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Zum Körperdrama umgedachter Seelenkampf

von Ralph Gambihler

Dessau, 15. April 2011. Dieser Woyzeck muss schwitzen. Er schwitzt und schwitzt, ohne Unterbrechung. Vom hastigen Bretteraufschlagen der ersten Minuten, das ihm bereits die Stirn mit Schweißperlen netzt, über die Jahrmarktszenen, in denen Woyzeck als billige Attraktion im Affenkostüm verspottet wird, bis zu dem Moment, in dem er Marie das Messer in den Bauch rammt, dumpf und mechanisch und viel zu oft, rinnt ihm das Wasser aus allen Poren. Der Schweiß ist sein Stigma und das Symbol seiner inneren Not. Bildhaft mischt er sich in der Tötungsszene mit dem Blut seiner Geliebten. Die Wahrheit ist konkret, besagt ein alter Satz. Hier ist sie körperlich. Konkreter geht es nicht.

Marie dagegen möchte Tanzen. Sie trägt Spitzenschuhe und ein Tutu, und es kommt vor, dass ihr beides zugleich in den Körper fährt, der Traum und die Wirklichkeit. Die Beine und die Füße tanzen dann auf Spitze, das Klischee-Bild der Primaballerina steht vor uns, während ab der Hüfte aufwärts der gemeine Lebenskampf stattfindet, mit Alltagsmimik im Gesicht und Armen, die sich gegen die Zumutungen der Welt zur Wehr setzen.

Pandämonium mit Schminkspiegeln, Leinwand und Baugerüst 

Die Körperlichkeit der Dessauer Büchner-Inszenierung von Christian Weise hat etwas Bedrängendes, Drastisches. Sie ist die stärkste Waffe der Regie. Mit ihr wird man regelrecht malträtiert, was nicht angenehm ist und dem Abend von der ersten Minute an alle Repertoiregemütlichkeit austreibt.

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Die Bühne (ebenfalls Christian Weise) ist halb leergefegt für dieses zum Körperdrama umgedachte Seelenstück. Links hält eine Andeutung von Garderobe mit Stühlen und Schminkspiegeln die Theatersituation im Bewusstsein der Zuschauer, mittig fällt der Blick auf ein teilweise verhängtes Baugerüst, das sich an die Bühnenrückwand zu lehnen scheint und auf dessen "Etagen" die rot befrackten Musiker eines Bläser-Quintetts Platz genommen haben. Das Gerüst dient als Klettergarten und, auf der verhängten Seite, als Leinwand für Diaprojektionen. Davor ist nichts außer Raum für das nackte Pandämonium dieses Abends.

Männliches Hetzen, weibliches Taumeln

Christian Weise hat die Hauptrolle des geschundenen Füsiliers Matthieu Svetchine anvertraut, einem gebürtigen Franzosen, der seinen massigen, molligen Körper mit solcher Wucht und Heftigkeit ins Spiel bringt, dass die Damen im Parkett bisweilen leise aufzischen. Svetchine zeigt ein kräftiges Bild von männlicher Ohnmacht, verhetzt bis zur Automatenhaftigkeit, alle Pein und Demütigung schrecklich duldsam ertragend, freilich mit Ingrimm im Gesicht und mit Zähnen, die immer wieder so arg zusammengebissen werden, dass es jeder Zahnarzt merken müsste.

Diese drastische Darstellung eines kraftstrotzenden und doch zitternden Bündels Menschen geht nahe, hat aber auch etwas Plakatives, weil sie flux nach außen kehrt, was im Inneren der Figur vor sich geht.

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© Jan-Pieter Fuhr

Marie muss man sich daneben als schönes junges Ding vorstellen, verführerisch, kühl und fragil, Mädchenmarmor, der rissig geworden ist über der erlebten sozialen Realität und den taumelnden Gefühlen. Katja Sieder macht das sehr schön andeutungsvoll und halbtransparent. Sie überzeugt auf ganzer Linie, im Gegensatz zu Verena Unbehaun, die in der Hosenrolle des dünkelhaft dozierenden Doktors eine Charge bleibt. Der hübsch prollige Tambourmajor von Sebastian Müller-Stahl glänzt nicht mit seiner zackigen Uniform, sondern mit seinem gestählten, halbnackten Astralkörper, den er, zum Jahrmarkt-Artisten umgedeutet, wie eine Trophäe zur Schau trägt.

Auf Hackordnung gebaut

Christian Weise legt wenig hinein in das Stück; lieber holt er heraus. Er gibt den rohen Büchner, das radikale junge Genie, dem dieser Text "mit Dreiundzwanzig passiert ist", wie der im Programmheft zitierte Heiner Müller formulierte. Minimalistisch und leicht in das historisierende Licht eines vorgestrigen Jahrmarkttreibens mit Schaustellern und Körpersensationen gerückt, zeigt er die Tragödie einer Welt, die gespenstisch, banal und blutig scheitert, die nicht sein kann ohne einen Untersten, der in seiner Not außer sich gerät und tötet.

Auf konkrete politische Aufladungen wie in Volker Löschs Dresdner Bürgerchor-"Woyzeck" von 2007 hat es die Regie nicht abgesehen. Und doch deutet sie etwas an. In großflächigen Diaprojektionen, die eine völlig entvölkerte Welt der Städte und der Waren zeigen, eine Geisterkultur ohne Leben, rätselhaft zum Artefakt geronnen, wird ein Bezug zur Gegenwart eröffnet. Irgendwo dazwischen, in den schwer auszumachenden Untiefen zwischen unserer Natur und Kultur, spielt dieser garstige, schroffe Büchner-Abend.


Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Christian Weise, Kostüme: Silvia Maradea, Musik: Stefan Neubert, Video: Flaut Michael Rauch, Dramaturgie: Maria Linke.
Mit: Matthieu Svetchine, Katja Sieder, Uwe Fischer, Verena Unbehaun, Jan Kersjes, Sebastian Müller-Stahl, Thorsten Köhler, Patrick Rupar, Susanne Hessel, Stephan Korves, Hans-Jürgen Müller-Hohensee, Karl Thiele, Anton Möckel.

www.anhaltisches-theater.de

 

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Kritikenrundschau

Vom ersten Tableau lässt sich Andreas Montag von der Mitteldeutschen Zeitung (18.4.2011) einnehmen, aber: "Was so sinnfällig wie überzeugend beginnt (…), hat in der Folge ein Konzentrationsproblem. Weise lässt die Lebenswirklichkeit, an der Woyzeck wie Marie zerbrechen, als schillernde Zirkuswelt erscheinen. Das eröffnet wohl die charmante Möglichkeit, das Thema spielerisch in unsere von Shows dominierte Gegenwart zu verlängern, ohne Georg Büchners Text dabei Gewalt anzutun." Nur zögen "die bunten, animalischen Gestalten der Zirkus-Staffage zwangsläufig soviel Aufmerksamkeit auf sich, dass Woyzecks und Maries Tragödie phasenweise in den Hintergrund gedrängt wird." Natürlich dürfe "man bei einem Klassiker wie diesem Stück voraussetzen, dass jeder im Saal weiß, was gehauen und gestochen ist. Aber auf einer solchen Verabredung kann das Bühnenspiel nicht gründen, es muss ja seine eigene Schlüssigkeit finden. Hier aber fragt man sich gegen Ende, warum um alles in der Welt dieser Woyzeck so fertig mit den Nerven ist?"

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