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Homo Malus

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 16. April 2011. "Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen." So nüchtern antwortet der Ingenieur Walter Faber auf alle Unberechenbarkeiten des Lebens. Dabei hat dieser Seelenmathematiker gerade eine Notlandung in der mexikanischen Wüste überlebt.

Er schwitzt, er streicht sich durchs Haar, aber er zittert nicht. Während die anderen Passagiere ihr Glück kaum fassen können, sein geschwätziger Sitznachbar Herbert aus Düsseldorf etwas von "Affenschwein" sabbelt, taumelnd vor Freude seinen Nächsten betatscht und in der Landschaft bis zum Eintreffen der Bergungstrupps mystisch-poetische Anwandlungen bekommt, holt Faber lediglich sein Schachbrett hervor, um sich selber Matt zu setzen. Zug für Zug fegt er alles beiseite, was nicht in sein rationalistisches Weltgefüge passt und verliert am Ende alles: seine Gewissheit, seine Kontrolle. Der Grenzfall des Möglichen tritt ein und Faber trifft ausgerechnet auf Sabeth, seine Tochter, von der er nichts wusste, in die er sich auch noch verliebt, deren Tod er mitverursacht. Das Imperium schlägt zurück.

Begossener Zahlenpudel und Alpha-Mädchen

Max Frisch, der vieles war, nur nicht komisch, hatte eine etwas seltsame Vorstellung von der Ratio eines Naturwissenschaftlers. Sein Homo Faber gehört zu den berühmtesten männlichen Figuren der Literatur, auch weil Frisch das Klischee vom Ingenieur als emotionalem Kühlschrank bis zum Abwinken bedient. Als hätten nicht schon Robert Musil und Thomas Mann ihre modernistisch verpeilten Ulrichs und Hans Castorps mit feinsinniger Erzählerironie in die Irre laufen lassen, wird Max Frisch plötzlich wieder bitterernst und bisweilen unerträglich moralisch. Sein "Bericht" ist die vorzüglich erzählte Beichte eines Egomanen, eines Machos, dessen Weltsicht aber heute, 54 Jahre nach dem Erscheinen, ein wenig wie eine Gebrauchsanleitung für einen gut erhaltenen VW Käfer anmutet.

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Die Regisseurin Mareike Mikat hatte wohl ähnliche Assoziationen beim Lesen des Bestsellers. Inzest, Zweiter Weltkrieg und Antisemitismus spielen keine Rolle mehr. Aus dem knallharten Faber wir bei ihr eine softe Lachnummer in zweifacher Ausführung: Jens Winterstein gibt Faber, den Älteren und Dominanten, Fridolin Y. Sandmeyer seinen jugendlichen Widerpart, mehr kommentierende Stimme als Figur. Winterstein betritt die Szenerie als eleganter Anzugmann mit korrekter Bügelfalte und Schlapphut und steht am Ende in Unterhosen da, nass gespritzt wie ein begossener Zahlenpudel. Anika Baumann legt ihre Sabeth sehr heutig an, unbefangen, direkt, ein Alpha-Mädchen. Sie will keine Lolita sein, bloß keine Wirtschaftswundermännerphantasie, nur das nicht.

Frisch geturnt

Frisch wird im "Nord" des Schauspielhauses weniger gespielt als gesungen und geturnt. Anja Brünglinghaus, welche als Fabers ehemalige Geliebte Hanna leicht unterbeschäftigt wirkt, intoniert schon mal eine aparte Liedversion von Im Zweifel für den Zweifel der Band Tocotronic, bekanntermaßen die größten Vernunftkritiker der deutschen Pop-Geschichte. Markus Lerch wiederum darf als Herbert vorführen, wie entzückend es für einen Pantomimen ist, wenn im schweißtreibenden Dschungel alles irgendwo kleben bleibt: die feuchte Stirn an der Schwitzehand an der Ekel-Ananas-Konserve an der glänzenden Schulter am pelzigen Bauch – und wieder von vorn. Und Lukas Rüppel schlüpft einmal mehr lustvoll in Damengarderobe, diesmal ins tomatenrote Kleid der masochistischen Faber-Gespielin Ivy, und lässt sich, nachdem er wieder einmal ordentlich durchgenudelt wurde, vom Ingenieur die Nylons abschälen und mit dessen Elektrorasierer die Beinstoppeln stutzen.

Die von Maike Storf gebaute Drehbühne ist alles gleichzeitig und nichts wirklich: ein Maya-Tempel, ein Hochseekreuzer, eine Spießerwohnung mit Nierentisch, Schrankwand und Röhrenradio. Herrlich zum Ausschwitzen, perfekt zum Exorzieren literarischer Dämonen.

Udo Jürgens als Neofeminist?

Soweit, so aufgefrischt. Nicht so heiter stimmt einen im Verlauf des Abends, dass Mikat es nicht bei einer trashigen Entmannungs-Show belässt, sondern auch noch einen Generationenkonflikt sucht, wo es keinen gibt. Die individuelle Schuld Fabers, seine Blindheit gegenüber seinen Nächsten, wird bei Mikat zu einem kollektiven Stereotyp aufgebauscht und umgedeutet: Die Alten lebten, ja leben auf Kosten der Zukunft, lautet ihre These. Man versteht endlich: Das hier ist längst nicht nur ein amüsanter Abistreich des begabten Deutsch-Leistungskurses.

Nein, hier wird plötzlich schweres Geschütz aufgefahren, und die Lustigkeiten dienen als Ablenkungsmanöver. Es wird abgerechnet mit der Vätergeneration. Der Techniker wird als Umweltzerstörer gebrandmarkt, Elektrorasierer sind Teufelszeug, ein Weiter-so darf es nicht geben. Als neofeministische Anklageschrift fungiert Udo Jürgens' verschwurbelt-apokalyptischer Song Atlantis sind wir, der leider unironisch in ganzer Länge noch vor der Pause dargeboten wird. Dass Faber bei Frisch für die Unesco in Entwicklungsländern lediglich harmlose Turbinen baut ... – Schwamm drüber.

 

Homo Faber
von Max Frisch
Bühnenfassung von Mareike Mikat und Katrin Spira
Regie: Mareike Mikat, Bühne, Kostüme: Maike Storf, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Jens Winterstein, Anika Baumann, Lukas Rüppel, Fridolin Y. Sandmeyer, Anja Brünglinghaus, Markus Lerch.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr über die Arbeiten von Mareike Mikat im nachtkritik-Lexikon. In Armin Petras Fassung am Maxim Gorki Theater Berlin war Frischs Homo Faber ein Ödipus auf Cuba.

 

Kritikenrundschau

"Dieses Theater strengt sich ungeheuer an, um in jeder Minute den Beweis zu erbringen, dass Theater total cool und absolut zeitgemäß ist", meint Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (18.4.2011). Mareike Mikat gebe "alles, damit diese langen drei Stunden Theater nicht langweilig geraten. Sie hat ein Gespür dafür, Atmosphäre zu erzeugen, mit leichter Hand, mit Musik und Geräuschen beschwört sie die sengende Hitze in der mexikanischen Wüste herauf oder den Wind auf dem Schiffsdeck. Subtilitäten aber sind Mikats Sache nicht. Statt Frischs Figuren fein zu zeichnen, trägt sie die Hauptmotive des Romans plakativ vor sich her." Und "statt die Entwicklung der Figur hin zum tragischen Ende nachzuzeichnen, stellt die Regisseurin gleich drei Walters auf die Bühne – ein an sich interessanter Effekt, der jedoch in die Irre führt. Denn das Alter Ego von Walter ist ein mahnendes Gewissen, ist grüblerisch, differenziert, was Homo faber, der ewige Rationalist doch gerade nicht ist." Letztlich sei "alles sehr munter, aber auch sehr angestrengt originell".

"Befremdlich, distanziert, kein psychologisches Ziselieren bitte" – das sei "der Grundton von Mareike Mikats hochtouriger Inszenierung", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (18.4.2011). Gespielt werde wenig, "es sind viele bizarre Stand- und Bewegungsbilder zu sehen auf Maike Storfs Drehbühnenpanoptikum aus Kajüte, Wohnung, Farm und Schiff. Um den Generationskonflikt, auch ihr Unbehagen an Altherrenromantik unmissverständlich auszudrücken, greift die Regisseurin drastisch zu Pathos und Lärm, Hyperaktivität und Rapsongs, zu Kostümfest, lustig gemeinten Roboterspielen und Wasserschlacht im Gummiboot." Annika Baumann singe "Im Zweifel für den Zweifel, im Zweifel für Zerwürfnisse und für die Zwischenstufen" – das aber, meint Frau Golombek, "hätte man ganz gern auch gespielt gesehen".

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