welt............ist so eine Pizzeria.
Ruby Town: ein Rausch!
den halben abend habe ich mich furchtbar bei runtergerasselten immergleichen stories gelangweilt. umsomehr genoß ich aber spannende zwischenräume, die entstanden, wenn man mit anderen besuchern und darstellern gemeinsam in gelöster atmosphäre sprach und sich die parallelen gesprächswirklichkeiten haarscharf aneinander rieben, in den darstellern auch dynamiken sichtbar wurden und sie sich teilweise aus der rolle der kostümierten infosäule lösten.
in jedem fall kann ich die wirkung nur bestätigen, bin seit einem tag immer noch völlig im rausch - etwas, das ich so im theater seit jahren nicht mehr hatte!
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