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Mutmaßungen über Minichmayr

21. April 2011. Birgit Minichmayr hat die Premiere von Frank Wedekinds "Lulu" am Wiener Burgtheater platzen lassen – Regie sollte Jan Bosse führen. Besonders spekulativ geht darauf die österreichische Gratis-Zeitung heute ein. Obwohl sie nicht gerade als Hort journalistischer Seriosität gilt, fassen wir sie an dieser Stelle zusammen, weil sich die anderen Zeitungen auf sie beziehen.

In ihrem Artikel vom 19. April 2011 berichtet Maria Dorner von einem "autoritären Führungsstil" des Hausherren Matthias Hartmann, unter dem viele Mitarbeiter litten: "Die Stimmung sei so aufgeladen, dass in der Kantine der Bissen im Hals stecken bleibe, auf dem Flur ein eisiger Wind wehe." Die Absage Minichmayrs sieht sie daher als logische Konsequenz: "Alle Überredungsversuche von Hartmann blieben erfolglos, ebenso alle Rettungsversuche des Stücks. Der Direktor wollte, eh klar, keinen No-Name. Die Produktion ist geplatzt, die Gaststars sind auf dem Heimweg."

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Birgit Minichmayr bei der Romy-Verleihung 2009
© Manfred Werner

In der bürgerlichen Wiener Presse (20.4.2011) schreibt Barbara Petsch von langen Gesichtern bei den Burg-Schauspielern am Dienstag: "'Es war ein Kampf seit 14 Tagen', sagt ein Kollege, der nicht genannt werden möchte: 'Sie war grandios, wunderbar. Sie war weiter als wir alle. Aber sie hat sich nicht beschützt gefühlt und ist ausgestiegen.' Mittwochnachmittag war die Produktion bereits aus dem Spielplan entfernt." Die Presse fragte wegen der heute-Vorwürfe bei Burgtheater-Intendant Hartmann nach. Dem Blatt sagte er: "Birgit Minichmayr bleibt bei uns im Vertrag und spielt in der nächsten Saison ihre Rollen am Burgtheater weiter. Sie wird – mit Ausnahme der weiteren Überlegungen zu Lulu– keine neuen Rollen einstudieren in der nächsten Spielzeit. Am Residenztheater spielt sie 'Weibsteufel', das ist eine Produktion des Burgtheaters. Sie kann in München spielen, ich lege nie Schauspielern Hindernisse in den Weg." Auch zu den Vorwürfen, er ignoriere Schauspieler oder kanzele sie ab, bezieht er Stellung: "Wenn Schauspieler mich nachts aus der Kantine auf meinem Handy anrufen, kann ich schon einmal barsch reagieren. Ich bin sonst ein eher freundlicher Mensch."

In der Kleinen Zeitung (20.4.2011) weist Frido Hütter auf Nebenaspekte hin: "Mit ausgesetzt wurde damit übrigens auch das Burg-Debüt von Max Simonischek (Sohn von Peter), der in der Rolle des Alwa besetzt war." Er fragt, ob "die Woge des Erfolges" die bislang als disziplinierte Schauspielerin geltende Minichmayr "mittlerweile etwas kaprizierter gemacht" habe. Mit dieser Geschichte jedenfalls scheine Hartmann "nach fast zwei Jahren wirklich in Wien angekommen zu sein, endlich nimmt sich auch der Boulevard seiner an: Das Gratisblatt 'Heute' bezeterte gestern über zwei Seiten den angeblich 'autoritären Stil' Hartmanns, den aber hochrangige Burgmitglieder wie etwa Peter Simonischek auf keinen Fall bestätigen mögen."

"Ich möchte von Bosses Konzept nichts verraten, ich hoffe nur, dass es einmal realisiert werden wird," sagt der Schauspieler Peter Kern in der Wiener Tageszeitung Die Presse (23.4.2011). In Bosses Inszenierung war er als Lulu-Gatte Dr. Goll besetzt. Theater müsse auch scheitern dürfen, findet Kern, das sei Teil des "offenen Denkraums" den das Theater grundsätzlich dar- und herstellen würde, eine Bedingung seines Möglichseins. "Eine Inszenierung wurde geplant, es wurde viel nachgedacht, es wurden Konflikte ausgetragen. Das Theater gibt sein Scheitern zu, das stimmt uns traurig, es ist die Hölle, da müssen wir durch. Übrig bleibt eine johlende Meute von schlechten Journalisten, die sich hinter die Bühne der Gerüchte geschlichen haben, ohne wirklich etwas zu wissen, eine gedachte Lulu, ein wunderbarer Regisseur im Korsett der Verzweiflung, ein trauriger Intendant und Kollegen, denen niemand zuschaut." In seinem wunderschönen Text mit Splittern aus den Proben und den Gründen ihres Scheiterns, singt er auch eine Hymne auf Birgit Minichmayr: "Und ich warte auf den Ort, die Zeit und das Theater, wo eines Tages Birgit Minichmayr die 'Lulu' spielt, und sei es am Ende der Welt, ich werde ihr nachreisen, meiner kleinen, ungeschützten Tänzerin."

Man habe Hartmanns "nassforsche Art, seine Selbstherrlichkeit und seine Konflikte" gekannt, bevor man ihn ans Burgtheater gerufen hat, meint Helmut Schödel von der Süddeutschen Zeitung (26.4.2011). Und "an vielen dieser Häuser herrschen doch sowieso Umgangsformen wie in Heimen für Schwererziehbare." So sei das "eigentliche Desaster" an dieser "Lulu" die "fast absurde Vorstellung vom Theatermachen, die sich in ihr abbildet". Ein Theater sei "kein Mädchenpensionat. Da reiten sich die Kräfte der Egomanen freien Raum. Die Zeiten der Ensemble-Seligkeiten, der Traum von der Theaterfamilie ist vorbei. Es wird eingeflogen und abgereist. Da wird nichts mehr von innen heraus entwickelt." In diesem Fall sei die Burg eine "Subventionsverschwendungsunternehmung". Dass "ein Haus dieser Dimension auf den Ausfall keine Antwort weiß, könnte man für eine Blamage halten. Müsste man sich um Geld sorgen, würde man einer begabten jungen Frau eine Chance gegeben haben. (...) Aber auch die verwöhnten Regisseure wollen nur noch mit Namen arbeiten. Können sie so wenig? Sind sie nur noch Star-Arrangeure an den hochdotierten Häusern?" Die eigens für diese Produktion engagierten Schauspieler würden nun ausbezahlt nach Hause geschickt, weil es "in diesen Managementbetrieben, die unsere Theater geworden sind", gar nicht mehr anders gehe: Schauspieler und Regisseure hätten doch "längst einen Anschlussvertrag an einem anderen Haus, in einer anderen Stadt. Es ist gar keine Zeit mehr da, umzudenken und neu zu besetzen." Angesichts dieser Tatsache, habe sich Minichmayr "rücksichtslos viel Zeit" für ihre Entscheidung genommen. Allerdings sei sie auch "keine Handwerkerin und keine Virtuosin", sondern stelle sich "mit ihrer ganzen Person jeder Herausforderung neu", weshalb es kaum überrasche, "wenn sie sagt, sie habe sich von 'Lulu'-Regisseur Bosse nicht geschützt gefühlt".

"Dass die Angelegenheit ihren Weg von Österreichs journalistischem Souterrain bis in die großen deutschen Feuilletons genommen hat, ist das eigentlich Erstaunliche an der angeblichen Causa", schreibt Jandl etwas verspätet in der Welt (12. Mai 2011). Sex and Crime auf Wienerisch sei das, eine lokale Angelegenheit. Hartmanns "spröde Unsicherheit" könne "in Aggressivität umschlagen, und möglicherweise gehört diese überhaupt zur normalen Betriebstemperatur des Achtundvierzigjährigen." Weil es an der Burg nicht für alle Schauspieler genug Rollen gäbe, sei zudem für Unmut gesorgt. "Mancher Regisseur hat die Arbeit an einem Stück hingeworfen, alles das gibt es auch anderswo. Das Burgtheater als Aufreger der Saison? Nicht wirklich."

(geka / sle / ape)

Kommentare  
Lulu abgesagt: irgendwann kräht keine Taube mehr danach
Dieses Foto von Frau Minichmayr und der Begriff "Mädchenpensionat"; also, wenn die hier von der Seite verschwinden sollten, werde ich sie vermutlich vermissen: wahrscheinlich bin ich so auf den Angora-Pullover gekommen (in Ed-Wood-Anlehnung).
Gut, daß Herr Schödel dem Ganzen noch seine lesenswerten Zeilen hinzugefügt hat.
Bleibt zu hoffen, daß sich gegenseitige Verletzungen in Grenzen halten (und die
Überschrift "Mutmaßungen über ..." nicht zu sehr der Analogie folgt: "Jakob ist ...",
ein Erzählanfang, der gerne von Litwisslern beackert wird); irgendwann kräht kein Hahn, keine Taube, keine Krähe mehr nach solcherlei Spektakel: die Frage nach den künstlerischen Gründen bleibt.
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