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Draußen auf der Showtreppe

von Matthias Weigel

Berlin, 21. Berlin 2011. Sie gehören zur neuesten Kategorie von Prominenz: Sie sind Internet-Stars. Denn neben Fernsehen und Film (und davor war ja sogar mal das Theater dran) bringt inzwischen auch das Internet seine eigenen Stars hervor. Auch wenn diese meist anderen Regeln gehorchen. Auf jeden Fall wurden ICKE&ER 2006 mit dem Internet-Video RICHTIG GEIL bekannt, echte Youtube-Kinder also, wie früher mal Marcus Alexander oder der DJ der guten Laune.

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© Thomas Aurin

Nur dass ICKE&ER immerhin etwas können. Und zwar Trash-Beats programmieren und im breitesten Berlinerisch dazu rappen, aus Spandau kommen und latent ironie-gefärbte Kunstfiguren abgeben. Gefundenes Fressen also für die gerne so junge Volksbühne. Die hat ICKE&Er auch gleich eine Oper machen lassen, oder Musical, oder Anti-Musical, wie auch immer. Auf jeden Fall mit richtigem Blinklicht-Bühnenbild, Trainingsanzug-Band und Tittenanzug-Schauspielern.

Nach der Videobotschaft

Eine "Befindlichkeitsoper" wollen die beiden mit ihren Songs nun schaffen, ein ICKE-Porträt (die Fortsetzung soll über ER gehen), wie er wirklich ist, jenseits von Youtube. Man sei inzwischen an die Grenzen von Videobotschaften gestoßen, so viele Fragen! Und so kommt ICKE also höchstpersönlich die Show-Treppe herunter und trällert sein Comeback, mit Schauspielern in Trash-Kostümen, die ein bisschen Mutter, Fan, Prostituierte oder Alkis sind. Die sonst so billigen 80er-Beats werden weitgehend durch die Live-Band ersetzt, die Songs handeln von Arbeit, Liebe, Leben. Manchmal heißt es, dass man immer funktionieren muss, immer arbeiten und sich hochkämpfen muss, und dann aber ganz allein ist.

ICKE schafft es, dabei weder ironisch oder sarkastisch, noch dumm oder primitiv zu wirken. Er vollzieht einfach eifrig sein Konzert. Währenddessen sitzt sein Schauspieler-Double meist herum, Mutti will ihm einen Keks geben, die Prostituierte räkelt sich im Nackt-Anzug, der Fan singt für ihn Madonnas "Frozen" wörtlich ins Deutsche übersetzt, im Hintergrund fliegt ein Bratwurstbräter.

Anonym, selbstgemacht, improvisiert, zufallsgeneriert

Auf jeden Fall erfährt man natürlich nichts über die Person hinter ICKE. Denn zum Internet-Phänomen ICKE&ER gehört, dass sie ihre Identität nicht preisgeben, sondern stets mit Sonnenbrille und Kapuze auftreten. Und zu ihnen gehört auch die nicht-institutionelle, privat-gebackene Handmade-Onlineprominenz. Das macht die Youtube-Stars aus: anonym, selbstgemacht, improvisiert, zufallsgeneriert.

Und so zeigt sich auf der Bühne diese Besonderheit des institutionslosen Internet-Startums. Denn auf einmal steht ICKE leibhaftig da, und kann sich gar nicht mehr richtig hinter seiner Sonnenbrille und erst recht nicht hinter einer Kamera verstecken. Plötzlich muss er in einer Liga spielen, die nicht Youtube heißt, sondern (Volksbühnen-)Theater.

Dann steht da der Junge (34-jährig) aus dem Video auf der Bühne, aufgeregt, und auf einmal nur noch mit mittelmäßigen Songs, mittelmäßigem Humor, mittelmäßigem Timing, mittelmäßiger Dramaturgie, mittelmäßiger Show. Natürlich hat er seine Fans mitgebracht und kann vom ICKE&ER-Kult zehren. Das mediale Bekanntheits-Kapital kann so auch den Live-Auftritt mitfinanzieren, um dem Bankrott zu entkommen. Doch es bleibt deutlich, wo ICKE&ER herkommen, und wo sie gut sind: Hier, im Internet.

ICKE - Die Oper (UA)
Regie und Komposition: ICKE&ER, Bühne: Michael Graessner, Kostüme: Kathrin Krumbein, Licht: Hans-Hermann Schulze, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Icke, Matthias Buss, Andreas Frakowiak, Susanne Jansen, Caspar Kaeser, Friedrich Liechtenstein, Inka Löwendorf, Gitta Schweighöfer, Axel Wandtke, Roland Knauf (Band), Christian Hartmann (Band), Florian Pfeiffle (Band), Philip Morton Andernach (Band) und Dirk Mielenhausen (Mischung); Chor: Gesina Krebber, Miriam Ternes, Christa Meier, Johanna Skirecki, Tobias Fischer, Fritz Huste, Jens Wetzel.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Toller Trashaufwand", "enttäuschende Poesiealbumsweisheiten", so das Fazit von Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (23.4.2011). "ICKE – Die Oper" sei natürlich keine Oper, sondern ein "bunter Abend im schön kaputtem Bühnenbild, bei dem Icke den Kosmos einer vaterlosen Proll-Sozialisation vorstellt." ER (also Icke) hocke auf einem Hocker, "Rücken zum Publikum, und sagt 90 Minuten nüscht. Dafür singen die anderen, zum Beispiel eine Online-Stripperin, die ihr Scheitern in der Schule beklagt. Dann gibt es noch den famosen Friedrich Liechtenstein, der das Geschehen kommentiert. Und Icke selbst, einmal als Loser im Fettkostüm, der es nie aus Spandau heraus geschafft hat, und einmal in echt, als melancholischer Star, der uns ein paar Lebensmotti (von Mutti?) mitgibt."

Der Abend, "der nicht mehr sein will als eine lässige Show", entwickelt in den Augen von Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (27.4.2011) "eine für die notorisch muffigen Berliner Verhältnisse erstaunlich gute Laune und herben Charme". Es handele sich um "eine muntere Selbstfeier mit 'Icke'- rufendem Publikum und Trash-Folklore aus dem Hartz-IV-Berlin". Herausgehoben werden die "Einlagen des merkwürdigen Genies" Friedrich Liechtenstein.

Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (26.4.2011) ergibt sich an diesem Abend "dem schönen Schein der totalen Banalität, denn so genommen ist diese Veranstaltung ein hübsches Beispiel für eine zappelige Theaterkunst, die eines innerhalb der Bühnenkünste neuen Begriffs bedarf: des New Existentialism." D.h. der Mensch entwirft sich darin ganz als Fiktion: "Alle Substanz verdampft hier zu Schein." Um diesen zu zelebrieren, folge die Inszenierung "zwei eisernen Geboten. Erstens: Wirrnis ist heilig; zweitens: Cool sein ist alles." Im Ergebnis entsteht ein "hemmungslos pubertärer, knallig konfuser Liederabend", aus dem – hier ist sich der Kritiker mit seinen Kollegen einig – der "tolle" Friedrich Liechtenstein herausragt.

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